Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Doch er blieb allem Zureden unzugänglich. Er saß in einer Ecke wie betäubt. Tante Angiolina konnte ihm nichts sagen, sie jammerte selbst. Durch das ganze Schloß lief sie, überall suchte sie Trost. Sie erschien in der Küche und hinderte die Köchin an der Arbeit, sie besuchte die Frau des Dieners in ihrer Wohnung im Nebenhaus, klagend, wie schwer Gott sie getroffen. Sie empfand den Tod der Tochter als Strafe für irgend etwas, das sie verbrochen hätte.

Es waren sofort Telegramme an die Verwandten geschickt worden. Poldi konnte, in seinem Zustande, die Reise nicht antreten. Der Rudi und das Henrietterl dagegen kamen an. Das gab wenigstens für Tante Angiolina ein wenig Zerstreuung. Nun raffte Meinhardt sich auf und fuhr mit Ossana zum Bahnhof. Den lächelnden Zug hatte das Henrietterl auch jetzt noch, trotz dem schwarzen Kleide, aber sie war fraulicher geworden mit stärkeren Hüften. Das neckisch Mädchenhafte schien gewichen, bis auf die Grübchen in dem jetzt breiteren Gesicht.

Meinhardt ließ Ossana sprechen. Er sah unterwegs kaum die Leute, die grüßten. Das Henrietterl tat eine Frage nach der anderen. Meinhardt war ihre Lebhaftigkeit lästig: er begriff, daß sie den alten Baron in seinen letzten Tagen ermüdet. Dafür empfand er Ossanas Zartgefühl, die, seitdem sie gemerkt, daß Trost nichts half, kaum mehr das Wort an ihn richtete.

Kurz vor der Beisetzung kam Gräfin Aich. Meinhardt war auch für sie an den Bahnhof gefahren. Er küßte der Stiefmutter Hand. In ihrer ruhigen, bestimmten Art, die ihm wohltat, nach all den Klagen Tante Angiolinas und der Gesprächigkeit des Henrietterls sagte sie: »Ich mag dir nicht zureden, ich weiß, es hilft ja doch nichts. Du mußt selber darüber wegkommen.«

Sie meinte, vielleicht wäre Margret Schwerem entgangen, das ihr noch bevorgestanden. Sie erzählte den Fall eines jungen, hoffnungsvollen Offiziers, der beim Rennen einen Sturz getan und nun mit einer Schädelverletzung heute noch nach Jahren halb blöde herumlief. Sei es nicht besser, wenn Gott eine solche Seele in Gnaden zu sich nehme? Meinhardt gab keine Antwort, nur ab und zu preßte er der Mama Hand. Am Friedhof ließ er halten. Sie standen ein paar Minuten am Grabe des Vaters und Mannes, jeder für sich. Dann stiegen sie wieder ein, und als die Gräfin nichts mehr sagte, begann zum ersten Male Meinhardt zu sprechen. Er erzählte, wie er selbst für seine Frau ein Grab ausgesucht. Er verlor sich in Einzelheiten, sonst ihm fremd, legte auf jedes Wort Gewicht, das der Friedhofverwalter gesprochen, wiederholte es ein paarmal und verbesserte sich dann wieder.

Es war, als sei die Gräfin der einzige Mensch, dem er alles sagen könne. Auf der Rochusburg versank er aber wieder in das gleiche stille Brüten.

Als die Leiche zur Friedhofhalle übergeführt wurde, weil man die Feier, der Menschen wegen, die zu weiten Weg gehabt hätten, nicht hier oben abhalten konnte, forderte er nur seine Stiefmutter auf, ihn zu begleiten. Und wieder ward er gesprächig, bat sie aber um Verzeihung, daß er so viel redete – er müsse sein Herz entlasten:

»Wir waren in den Jahren aus Liebe heraus Freunde geworden. Ich konnt' ihr alles sagen. Sie hat die gleichen Gedanken gehabt wie ich. Immer mehr hat sie in meiner Welt gelebt. Und jetzt, wo wir bald ganz eins geworden wären, muß es mit einem Male zu End' sein. Nun bin ich wieder genau so weit wie am Anfang!«

