Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Margret war gegangen, ehe er heimgekehrt. Sie war gegangen, ganz allein. Wie sie alle in geängstigten Stunden gefühlt hatten, Margret wie Ossana und Meinhardt: daß sie einander nahe, sehr nahe kommen konnten und doch in die tiefsten Seelengründe nicht zu dringen vermöchten, so hatte sie die letzten Augenblicke allein durchkämpft. Aber nachdem sie ihr Herz erleichtert, ihm einen Abschiedsgruß gesandt, sich zu rechtfertigen versucht, verhüllte die gnädige Natur ihren Todeskampf mit dem Schleier halber Bewußtlosigkeit. »Sensorium getrübt«, wie der Arzt gesagt. Er versicherte den beiden Frauen drüben im Nebenzimmer, die Tote habe gewiß nicht gelitten, hatte sie doch ihre Angehörigen nicht mehr erkannt.

Tante Angiolina wechselte zwischen völligem Gebrochensein und Vorwürfen gegen den Doktor, da er doch gemeint, die Tochter befinde sich auf dem besten Wege.

Als nun der Arzt gegangen war, trat Tante Angiolina an das letzte Lager ihrer Tochter. Margrets Betschemel war in die Nähe des Bettes gerückt, auf den ließ sich die Baronin Durazzi schwer nieder. Und während die Schwester neben ihr kniete, faltete sie die Hände, lehnte beide Arme auf, und fing an zu beten und zu schluchzen. Dann stand sie auf: die Schwester führte sie hinaus.

Ossana war an der Fensterwand stehengeblieben. Sie ließ die Mutter ruhig vorbei. An Meinhardt dachte sie: jeden Augenblick mußte er kommen. Der Zug war schon in Meran eingelaufen. Sie hatte die Rauchwolken der Lokomotive vom Fenster aus gesehen, und bei der Fahrt herauf wurden die Pferde sicher nicht geschont.

Das Haar der Toten lag wirr in schwarzen Wellen auf dem Kissen. Die Schwester hatte davon gesprochen, Margret zurechtzumachen, doch Ossana wollte es nicht, sonst traf Meinhardt vielleicht mitten während der Vorbereitungen ein. Sie strich nur das Laken glatt und betrachtete lange die ruhigen Züge, die keine Schmerzensspur zeigten. Das Taschentuch hing unter dem Kissen herab. Ossana stopfte es hinein. Dabei sah sie ein Stück weißen Papiers herausragen und griff danach, es fortzunehmen. Es waren lose Blätter, schief zusammengebrochen.

Sie entdeckte eine Schrift darauf. Margrets Hand. Was sollte das bedeuten? Sie überflog die Zeilen, sie verstand sie nicht. Da las sie »Siebenlehn« und das Duell, von dem ihr die Mutter erzählt, da sie allen, sogar dem Arzt hatte durchaus das Telegramm vorlesen müssen, fiel ihr ein. Sie begriff immer noch nicht, was das alles bedeutete, doch auf die Papiere starrend, fand sie ein paar verzweifelte Worte der Anklage. Erschrocken faltete sie die Blätter zusammen. Als nun die Schwester kam und sich lautlos auf den Betschemel niederließ, stand Ossana auf und eilte über die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

In dem Fremdenzimmer, das Ossana jetzt bewohnte, blieb sie stehen. Sie verschloß hinter sich die Tür. Und beim ersten, kaum dämmernden Licht des Dezembermorgens setzte sie sich ans Fenster und faltete die Blätter auseinander. Einen Augenblick dachte sie: Ist's an Meinhardt? Aber schon hatte sie wiederum dieses und jenes Wort gelesen, daß sie den Atem anhielt. Ihr Auge flog nur so über die Zeilen: etwas wie ein Bekenntnis. Ossana verstand, mit diesem Siebenlehn hing es zusammen, und auch sie kam sofort auf den Gedanken, das Duell sei Margrets wegen gewesen.

Es klopfte. Jemand klinkte. Ossana lief, als sei sie bei etwas Bösem überrascht, zu ihrer kleinen Handtasche, warf ein paar gleichgültige Sachen heraus und stopfte statt dessen die Blätter hinein. Dann riß sie ein Fach auf und verbarg die Tasche unter Wäschestücken, die sie mitgebracht.

