Georg Freiherr von Ompteda
Margret und Ossana
Georg Freiherr von Ompteda

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Das seit Jahren erwartete Ereignis war eingetreten. Seine Exzellenz Graf Bernburg, Feldzeugmeister i. R., Wirklicher Geheimer Rat Seiner K. und K. Apostolischen Majestät, K. und K. Kämmerer, Großgrundbesitzer, Großkreuz des Franz-Joseph-Ordens, Ehrenballei des Malteser-Ordens, wie die Trauerparte verzeichnete, war nach Empfang der heiligen Sterbesakramente zu seinen Vätern versammelt worden.

Rudi befand sich damit im Besitz der Herrschaft und, wie das Henrietterl beglückt schrieb, eines bedeutenden Barvermögens, das der alte, bedürfnislose Junggeselle, der noch dazu ein vorzüglicher Verwalter und geriebener Finanzmann gewesen, im Laufe seines langen Lebens aufgehäuft. Nun lebte das junge Paar auf der böhmischen Herrschaft, und nach der ersten Freude über den Regierungsantritt bekam man nichts mehr von ihnen zu hören. Nur Ende Oktober, als der Fremdenstrom Merans schon wieder abzuflauen begann, traf ein Brief ein: Soeben sei das allerkleinste Henrietterl Nummer drei erschienen – sei jedoch männlich und heiße daher Heinrich. Bei dem Gedanken an die wachsende Familie sagte Margret ein wenig traurig zu ihrem Mann:

»Warum kann ich dir keinen Sohn schenken?«

Er gab keine Antwort.

Bis Weihnachten war es mildes Wetter, ja kurz vor dem Fest wurde es warm wie im Sommer, und Meinhardt, der immer an seine Landwirtschaft dachte, beängstigte das:

»Wenn nur nix zu früh erwacht!«

Aber die natürliche Sommerwärme schlug jäh um, Wolken zogen sich zusammen, von Süden das Etschtal herauf, ein scharfer Nordwind von den Oetztaler Fernen niederbrausend, trieb sie zurück, sprang um, und eines Morgens lag tiefer Schnee. Dann wechselte bis zum Fest die Witterung zwischen Sonnenschein und bedecktem Himmel. Es rieselte in der Wärme auf den Straßen, aber die Nachtkälte band das Sickerwasser wieder zusammen, daß sich auf der Fragsburger Straße Glatteis bildete.

Die Rochusburger luden die Göllaner zum Weihnachtsfest ein, doch Tante Angiolina lehnte ab, sie könne bei den verschiedenen Gottesdiensten in Lana nicht fehlen. Ossana mochte aber am Heiligen Abend die Mutter nicht verlassen, obwohl sie sie wahrscheinlich nicht einmal zu Gesicht bekommen würde. Man beschenkte sich gegenseitig in Göllan den Tag vorher. Dann kehrten Margret und Meinhardt zur Rochusburg zurück: nun, ihr Fest sollte desto schöner werden!

Margret baute für ihren Mann die Gaben auf: ein Geschenk der Gräfin Aich, hervorragend nicht an Wert, wohl aber durch die Absicht, mit der es ausgesucht, und eine Stickerei des Henrietterls, ohne Zweifel fast fertig gekauft, jedenfalls nicht zu verwenden. Der Poldi hatte einen Aschenbecher gestiftet, gefertigt aus dem Huf eines seiner Pferde, das bei der Jagd im Herbst das Bein gebrochen und hatte erschossen werden müssen. – Die Rochusburger hatten den Bruder eingeladen, doch er antwortete, er wolle lieber zu Ostern wieder einen kleinen Ausflug mit seinen beiden Hindernispferden nach Meran unternehmen, um sich ein paar hübsche Silberpreise zuverdienen.

Als Margret ihres Mannes Tisch fertig hatte, nahm sie ein Tuch und deckte ihn zu. Dann mußte sie hinausgehen, denn nun bereitete er ihr den Geschenktisch.

Auch dieser wurde verhüllt, und die beiden schmückten miteinander den Baum. Im gleichen Zimmer wurden auch auf langer Tafel die Gaben für die Dienerschaft aufgebaut. Dann zündete Meinhardt die Lichter an und enthüllte die Geschenke für seine Frau.