Dann begann er sich der Selbstsucht zu zeihen. Was aus ihm würde, sei gleichgültig, er habe doch nur seine Frau glücklich machen wollen, warum er nicht gestorben sei statt ihrer? Die Gräfin gab einfach zurück: ob er denn glaube, daß das für Margret ein Glück gewesen wäre? Was damit geholfen wäre, wenn er sie allein gelassen hätte? Ob er ihr gewünscht haben würde, durchzukämpfen, was er jetzt an Bitternissen durchmachen müsse? Meinhardt antwortete erregt:

»Nein, nein, das wünsch' ich keinem!«

Da sagte die Frau in dem jetzt ganz weißen Haar:

»Nun, so ist es doch ein Trost, daß ihr das erspart worden ist!«

Daran klammerte er sich, als suche er Beruhigung im Märtyrergefühl, daß er für sein totes Weib Schmerz und Verlassenheit übernahm. Er fand keine Tränen, auch bei der Feier nicht. Stumm reichte er jedem die Hand, der ihm ein Wort der Teilnahme aussprach. Und es gab Menschen, die verwundert sagten:

»Er nimmt's so ruhig auf!«

Auch als der Sarg in die Gruft niedersank, stand er unbewegt, und keines Menschen Auge fand sein Blick.

Ossana hatte Margrets Sterbezimmer aufräumen lassen. Meinhardt wollte eintreten, da kam sie ihm an der Tür entgegen, nahm ihn beim Arm, und er ließ sich willig fortführen. Sie sagte:

»Später, Meinhardt. Geh jetzt nit hinein, es ist kein schöner Eindruck, einen schönen sollst du aber behalten.«

Und wieder fragte sie:

»Darf ich ihre Sachen ordnen? Ich will alles aufheben von ihr!«

Er drückte ihr die Hand und schritt wie geistesabwesend den Gang hinunter.

Nach Tisch saßen sie in Margrets Wohnzimmer mit den vergoldeten Möbeln. Gräfin Aich führte Ossana ans Fenster. Man sah in der Tiefe den Lichterglanz von Meran:

»Eine Frage muß jetzt entschieden werden. Ich möcht' niemand vertreiben, hab ja auch hier nichts zu sagen, aber wär' es nicht besser, wir reisten alle ab? Ist unsere Anwesenheit für Meinhardt wirklich ein Trost?«

»Ich will mit ihm reden!«

»Antwortet er dir?«

Ossana senkte den Kopf:

»Ich will's versuchen! Ich kann ja so oft herüberkommen von Göllan, wie er mag!«

Sie küßte der Gräfin die Hand, ehe die es hindern konnte, und huschte hinaus.

Ossana klopfte an Meinhardts Zimmer. Man hörte nichts. Ihr scharfes Ohr legte sie an die Tür wie damals, als sie eifersüchtig Schwester und Schwager in Göllan belauscht, aber alles blieb still. Sie klopfte wieder. Da fragte endlich Meinhardt:

»Wer ist da?«

Und Ossana gab zurück mit ihrer gleichen Stimme wie die liebe Tote, unbewußt fast mit den gleichen Worten, die jene auch gebraucht hätte:

»Meinhardt, i möcht' dir gern was sagen.«

Laut rief der da drinnen wie sinnverwirrt:

»Margret!«

Der Schlüssel drehte sich um. Ossana sah Meinhardt vor sich mit glückselig lächelnden Augen. Er trat auf sie zu und nahm ihre Hände, sie hereinzuziehen. Doch im gleichen Augenblick ließ er sie wieder los, die Arme sanken ihm herab, und er sagte in tiefer Enttäuschung: »Ossana, du?«

Sie fühlte sich gekränkt, als sie den fast entsetzten Ausdruck sah. All ihre Leidenschaftlichkeit, die sich in ihrem Vater einst zum Jähzorn zu steigern pflegte, wachte auf. Mit zuckender Lippe rief sie:

»Ja, ich bin's! Ossana!«

Er sah sie verstört an und bat ruhig:

»Laß mich allein.«

Sie überwand sich:

»Kann i nit ein' Augenblick mit dir sprechen?«

»Ich hab' gemeint, es sei Margret, und sie ist doch tot! Das ist ja fürchterlich!«

Er lief mit langen Schritten auf und ab, fuhr mit den Händen durch die Luft, wischte sich mit dem Tuch die Stirn, dann mit einem Male rannte er zur Tür, die zu seinem Schlafzimmer führte, und war hinaus. Sie fiel krachend zu und zitterte noch eine Weile in den Angeln.

Ossana ging langsam den Gang zurück. Sie fühlte sich so verletzt, daß es einer Weile bedurfte, die Trauer um ihre Schwester wieder heraufzubeschwören.

Man brach nach den Erschütterungen des Tages bald auf, und jeder zog sich auf sein Zimmer zurück. Als letzte blieb Ossana, nachdem sie ihrer Mutter gute Nacht gesagt, bei der Gräfin Aich, ihr den Mißerfolg zu erzählen. Die Gräfin riet:

»Sorge dafür, daß Bernburgs abreisen. Das Henrietterl kränkt ihn, wenn sie es auch nicht will, durch ihre Heiterkeit. Das muß ihn verletzen, dessen Seele tief gebeugt ist und er glaubt, jeder andere müsse ebenso empfinden. Obwohl 's eine Ungerechtigkeit ist, da doch ein Mensch nie allen gleich viel bedeuten kann. Gib du das Beispiel, geht auch ihr, auch deine Mutter paßt nicht für ihn.«

»Soll i ihn allein lassen?«

Der Gräfin Blick war so mitfühlend und doch so bestimmt, daß Ossana die Lider senkte. Gekränkt begann sie zu schluchzen.

Gräfin Aich fühlte, das war nicht Trauer um die Schwester allein. Sie erriet etwas und strich zärtlich Ossana das dichte, schwarze, gewellte Haar aus dem Gesicht. Dann ein Kuß, wie gewöhnlich unter den Damen der gleichen Kaste, doch die Lippen der Älteren ruhten länger auf des jungen Mädchens Wange als sonst.

Am nächsten Tage bat Meinhardt die Gräfin Aich, bei ihm zu bleiben. Als sie zugesagt, umarmte er sie stürmisch, wie in Augenblicken tiefster Trauer und Erregung erschütterte, einsame Menschen das Bedürfnis überkommt, einer anderen Seele Gegenwart zu empfinden, nur die Gewähr zu haben, daß sie nicht ganz allein sind auf dieser Erde.

Tante Angiolina kehrte gern nach Göllan zurück. Die Leute im Haus und die Verwandten hörten ihr, wenn sie ihren Kummer breit trat, nicht so zu, wie die alten Weiblein drüben. Sie sehnte sich auch danach, an ihrem lieben Marienaltar in Lana der heiligen Jungfrau ihr Leid zu Füßen zu legen.

Das Henrietterl ahnte, daß sie ihrem Bruder nicht gelegen sei, und Rudi, den sie doch immer mit ihrer Laune unterhielt, empfand es auch.

Da ward es denn still auf der Rochusburg. Nur die Bekannten aus Meran kamen, ein Wort des Beileids zu sagen, die näheren Umstände zu hören, sich auszusprechen über den Fall. Für Meinhardt empfing die Gräfin Aich. Wie man einst, in den Zeiten Seiner Exzellenz, unter Tante Angiolinas stiller Beihilfe, in ihr nur die böse Stiefmutter erblickt, die arme Kinder erster Ehe aus dem Hause trieb, so schwang mit einem Male die öffentliche Meinung, die schon lange gependelt, nach der anderen Seile aus. Mit der gleichen Übertriebenheit erzählte man sich jetzt, welcher Engel auf der Rochusburg seine alternden Fittiche gebreitet hielt über den verzweifelten Witwer. Ihn begriff man nicht. Hatte man ihm am Grabe Gemütshärte zugesprochen, so fand man sich jetzt betrogen um den Eindruck, wie würdig, wie schwer oder wie leicht er seinen Kummer trüge. Meinhardt aber kümmerte sich nicht um die Leute. An seiner Margret Seite hatte er mit ihnen verkehrt, aber sie waren ihm nur ein Rahmen gewesen um ihre Gestalt, da er ihre Hausfrauen- und Geselligkeitseigenschaften von Jahr zu Jahr wachsen sah.