»Was ist?« Eine von Tränen erstickte Stimme sprach an der Tür: »Ich bin's, die Theres!«

Ossana schloß auf. Sie war noch so erregt, daß sie fast grob fragte:

»Was ist denn?«

»Der Herr Graf ist da!«

»Er weiß doch nichts? Der Kutscher hat ihm doch nichts g'sagt?«

»Mir hab'n ihn erst am Eck g'sehen. Er muß glei da sein!«

Ossana rannte die Treppe hinab und kam gerade noch zurecht, als der Wagen auf den Steinplatten hufedonnernd vorfuhr. Sie zog ihren Schwager in ein Zimmer zu ebener Erde neben dem Eingang:

»Ich möchte zuerst allein mit dir reden.«

»Wie geht's der Margret?«

Ossana wollte vorbereitend etwas sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Schon sagte er lebhaft:

»Ich hab' mir solche Vorwürfe gemacht, sie hätt' nit sollen mit hinunter! Und denk' dir, ich hätt' gar nit brauchen hinkommen! Der Bursch', der Esel! Dem Poldi geht's ganz gut, es hat nur so schlimm ausg'schaut! Aber was meinst, ich sag's wohl der Margret nit so, daß sie sich nit aufregt.«

Ossana sah ihn nicht an. Sie zwang sich zur Antwort:

»Besser geht's nit.«

Und sie dachte: warum schreist du ihn nicht an: sie ist ja tot.

Er aber redete weiter:

»Aber komm, i will zu der Margret!«

Ossana rief, da sie bei vor Erregung versagender Stimme nicht leise sprechen konnte, sehr laut: »Sie schläft!«

»Ah, dann darf ich sie nit stören! Die Liebe!«

Sofort war er ruhiger:

»Na, Gott sei Dank! Wenn ich nur nit fort wär'! Ich hätt' ja gar nicht hin brauchen. Der Poldi hat mich selbst gleich zurückgeschickt. Der verfluchte Siebenlehn! Die Mama hat doch g'schrieben, daß er immer mit der rumänischen Dame umananderrennt! Da hat der Poldi eine scharfe Bemerkung darüber gemacht, und irgend jemand erzählt's dem Lumpen wieder. Der fordert den Poldi. Und wie's immer bei so was ist, der Poldi, der ganz recht hat, kriegt noch was ab, und der andere läuft fidel herum. Aber den Kutscher werd' i kriegen; b'soffen ist er wahrscheinlich gewesen. Gott sei Dank, daß es so gut abgelaufen ist.«

Ossana konnte es nicht mehr mit anhören:

»Es geht aber nit gut.«

Er sah sie verstört an:

»Der Kutscher sagt doch, 's geht gut?«

Ossana schossen mit einem Male die Tränen, zwei Bächen gleich, aus den Augen. Er sah sie an, als dämmere ihm die Wahrheit:

»Steht's sehr – sehr schlimm?«

Ossana nickte.

»Ist's – ist's – ist's aussichtslos?«

Sie antwortete nicht. Er schrie sie an:

»Sag' mir die Wahrheit! Was ist g'schehen?«

Ossanas schwarzes Haar sank vornüber. Er blickte sie an mit langem, schlaffem Gesicht und fragte langsam:

»Ist sie tot?« Ossana, die bisher für die anderen den Kopf oben behalten, tastete nach einem Sitz und fiel auf einen Holzschemel. Sie hörte Schritte, die Tür wurde aufgerissen, sie sah Meinhardt davonstürmen. Da raffte sie sich auf und lief ihm nach.

Doch sie holte ihn nicht mehr ein. Mit ein paar Sätzen floh er durch den Flur. Theres stand im Wege, er stieß sie zur Seite.