Margret öffnete die Tür und schwang die Klingel. Sie klang gellend durch die gewölbten Räume des alten Schlosses, aber immer noch kam niemand. Er rief:

»'s geht los! 's geht los!«

Doch die Leute zögerten bescheiden, keiner wollte sich vordrängen. Nach einem gelinden Streit um den Vortritt, wie die Königinnen im Nibelungenliede, nämlich der Köchin und der Frau des Dieners, die am längsten im Hause waren, erschienen sie endlich: Gärtner, Kutscher, Stallbursche, Gartenarbeiter, Stuben-, Haus- und Küchenmädchen. Leise zueinander sich beugend, zeigten sie sich die Lichterpracht, die silbernen und goldenen Ketten und Schnüre, das metallische Moos, »Christkindleinshaar« genannt, das auf den Zweigen lag. Dann beugten sie sich nieder zu der großen Krippe, im Grödener Tal geschnitzt, die Anbetung der Hirten darstellend. Davor falteten sie die Hände und neigten die Stirn.

Margret führte die Leute an ihre Plätze. Für jeden lag Geld da und diese und jene Nützlichkeit: Wäsche, Kleidungsstücke, Notizkalender, eine Uhr, ein Bild, das Zimmer zu schmücken. Dazu auf einem Teller Obst, Nüsse, Datteln und Feigen.

Immer noch waren Meinhardts Geschenke mit dem Tuche bedeckt. Erst als die Gatten den Leuten erklärt, warum man dieses ausgesucht und jenes, kam Margret dazu, auch an ihren Tisch zu gehen. Dabei sah sie das Tuch, huschte schnell hin, zog es fort, und – klirr – fiel etwas zu Boden: eine venezianische Vase mit Blumen darin, Margret hatte das farbige Glas eigens für Meinhardt kommen lassen.

Die Köchin war zugesprungen und lupfte mit der neuen sauberen Schürze das perlende Wasser fort. Die Frau des Dieners aber stand da und sperrte den Mund auf.

Meinhardt sah sie an: »Nun, was ist?«

»Heut' g'schieht a Unglück.«

Meinhardt brach dem die Spitze ab:

»'s ist ja schon geschehen! Das Glas ist zerbrochen.«

Die anderen Leute lachten darüber. Aber die Frau sagte:

»Dös ischt erscht eins, passieren tuan drei.«

Man lachte zwar wieder über sie, doch für einen Augenblick war die Stimmung gestört: der Diener nahm seine Frau bei der Hand, zog sie fort und schalt sie aus.

Nun packten die Dienstboten ihre Sachen zusammen, denn unten war ihnen ein zweiter Baum angezündet, wo sie zwangloser für sich ihr Fest feiern sollten.

Margret und Meinhardt blieben allein. Arm in Arm standen sie vor ihren Tischen, küßten sich im Dank und bewunderten, was einer für den andern ausgesucht. In einem Lehnstuhl dicht vor dem brennenden Lichterbaum nahm Margret Platz. Er wollte sich einen Sessel holen, doch sie bat:

»Komm zu mir.«

Sie wechselten die Plätze, er sank in die Kissen und sie setzte sich auf sein Knie, den Kopf an seine Brust gelehnt. Wie Margret sich zurückbog, hielt er ihren Arm, früher so leicht umgriffen.

Er scherzte: »Dick bist du geworden!«

Margret lächelte: »Ja, die Mama!«

Plötzlich sprang er auf: »Es brennt!«

Mit dem Taschentuch hatte er schnell die niedergebrannte Kerze gelöscht. Es roch nach Harz und versengten Nadeln. Als ob der Duft wie Weihrauch ihre Gedanken lenke, meinte sie:

»Wir sollten eigentlich zur Mitternachtsmess'!«

Er antwortete nicht gleich, sie wußte weshalb, und ehe er einverstanden sich erklärt oder es abgeschlagen, sagte sie:

»Nein, ich will nit, du hast recht, ich weiß warum, der Kutscher soll auch seinen Feiertag haben.«

Der Diener trat ein.

»Was ist?«

»Ein Telegramm, Herr Graf.«

Meinhardts Mienen wurden finster, und er ging zu seiner Frau, daß sie mitlesen sollte. Die Depesche war aus Poldis neuem Standort, Kornenburg bei Wien:

»Rittmeister verwundet. Sofort kommen.«

Margret fuhr zusammen: »Poldi?«

»Ach, was wird's sein, es wird nix sein, ja, sag' einmal –«

Er blieb sinnend stehen:

»Margret, mir tut's leid, aber ich muß wohl gleich fahren auf die Depesche hin...«

Sie warf nur einen Blick auf den Weihnachtsbaum. Er fuhr fort: »Unser schönes Fest! Aber Margret, ich bin ja gleich wieder zurück, das heißt – wart' einmal, wenn ich den letzten Zug noch erreiche.«