Die Stiefmutter störte ihn nicht. Meist trafen sie sich nur bei den Mahlzeiten, aber er empfand tröstend ihre Anwesenheit im Haus. Der Gedanke beruhigte ihn: ich bin doch nicht ganz allein; wenn ich mich einmal unterhalten will, gibt es einen Menschen, der mich anhört.

Zuerst hatte er nur mit seinen Leuten geredet: mit dem Diener, wenn er zum Wecken kam, mit Theres, wenn er sie beim Aufräumen von Margrets Zimmer traf; und er sprach mit ihnen von ihr, von ihr und immer wieder von ihr. Doch das ward jeden Tag weniger, denn es kam allein von ihm, und die Leute konnten nur wenig antworten. Er hatte den Kutscher, der, wie es sich nun als sicher herausgestellt, durch Trunkenheit am Ende Margrets Schuld trug, entlassen. Aber allmählich, wie Meinhardt es seiner Margret selbst einmal erklärt, wandelte er sich. Aus dumpfer, trostloser Trauer schreckten ihn die Notwendigkeiten des Lebens auf. Der Verwalter erschien, es gab Rechnungen zu prüfen, Entscheidungen mußten getroffen werden, und eines Tages entschloß sich Meinhardt, da seine Anwesenheit in Eppan dringend notwendig schien, auf zwei Tage hinüberzufahren. Er sagte es der Mama. Die antwortete nur:

»Das ist recht!«

Als er zurückkehrte, hatte er zu erzählen. Bald saß er nicht mehr so schweigsam am Tisch. Neue Eindrücke kamen. Ein Ärger, den er gehabt, war eben gut. Nun suchte er, Tätigkeit sich zu schaffen. Er schnitt Fragen an, die lange geruht: eine Grenzregulierung gegen das Tal zu beschäftigte ihn, er mußte an Begehungskommissionen für eine neue Wasserleitung teilnehmen. Ein Gedanke, längst gesponnen, aber nie zur Ausführung gebracht, der Ankauf weiteren Weidelandes, nötig für seine kleine Haflinger Pferdezucht, wurde zur Entscheidung geführt.

Monate war Gräfin Aich jetzt schon oben. Nicht mehr allein bei den Mahlzeiten trafen sie sich, sie saßen abends in seinem Zimmer, und der Gräfin weißer Scheitel beugte sich über Buch oder Zeitung ihm gegenüber, dort, wo Margret einst gesessen.

Die Mama, in den letzten Jahren weitsichtig geworden, hob ab und zu das Gesicht mit den ein wenig hängenden Backen und blickte über die Brillengläser zu ihm. Er las, schrieb, oder mit dem Mitteilungsbedürfnis, das er Margret gegenüber gezeigt, erzählte er. Das Stoffgebiet hatte sich geweitet. War zuerst nur immer vom Tode, von der nächsten Zukunft die Rede gewesen, so ging er jetzt in die Vergangenheit zurück. Es schien, als habe er sich jedes Wort seiner Frau gemerkt. Ihre kleinen Kindergeschichten gab er wieder, holte Briefe aus ihrem Schreibtisch, Erinnerungen des alten Barons an die Kindheit der Töchter, die Margret aus seinem Nachlasse sich ausgebeten. Er besah Bilder von ihr auf dem Arm der »Kinderfrau«, im ersten Kleidchen. Dann einige mit Ossana zusammen, auf denen Meinhardt erst suchen mußte, welche die eine, welche die andere wäre.