Tante Angiolina war eben aus Meinhardts Zimmer getreten, die Augen gerötet, das zusammengeballte Taschentuch in der Hand. Er stürzte an ihr vorbei und riß die Tür von Margrets Zimmer auf. Im ersten Augenblick sah er nur die kniende Nonne, denn das Bett stand bei halb geschlossenen Vorhängen im Dämmerlicht. Die Schwester erhob sich und sagte, die Hände mit dem Rosenkranz gefaltet:

»Herr Graf, sie ist gewiß im Himmel!«

Ossana blieb an der Tür zurück. Sie fühlte: in diesem Augenblick war die Gegenwart eines Dritten unmöglich. So stieg sie langsam zu ihrem Zimmer hinauf. Jetzt erst wußte sie, wie sie im Grunde, trotz aller Eifersucht, die Schwester liebgehabt.

Da fielen ihr die Zettel ein mit der wirren Handschrift. Sie ahnte: was die Arme, den kranken Kopf zu letzter Anstrengung spornend, da zitternd aufs Papier geworfen, war vielleicht der Anstoß gewesen zu ihrem Ende. Und Ossana ward es klar: Margret hatte das geschrieben, in der Furcht, der Bruder sei ihretwegen zu dem Duell gehetzt worden. Sie wußte, Meinhardt erfuhr davon, und sie, die nicht mehr mit ihm sprechen konnte, wollte sich rechtfertigen.

Ossana lief zur Kommode, riß ihr Täschchen heraus, daß die Wäsche herumflog, eilte zur Tür und schloß ab. Ihr schienen diese Zettel jetzt gegenstandslos. Dann dachte sie wieder, sie gehörten Meinhardt, und ihr war, als unterschlüge sie etwas. Doch immer wieder dachte sie: Würde Margret es geschrieben haben, hätte sie die Wahrheit gewußt?

Sie wollte Sicherheit haben. Sie mußte lesen, vom ersten Wort bis zum letzten. So lief sie auch zur anderen Tür, die ins Nebenzimmer führte, wo ihre Mutter wohnte, lauschte – nichts regte sich – und schob vorsichtig den Riegel vor. Dann nahm sie die Papiere und setzte sich ans Fenster. Noch immer war der Tag nicht ganz angebrochen, die Sonne im Osten stand noch hinter dem Haflinger Bergrücken.

Ossana begann hastig zu lesen. Wo sie etwas nicht entziffern konnte, glitt sie darüber hinweg:

»Du, mein so Geliebter!

Ich weiß nicht, ob ich Dich wiederseh'. Ich glaub', Du kommst nie mehr. Aber verdamm' mich nicht. Hundertmal hab' ich angesetzt, es Dir zu sagen, aber den Mut nicht gefunden. Ich hab' Dir nein gesagt, als Du kamst und hab' Dich doch schon sehr liebgehabt. Du warst der Mann, der mich gehalten und gerettet hätte; denn ich war tief gefallen. Begreifst Du, warum ich mich abgewendet habe, wenn Du mich ›rein‹ nanntest? Ich hab' es Dir nicht gesagt! Ich war zu feig! Wenn ich Dich sah in Deinem Glück, hätt' ich es nicht übers Herz gebracht, mein und Dein Glück zu zerstören. Und Du sagtest doch immer, wir wollten die Vergangenheit vergangen sein lassen. Du hast mir ja auch nicht alles erzählt! Je länger Du mich mit Deiner Liebe beglückt hast, je mehr ich Dich kennengelernt hab', desto unmöglicher ist es mir geworden, Dir das zu sagen, was ich jetzt sagen muß. Ich hab' gebeichtet, hab' die Absolution bekommen. Das hat mich getröstet, deshalb hab' ich gemeint, ich brauch' es Dir nicht zu sagen. Oh, könnte ich Dir alles selbst sagen, Du würdest mir verzeihen, Du gewiß. Aber ich seh' Dich ja nicht mehr, das fühl' ich bestimmt. Es ist so schwer! Wie soll ich Dir's sagen, da ich doch kaum begreifen kann, wie's möglich gewesen ist. Ich war damals so dumm! Ich hab' nie an einen Mann gedacht. Und dann kam dieser Mann nach Göllan, tat zu mir reden, so schön, aber so schön! Bitte, lieber Meinhardt, erlaß mir das. Aber wie sollst Du mir sonst verzeihen, wenn Du nicht weißt, wie es war? Er kam oft nach Göllan. Dabei, ich weiß nicht, wie es geschah, leise schlich sich in mein Herz eine Sehnsucht. Ich hab' mich nicht gesträubt, als er mich geküßt hat, denn ich hatt' ihn doch gern! Ich hab gemeint, nun sind wir versprochen. Als er mich besaß, hab' ich nichts verstanden. Ich wußt' nur, niemand weiß es, und er wird ja doch mein Mann! Aber dann hab' ich einmal ein Gespräch aufgeschnappt, wie einer gesagt hat, er könne ja nicht wieder heiraten als geschiedener Mann. Nun erst hab' ich begriffen. Wie hab' ich abends im Bett geweint, ganz still unter der Decke, daß Ossana nicht aufwachen sollte. Da suchte ich eine Gelegenheit und wollt' ihn zwingen. Er sagte, es ging' nicht nach dem Gesetz. Meinhardt, was hab' ich da erduldet! Ich hab' damals gedacht, ich muß mir das Leben nehmen. Ich hatt' nicht den Mut! Ach, Meinhardt, es wird mir so schwer, Dir zu schreiben, wo ich Dich nicht mehr seh'. Und nun sollst Du nicht einmal gut an mich denken können? Sie haben es Dir gesagt. Die Mama hat's vorgelesen! Glaub' es nicht so ... nicht so ... Ich kann nicht mehr – denk' gut an mich – ich hab' Dich so lieb, und Du bist nicht bei mir.«

