Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Er war nun doch auf einmal in eine neue Welt versetzt und hatte gegen seinen Aufenthalt in Hannover immer erstaunlich viel gewonnen.

Wenn er auf den Wällen von Erfurt um die Stadt spazieren ging, so fühlte er lebhaft, daß er durch eigne Anstrengung sich aus seinem unerträglichen Zustande gerissen und seinen Standpunkt in der Welt aus eigner Kraft verändert hatte.

Wenn er dann die Glocken von Erfurt läuten hörte, so wurden allmählich alle seine Erinnerungen an das Vergangene rege – der gegenwärtige Moment beschränkte sein Dasein nicht – sondern er faßte alles das wieder mit, was schon entschwunden war.

Und dies waren die glücklichsten Momente seines Lebens, wo sein eigenes Dasein erst anfing, ihn zu interessieren, weil er es in einem gewissen Zusammenhange und nicht einzeln und zerstückt betrachtete.

Das Einzelne, Abgerissene und Zerstückte in seinem Dasein war es immer, was ihm Verdruß und Ekel erweckte.

Und dies entstand so oft, als unter dem Druck der Umstände seine Gedanken sich nicht über den gegenwärtigen Moment erheben konnten. – Dann war alles so unbedeutend, so leer und trocken und nicht der Mühe des Denkens wert. –

Dieser Zustand ließ ihn immer die Ankunft der Nacht, einen tiefen Schlummer, ein gänzliches Vergessen seiner selbst wünschen – ihm kroch die Zeit mit Schneckenschritten fort – und er konnte sich nie erklären, warum er in diesem Augenblicke lebte.

Im Anfange seines Aufenthalts in Erfurt waren dieser Augenblicke nur wenige – er übersah das Leben immer mehr im ganzen – die Ortsveränderung war noch neu – seine Einbildungskraft war durch das Immerwiederkehrende noch nicht gefesselt. –

Dies Immerwiederkehrende in den sinnlichen Eindrücken scheint es vorzüglich zu sein, was die Menschen im Zaum hält und sie auf einen kleinen Fleck beschränkt. – Man fühlt sich nach und nach selbst von der Einförmigkeit des Kreises, in welchem man sich umdreht, unwiderstehlich angezogen, gewinnt das Alte lieb und flieht das Neue. – Es scheint eine Art von Frevel, aus dieser Umgebung hinauszutreten, die gleichsam zu einem zweiten Körper von uns geworden ist, in welchen der erstere sich gefügt hat.

Reisers Wohnung auf der Kirschlache schien auch gerade dazu gemacht zu sein, um seine Einbildungskraft aufs neue wieder zu fesseln.

Die Aussicht über die Gärten nach dem Kartäuserkloster hin hatte nämlich so etwas Romantisches, das Reisern unwiderstehlich anzog und seine Blicke auf jenen stillen Sitz der Einsamkeit heftete, nach welcher er eine heimliche Sehnsucht empfand. –

Da das Gebäude seiner Phantasie gescheitert war und er die geräuschvollen Weltszenen weder im wirklichen Leben noch auf dem Theater hatte durchspielen können, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegte, mit seiner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.

Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz für ihn – und diese Abgeschiedenheit erhielt in seinen Gedanken einen desto höhern Wert, je größer das Opfer war, das er brachte. – Denn das, worauf er Verzicht tat, waren seine liebsten Wünsche, die in sein Wesen eingewebt schienen. –

Die Lampen und Kulissen, das glänzende Amphitheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf. –

Die hohe Mauer, welche das Kartäuserkloster umschließt, das Türmchen auf der Kirche, die einzelnen Häuschen, die innerhalb der Mauer in einer Reihe nacheinander stehn und wovon jedes durch eine Mauer vom andern abgesondert ein eigenes Fleckchen zum Garten hat; dies alles macht einen sehr interessanten Anblick, und diese Höhe der Mauer, diese einzelnen Häuser und diese Gärtchen dazwischen bezeichnen sehr auffallend und bedeutend die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Bewohner dieses Orts.

Sooft die Glocke auf dem Türmchen angezogen wurde, tönte sie in Reisers Ohren wie die Sterbeglocke aller irdischen Wünsche und Aussichten in die Zukunft dieses Lebens.

Denn hier war nun das Ziel von allem – nie durfte der Fuß des Eingeweihten wieder aus dem Bezirk dieser Mauren treten – er fand hier seine immerwährende Wohnung und sein Grab. –

Das Geläute der Kartäuser wird noch mehr durch die Art, mit der es geschieht und durch seine Langsamkeit traurig und melancholisch. –

Sowie nämlich die Kartäuser sich auf dem Chor versammlen, tut jeder nach der Reihe einen Zug an der Glocke und nimmt darauf seinen Platz ein, bis alle vom Ältesten bis zum Jüngsten hereingetreten sind.