»Es ist erstaunlich, wie sie sich ähnlich sehen«, sagte die Mama. Meinhardt erzählte, der eigene Vater habe die Stimmen nie zu unterscheiden vermocht.

»Ich auch nicht.«

Er schwieg. Dabei dachte er daran, daß er Ossana fast nie mehr sah:

»Traurig, wie man auseinanderkommt!«

Da die Gräfin davon gesprochen, nach Wien zurückzukehren, denn sie fühlte, Meinhardt mußte lernen, auch wieder allein zu sein, sagte sie:

»Wenn ich fort bin, hast du ja die Göllaner.«

»Die Tante? Margret und ich haben sie kaum gesehen.«

»Aber Ossana!«

»Ja, Ossana.«

Er nahm sich vor, seine Schwägerin zu besuchen.

Eines Tages stand der Wagen vor der Pforte. Meinhardt und die Mama stiegen ein: sie wollte den Göllanern ihren Abschiedsbesuch machen. Es war schon spät im Mai. Gräfin Aich hatte Meinhardt beredet, sie nach Wien zu begleiten, damit er einmal herauskäme, anderes sähe. Vielleicht kehrte er dann frischer und mit anderen Augen heim.

Tante Angiolina war, zu der beiden Staunen, wirklich einmal daheim. Ossana schien im Haus beschäftigt, und lange saßen sie mit Baronin Durazzi allein. Sie war nicht redselig wie sonst. Sie ließ sich erzählen.

Als Ossana kam, sagte Meinhardt zu ihr, während die Gräfin mit Tante Angiolina sprach:

»Ich seh' Margret immer vor mir. Mir ist, als ob ich ihr jeden Abend gute Nacht sagen könnt', und doch liegt sie schon bald ein halbes Jahr unter der Erden.«

»Arme Margret!« flüsterte Ossana. Er horchte auf:

»Schau, genau so hat sie geredet! Ossana, bitt' dich, sag' das noch einmal.«

Sie blickte ihn erstaunt an:

»Arme Margret?«

Er hatte die Augen geschlossen und nickte:

»Ja, ja!«

Da sagte sie's zum drittenmal, ein wenig, als wollte sie ihre Stimme klingen lassen, daß er sich in der Erinnerung zurückfände.

Er sprach:

»So war's immer, wenn sie mir vorgelesen hat. Ich hör' deine Stimme so gern!«

Sie mußten sich verabschieden, die Gräfin wollte noch packen. Als die Göllaner den beiden Rochusburgern das Geleit gaben, und die älteren Frauen vorausschritten, ging Meinhardt neben seiner Schwägerin. Beim Sprechen ließ sie, in leichter Ziererei, ihre Stimme tönen. Sie fragte:

»Wann kommst du wieder?«

»Ich weiß noch nit.«

»Soll ich aufs Grab schau'n?«

»Ja, bitte, tu's.«

»Du wirst uns doch später besuchen?«

»Ihr kommt auch einmal herauf. Ihr seid ja gar nimmer dagewesen.«

»Du sollst erst zur Ruh' kommen!«

Er machte eine Handbewegung:

»Das bin ich schon! Ich bin manchmal erschrocken, wie schnell 's geht. Aber ich denk' immer, sie tät' mir sagen: Meinhardt, sei vernünftig! Einmal hat sie mit mir vom Sterben gesprochen. Ich sollt' nicht von ihr gehen, und nun ist – ach Gott!«

Er machte wieder eine heftige Bewegung:

»Das muß man alles mit sich selber durchkämpfen. Aber man möcht' sich doch einmal aussprechen –«

»Ich hör' dir ja zu.«

»Ja, dir könnt' ich erzählen. Du bist eben die Schwester. Wen hat sie Näheres gehabt? Eigentlich habt ihr euch doch verstanden.«

»Immer besser.«

»Dann geht's halt nimmer zu End'!«

Er brach kurz ab:

»Leb' wohl.«

»Und wann du zurück bist...?«

»Komm' ich.«

Meinhardt suchte in Wien keinen Menschen auf. Mit Poldi, der längst wiederhergestellt, traf er sich, ging und fuhr spazieren. Dabei erzählte ihm Meinhardt von seiner Verklärten. Abends war der Poldi mit Kameraden verabredet.