Die Zeilen brachen ab. Ossana blickte hinunter über das Etschland, dort drüben auf die weiße Laugenspitze, auf das Mittelgebirge, wo auch schon an einzelnen Stellen der Schnee lag, und dann, wie so oft die arme Margret, drüben auf Göllan. Sie dachte an Meinhardt. Und jeden Augenblick ward es ihr sicherer: er durfte nichts davon wissen, ihre Schwester mußte rein vor ihm bleiben. Wie oft hatte er von ihr gesprochen mit übertriebenen Worten, als sei sie eine Gottheit, mit Worten, die nur ein Glücklicher finden kann. Und das Andenken sollte sie zerstören?

In dem alten Kachelofen des getäfelten Zimmers brannte prasselnd das erste Feuer des Morgens. Ossana sah hinüber in die Glut. Ab und zu pufften und knallten die Scheite. Sie fühlte, die Entscheidung drängte, jeden Augenblick konnte sie hinuntergerufen werden, und sie durfte Meinhardt in diesem Augenblick nicht allein lassen. Nie hatte sie ihre Leidenschaft zu ihm, durch Pflicht und Jahre zurückgedrängt, so brennend empfunden. Seiner Seele wollte sie kein Leid zufügen und das Andenken ihrer Schwester hüten. Sie dachte: ein Ruck, und das Bekenntnis liegt im Ofen. Da, als sie schon einen Schritt zum Feuer getan, fiel ihr ein: Und wenn nun dieser Schurke, der das Licht noch genoß, während die Schwester dort unten starr ausgestreckt lag, nun eines Tages doch das jagte, wovor die arme Heimgegangene sich gefürchtet? Wenn er der Schuft war, wer sollte ihn hindern, sich zu brüsten, vielleicht in der Weinlaune einmal? Hier in der Hand hielt sie das Mittel, das Gedächtnis der Schwester vor Meinhardts weichem Herzen zu retten.

Sie ging an den Schreibtisch. In der Mappe lag, sorgsam noch von der armen Margret Hand geordnet, das Briefpapier, links oben mit dem Bilde der Rochusburg, wie es im ganzen Hause verwendet wurde. Sie nahm einen Umschlag, sorgfältig brach sie die Bogen der Handschrift noch einmal um, besser, gerader. Falzend strich sie darüber, preßte sie zusammen und steckte sie hinein. Dann leckte sie zu und hielt die beiden kleinen Hände darauf gepreßt, bis der Gummi hielt. Sie suchte Siegellack. Es war keines da. So nahm sie ein paar Briefmarken und klebte sie darüber. Dann schrieb sie ihren eigenen Namen darauf, legte alles in die Kommode und ging die Treppe hinab. Sie wollte Meinhardt trösten mit allem, das in ihr war.


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