Er sah nach der Uhr:

»Ja, ich komm' noch hin, ich komm' noch gut hin, dann kann ich morgen abend in Wien sein beim Poldi. Aber jedenfalls –«

Nun bat Margret selbst:

»Du mußt fort.«

Er klingelte und gab dem Diener Weisung, was in der Eile gepackt werden sollte. Dazwischen blickte er wieder nach der Uhr:

»Und sofort den Wagen.«

»Die Haflinger?«

»Nein, die Jucker. Gleich anspannen!«

Dem Hinausgehenden rief er nach:

»Tut mir leid, am Heiligen Abend...«

Es war nicht viel Zeit zu verlieren. Nur ein Handkoffer wurde gepackt und eine Reisetasche. Margret brachte noch ein paar Sachen, die er mitnehmen sollte, aber da Meinhardt in der Eile die notwendigen Anordnungen traf über Wäsche und noch einen Anzug, bekam sie keine rechte Antwort. Da lief sie in ihr Schlafzimmer hinüber und holte von dort ein Päckchen Schokolade. Die sollte er finden als Gruß von ihr. Heimlich steckte sie es ihm in die Reisetasche. Bald stand er fertig da. Er trat noch einmal an seinen Tisch. Als er das zerbrochene Glas sah, sagte er lächelnd:

»Die Alte hat doch recht gehabt. Nummer zwei.«

Aber er fand sofort einen Trost:

»Nummer drei wird sein, daß ich etwas vergess', oder den Zug nit mehr erreich', oder auf der Reis' was verlier!« Meinhardt wollte allein zum Bahnhof fahren, es sei kalt und Margret müsse ja sonst in tiefer Nacht zurückkehren. Aber sie wollte ihn durchaus begleiten.

Als der Zug in der Dunkelheit verschwunden war, ging sie langsam über den Bahnsteig und zum Ausgang. Ihr war bitter ums Herz, war es doch der erste Abschied, den sie von ihm genommen. Noch nie hatte sie so empfunden, was dieser Mann ihr geworden war, ohne den ein Leben sich nicht mehr ausdenken ließ. Im Wagen stützte sie sich auf das leere Kissen ihr zur Seite und mußte mit den Tränen kämpfen. Aber sie fand sich zurück. Sie rechnete aus, wann er wohl frühestens wiederkehren könnte. Dabei dachte sie an Poldi, und ihr kam doch die Angst, es mühte etwas Ernstes sein, sonst hätte man Meinhardt nicht gerufen.

In dem Augenblick, als sie über den Sandplatz fuhr, schlug es zwölf. Da fiel ihr die Mitternachtsmesse ein. Und sofort stand es bei ihr fest: sie war nun einmal unten in Meran, so wollte sie auch in die Kirche gehen. Sie sagte dem Kutscher, in dreiviertel Stunden würde sie wieder da sein. Er brauchte nicht hier halten zu bleiben, wenn es etwa zöge für die Pferde.

Dann ging sie die leise steigende gepflasterte Postgasse hinauf, mit ihren Laubengängen zur rechten Seite und manch altem erkergeschmückten Haus. Eine Menge Menschen teilten den Weg mit ihr. Fröhliche Gesichter sah man und hörte lustige Stimmen. Nur sie war traurig. Neben ihr schritten alte Weiblein mit Schals, Umschlagetüchern und vorweltlichen Hüten, das Gebetbuch in den gestrickten Handschuhen: die alten Weiblein, die jetzt herrschten bei Tante Angiolina in Göllan. Auf dem Pfarrplatz stieg sie die Stufen zur gotischen Pfarrkirche hinauf. An dem großen Kruzifix neben der Tür brannten Laternen, und man sah im Schein der gegenüberliegenden Straßenlichter auf dem Freskenbilde die Riesengestalt des heiligen Christophorus mit dem Christusknäblein auf der Schulter.