Das letzte Lichtbild Margrets hatte Graf Aich mitgenommen. Da wurde ihm ein Maler genannt, dem es oft gelungen sei, eine getreue Wiedergabe zu schaffen, wenn man ihm nur ein wenig die Farben angab. Er bestellte das Bild. Es schien gut zu werden, bis eines Tages eine Unähnlichkeit sich einschlich. Meinhardt wollte helfen. Er stellte sich Margret vor, doch er fand den Fehler nicht. Sie redete nicht mehr, ging nicht, er sah sie nur immer wieder auf dem letzten Lager liegen. Und in Entsetzen wehrte er ihre Gestalt von sich.

Der Maler maß auf dem scharfen, guten Lichtbilde jede Kleinigkeit nach: die Länge der Nase, die Entfernung vom Mund, das Auseinanderstehen der Augen. Endlich rief er:

»Herr Graf, es ist die Hautfarbe! Wie ist denn die Frau Mama der seligen Gräfin?«

»Sie hat einen ganz anderen Teint gehabt, mehr gelblich, die Hautfarbe meiner Frau war im Gegenteil weiß, durchsichtig! Das ist wohl ein Erbteil vom Vater gewesen!«

»Und der alte Herr?

»Ist tot.«

»Hat die Frau Gräfin keine Schwester gehabt, bitte?«

»Ja!«

»Und hat sie den Teint der Mutter?«

Freudig antwortete Meinhardt:

»Aber nein, wie meine Frau!«

»Und ist sie in Wien?«

»Nein, in Tirol!«

»Sie käm' auch nicht her?«

»Kaum!«

Da schob der Maler die Staffelei zurück:

»Herr Graf, Ihnen liegt doch an dem Bild! Lassen 's mich hinfahren!«

Als Meinhardt nicht sofort antwortete, glaubte der Maler, der Besteller stoße sich an den Kosten, und sagte, er sei nur ein einfacher Mensch, er würde dritter Klasse reisen. Wie der kleine Mann mit großem Kopf und rotem Bart vor ihm stand in seinem abgeschabten, braunen Samtrock, konnte man es ihm wohl glauben. Meinhardt schlug ein:

»Gut! Kommen Sie. Meine Schwägerin ist nur ein Jahr älter, hat das gleiche schwarze Haar, den gleichen weißen Teint, beinah' die gleichen Augen, nur vielleicht feuriger, größer. Aber in Margrets Augen war Güte, Weichheit, etwas Verschleiertes, etwas Trauriges.«

Eine große Sehnsucht packte ihn plötzlich nach Haus, und er machte mit dem Maler den Tag aus, an dem sie sich in Meran treffen wollten. Etwa in einer Woche, denn sein Versprechen mußte er einlösen und Rudi und das Henrietterl besuchen.

Da nun Bernburgs Gräfin Aich schon mehrmals eingeladen hatten, ohne daß sie gekommen wäre, so fuhren sie zusammen vom Nordwestbahnhof ab und durch das niederösterreichische Land. Die Trachten wechselten, tschechische Inschriften standen an den Stationen. Meinhardt erzählte von dem Bilde, und wie es, wenn Ossana dem Maler säße, vielleicht doch ähnlich werden könnte.

»Weißt du, Mama, was schrecklich ist? Es gibt Augenblicke, wo ich mich frage, wie hat sie ausgeschaut?«

Und allein mit der Mama auf den roten Kissen des Luxuszuges, während durch die breiten Fensterscheiben die Landschaft an ihnen vorüberglitt und im hellen Sonnenschein gelbe Saaten meilenweit blendeten, begann er ihr sein Herz auszuschütten: wie er sich quäle in seiner Einsamkeit, wie Margret ihm fehle jeden Tag und jede Stunde, wie beim Einschlafen er oft ganz laut: »Gute Nacht« sage. Wenn er einen Brief bekomme, sei sein erster Gedanke, ihn Margret vorzulesen. Wenn er aufwache am Morgen, müsse er sich erst besinnen, daß er nicht Margrets sanfte Stimme hören könne, ihm den Tag vom ersten Morgengruß an zu segnen. Als er so der Stiefmutter das Herz öffnete, war es ihr fast, bei der mit den Jahren stetig wachsenden Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn, als ob der alte Graf spräche. Hatte er ihr nicht seine Einsamkeit mit den gleichen Worten geklagt.