Nun horchte Reiser auf den Schall dieser Glocke zuweilen in der stillen Mittagsstunde, zuweilen um Mitternacht oder bei frühem Morgen, und jedesmal erneuerte sich der Eindruck davon so lebhaft in seinem Gemüte, daß immer das ganze Bild der Einsamkeit und Stille des Grabes mit erwachte. –

Es kam ihm vor, als ob diese abgeschiedenen Menschen ihren eigenen Tod überlebten, in ihren Gräbern umherwandelten und sich einander die Hände reichten. –

Mit dieser Idee wurde er nach und nach so vertraut, und sie wurde ihm so lieb, daß er sie manchmal um die angenehmsten Aussichten in das Leben nicht hätte vertauschen mögen.

Er hatte nun auch wieder einen Brief von Philipp Reiser aus Hannover erhalten, der ebenso wie ehemals die Gespräche desselben statt einer besondern Teilnehmung an seines Freundes Schicksale eine etwas weitläuftige Schilderung seiner damaligen Liebe enthielt, und wie weit er nun schon in dieser Liebe gekommen sei, und was ihm noch für Hindernisse im Wege ständen.

Demohngeachtet trug Reiser diesen Brief beständig bei sich und las ihn zum öftern durch, weil Philipp Reiser doch sein einziger Freund war.

Ohnweit der Kirschlache war ein angenehmer Spaziergang, wo zwischen grünem Gebüsch im Tale sich ein klarer Bach ergoß. – Die Aussicht war rundumher gehemmt, und man befand sich in einer reizenden Einsamkeit. –

Hier brachte Reiser manche Stunde auf dem grünen Rasen am Ufer des Baches zu und dachte über sein Schicksal nach, und wenn er zu denken müde war, so las er den Brief seines Freundes durch, den er, so wenig ihn auch der Inhalt interessierte, am Ende fast auswendig lernte – denn er hatte doch einmal nichts zu lesen, was ihm näher gewesen wäre als dieser Brief.

Dazu kam noch der Umstand, daß Philipp Reiser aus Erfurt gebürtig war; sie hatten also beide ihre Vaterstädte vertauscht – und Anton Reiser befand sich nun auf demselbigen Fleck, wo sein Freund die ersten Tage seiner Jugend verlebt und die ersten Eindrücke von der ihn umgebenden Welt erhalten hatte.

Er durchlebte hier in Gedanken Philipp Reisers Kinderjahre und verdoppelte sich in ihm, wenn er in dem Tal am Bache saß und seinen Brief las, der ihm denn sein ganzes Wesen wieder in Erinnerung brachte.

Darum war ihm unter den Studenten auch Ockord so lieb, der Philipp Reisern in Erfurt noch gekannt hatte, und mit dem er sich am öftersten von ihm unterredete.

Dieser Ockord war damals ein junger liebenswürdiger Schwärmer, vor seiner Phantasie schwebte noch der jugendliche Lebensreiz und ihn beseelten hohe Freundschaftsgefühle – zuweilen lief ein klein wenig Affektation mit unter, im Grunde aber hatte er wirklich ein gefühlvolles Herz.

An ihm fand Reiser seinen Mann und ruhte nicht eher, bis er an einem Sonntage mit ihm in die Kartäuserkirche ging; denn allein hatte er sich, weil es ihm zu auffallend schien, noch nicht getraut hereinzugehen.

Sie hatten sich unterwegens von der Nichtigkeit und Kürze des Lebens unterhalten, wobei zu bemerken ist, daß Reiser damals neunzehn und Ockord zwanzig Jahr alt war, und wußten nicht, was sie mit dem Rest ihrer Tage anfangen sollten, als sie in dem Kloster anlangten und in die Kirche traten, welche schon durch ihre leeren weißen Wände und den einsamen Chor die Stille des Grabes predigte.

Die Kirche wird nämlich außer den Kartäusern selber fast von niemand besucht, und weil keine Gemeinde dazu gehört, so ist hier weder Kanzel noch Stühle oder Bänke, sondern nichts als die leeren Wände und der flache Boden, welches dieser Kirche bei dem dämmernden Lichte, das von oben durch die Fenster fällt, ein sehr ernstes und melancholisches Ansehn gibt.

Ockord und Reiser knieten ganz allein an einem Pult vor dem Chore, als die weißgekleideten Mönche einer nach dem andern hereintraten und jeder sich bückend seinen Zug an der Glocke tat.

Sie setzten sich an ihre Pulte auf dem Chor und stimmten ihren Bußgesang in tiefen, traurigen Tönen an – bald standen sie auf und sangen Hymnen, die traurig zurückerschallten; dann fielen sie auf ihr Angesicht und flehten in tiefen klagenden Tönen um Erbarmung. –


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