Der dunkle Raum des Kirchenschiffes umfing sie. Das Chor war hell erleuchtet, am Altar zitterte das Licht der langen, dünnen Kerzen. Der Duft von Weihrauch schlug ihr entgegen und der Atem, der dumpfe Dunst einer enggekeilten Menge. In den Bänken knieten Frauen und Männer, in den Gängen standen sie, alle das Gesicht zum Hochaltar gewendet, wo eben die heilige Handlung begann. Dann kam ein Priester durch die Andächtigen, bestieg die Kanzel und verlas das Weihnachtsevangelium. Drüben unter den still und steil brennenden Kerzen, von umnebelndem Weihrauchdampf umhüllt, während die Orgel im Responsorium antwortete, wurde das Meßopfer dargebracht. Bei der Wandlung kniete Margret nieder. Einen Augenblick blieb sie noch gebeugt und faßte ihre Gedanken zusammen, die bisher nicht immer der heiligen Handlung gefolgt, da sie von ihr abglitten zu ihrem Mann. Sie wollte beten für ihren Schwager, doch die inbrünstigen Worte ihrer Lippen wandelten sich zur Rückkehr für Meinhardt.

Die Priester verließen den Altarplatz, die Menschheit wandte sich um, leise schurrend, murmelnd ging sie hinaus. Margret ließ sich von der Menge treiben. Sie sah von weitem die Gesichter von ein paar Bekannten: ganz leise verständigten sie sich durch einen Blick. Draußen schlug ihr die kalte Nachtluft entgegen. Die Laternen brannten, vom dunklen Himmel fiel kein Licht. Keiner der Bekannten war mehr zu erblicken, und ihr war doch, als müsse sie mit jemand sprechen, um den Heiligen Abend nicht ganz allein zu sein.

Am Sandplatz blickte sie sich um. Kein Wagen war zu sehen. Die Menschen strömten an ihr vorüber, teilten sich, die einen die Habsburgerstraße hinab, die anderen über die Reichsbrücke hin. Bald lag der Platz verödet. Margret ging ein Stück die Straße hinunter, wieder hinauf und blickte um alle Ecken: kein Wagen! Schon dachte sie daran, am Hotel Erzherzog Johann zu klingeln und den Pförtner um Hilfe zu bitten, als sie Hufe hallen hörte und das Rollen von Rädern. Sie erkannte die Pferde und den Kutscher. So wütend war sie über ihn, der sie eine Viertelstunde hatte warten lassen, daß sie ihn anherrschte wie nie zuvor:

»Wo bleiben's denn nur?«

»Halten zu Gnaden, Frau Gräfin, ich hab' mich ein wenig verspätet!«

Sie stieg ein und wickelte sich in die Decke. Der Kutscher blickte sich um, als wolle er ihr helfen, dabei schwankte er und griff auf den leeren Bock neben sich. Dann ging es davon in rasender Fahrt. Das Sattelpferd galoppierte, doch sie wollte dem Mann nichts sagen, der es ja besser verstand als sie. Allmählich liefen die Pferde ruhiger, schließlich die Steigung hinan Schritt. Aber immer wieder tänzelten sie, sobald es etwas ebener ging.

Sie kamen über die Kaif, Rametz lag in gleicher Höhe und hoch oben Schloß Labers. Den alten, bekannten Weg ging es hinauf, an dem Margret meinte, jeden Stein zu kennen. In der Schlucht, wo das Kirchlein St. Valentin in der Tiefe lag, und die Straße noch immer anstieg, ließ der Kutscher, was Meinhardt nicht gelitten hätte, die Pferde traben. Margret dachte an ihren Mann und rief:

»Schritt! Schritt!« Der Kutscher wandte sich um:

»Frau Gräfin, wann's nit Schritt gehn!«

Mit einemmal hieb er eins, zwei, rechts, links auf die Gäule drein, und sie machten ein paar Sätze. Erschrocken hielt Margret sich fest. Sie wagte nichts zu sagen, denn der Kutscher schimpfte und brummte. Als sie die Höhe gewonnen hatten, wo auch sonst Trab gefahren wurde, stachen die Pferde nur so. Bald galoppierten sie. Der Kutscher lehnte sich hintenüber, man sah, wie er anzog und wieder losließ. Der Wagen ging einmal über einen Stein, daß er sich schief hob und niederbumste. In der Ferne blinkten schon die Rochusburger Lichter, da kam die Stelle, wo der Weg abbog zum Park. Eine Brücke führte über eine Rinne, das Wasser, das bei Gewitter von der Höhe kam, abzuleiten. Sie war breit und, da sie kaum höher als ein Meter über der Rinne lief, nur mit weißgestrichenen Prellsteinen versehen. Aber der Kutscher bekam die Wendung nicht heraus: ein Stoß, der Wagen hob sich, bockte, bäumte sich förmlich. Margret wußte nichts, als daß sie sich hielt. Dann war es ihr, als sähe sie unten das gepflasterte Bachbett näher, ganz nahe, und alles war erloschen. –


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