Sie kamen zur Haltestelle. Der Schaffner griff helfend nach dem Gepäck, denn der Luxuszug hatte nur eine Minute Aufenthalt. Da standen das Henrietterl, der Rudi und an der Hand der Mutter ein niedliches, blondes Mädchen, das kleine Henrietterl, das einst auf der Rochusburg, Zum Stolz der Mutter, immer »Da, da!« gesagt hatte.

Das kleine Henrietterl ging auf Meinhardt zu wie eine kleine Dame, sehr gut gekleidet, – das war wohl des Vaters Werk – eine Spur affig, mit Lächeln und gedrehten Löckchen. Ja, lachen konnte sie. Lachen wie die Mutter. Und sie lachte auch den ganzen Weg, fast eine Stunde lang, den sie mit dem Auto zurücklegten. Das kleine Henrietterl wollte sich ausschütten vor Lachen über einen schief stehenden Baum, über ein altes Weib, das beim Nahen des Autos erschrocken querfeldein lief, über eine Bäuerin, die zum Schutz gegen den Staub den Rock über den Kopf stülpte.

Nun ging es eine große Baumreihe hinunter. »Es sind nur Roßkastanien, net edle, wie bei euch!« sagte der Rudi.

In der Ferne leuchtete langgestreckt ein Gebäude in der Sonne. Als sie näherkamen, wuchsen ihm zwei Flügel. Sie bogen auf einen großen Platz ein, in dessen Mitte ein riesiges Wasserbecken spiegelte, ein dicker Strahl stieg aus einer Gruppe von Sandstein-Fabelwesen empor.

»Dafür haben wir viel Wasser hier!« sagte wieder der Rudi.

Sie hielten vor dem spätbarocken Schloß, über dessen niedrigem Erdgeschoß eines zweiten Geschosses hohe Fenster Säle andeuteten.

»Der alte Teil liegt hinten!« sagte abermals der Rudi.

Das zweite Henrietterl stand knixend in der Tür. Verlegen war es nicht: es lachte auch.

Wie sie dann bei Tisch saßen, fröhliche Rede hin und her ging, klang immer wieder das helle Silberlachen der beiden Mädchen.

Meinhardt freute sich über das Glück der Geschwister. Es kränkte ihn nur ein wenig, daß von Margret nicht die Rede war.

Der Rudi zeigte Schloß, Wirtschaftshof und Liegenschaften. Man mochte es kaum glauben, daß der geschniegelte und gebügelte Mensch, wie es schien, Blick hatte für alles. Das Henrietterl behauptete, er sei jeden Morgen der erste auf.

»Wegen der Jagd!« sagte der Rudi.

Doch das Henrielterl meinte: »Ach, er verstellt sich nur, er ist schon sehr fleißig!«

Nun begann sie ihn zu loben, und dafür sang er ein Loblied auf sie. Sie erzählte von den erstaunlichen Fortschritten und Leistungen der Kinder, von Plänen für die Zukunft, und daß sie nicht mehr nach Wien gingen, »nachdem« es doch hier viel schöner sei. Die Nachbarn wurden genannt, von jedem einzelnen aufgezählt, wen er geheiratet, mit wem er verschwägert. Namen schwirrten. Margret war nicht dabei. Meinhardts Gedanken irrten immer wieder zu dem Bilde. Und er deutete an, er müsse bald nach Haus.

Abends saßen sie lange in Rudis Zimmer, in dem kein Werk der Kunst Platz gefunden, wo nur Jagdstücke, Geweihe und Gehörne hingen, dazu die Bilder von allerlei Siegern im Derby. Und immer wieder klang das gleiche Lied: wir tun das, und wir lassen jenes, und: unsere Freunde, unsere Bekannten, unser Leben, unsere Herrschaft.

Als Meinhardt allein war, kam ein großes Gefühl der Verlassenheit über ihn. Ihn packte unbändiges Heimweh nach seinem lieben Lande! Tirol, nach der Rochusburg. Aber im gleichen Augenblick dachte er: Was soll ich dort? Soll ich herumlaufen gleich einem wilden Tier im Käfig, wie ich es hier tue? Sie ist ja nicht da, sie liegt da draußen ganz allein. Er sah die Gruft vor sich und dann wieder seine Frau auf dem Totenbett. Er konnte das Bild nicht loswerden, und doch durfte es nicht das letzte sein, das er von ihr behielt. Da zwang er sich, sie so zu erblicken, wie der Maler sie gemalt. Aber plötzlich standen Ossanas Züge vor seiner erschrockenen Seele. Und der Gedanke beschlich ihn wieder: Ich gehe nach Göllan. Am liebsten wäre er ganz dort geblieben, nur daß er nicht allein sei, nur nicht allein.

Er hatte das Bedürfnis, es jemand zu sagen – den ganzen Tag heute hatte er nur von anderen etwas vernommen – so ging er über den Flur zur Mama. Ihre Jungfer, die sie mitgenommen, fragt er, ob Exzellenz noch zu sprechen wäre.

»Nun, Meinhardt?«

»Ich kann nicht schlafen!«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an:

»Dann bleib' bei mir, wir schwatzen ein bissel zusammen!«

»Gern. Danke. Wir haben heut ja noch gar nit gesprochen.«

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht:

»Ich hab' gemeint, das hätte das Henrietterl genügend besorgt.«

»Aber von Margret haben sie nicht gesprochen.«

Sie zog ihn auf einen Stuhl:

»Schau, das wollt' ich dir sagen. Ich hab' ein paarmal beginnen wollen von ihr und von dir, aber sie haben nicht zugehört. Sie sind liebenswürdig, sie laden uns ein, sie wollen dich gern sehen, –«

»Ich bin ihnen ganz wurscht!«

»Nein, Meinhardt, da irrst du dich. Sie haben sich gefreut, daß du gekommen bist.«

»Aber von Margret haben sie nicht gesprochen.«

»Du mußt halt die Menschen nehmen wie sie sind. Sie haben nur das Bedürfnis, von sich zu reden und glauben dann, sehr herzlich gewesen zu sein. Ich hab' eine Fürstlichkeit gekannt, die bei der Audienz unausgesetzt allein gesprochen hat, ich bin nicht zu Wort gekommen, aber hinterdrein soll sie von mir gesagt haben, ich sei eine sehr interessante Person! Woher wußte sie das? Es ist alles Erziehung.«

»Aber nit des Herzens! Henrietterl ist mit Margret groß geworden, hat viele Jahre lang alles mit ihr geteilt, das kann doch nit fort sein wie ein Hauch!«

Die Gräfin zuckte die Achseln:

»Neue Forderungen, neue Menschen, neues Leben! Für die meisten gilt: was hin ist, ist hin!«

»Für mich nicht!«

Sie sah ihn prüfend an:

»Ich weiß nicht, ob es nicht doch für alle gilt, für alle gelten muß, ob es nicht die Abwehr der Natur ist, um überhaupt weiter leben zu können. Du hast das Andenken an deine Frau, und doch, du mußt dich herausreißen. Schau, das wollt' ich noch mit dir besprechen, eh' du gehst. Du mußt ein neues Leben beginnen.«

Er stand auf und wehrte ab mit beiden Armen:

»Nein, nie, nie!«

Er redete wieder von Margret. Sie ließ ihn ruhig sprechen. Wie er nun von selber schwieg, saßen sie einander eine Weile stumm gegenüber. Dann sagte Gräfin Aich:

»Ich glaub', wenn Ossana dem Maler sitzt, wird das Bild sehr gut.«


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