Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Und nun las er das Sonntagsevangelium von Johannes dem Täufer, wo dieser gefragt wird, ob er Christus sei: ›Und er bekannte und leugnete nicht, und er bekannte, ich bin nicht Christus!‹ – Von diesen Worten nahm er Gelegenheit, vom Meineide zu predigen, und nachdem er die Worte des Evangeliums mit einer etwas gedämpften, feierlichern Stimme gelesen hatte, hub er nach einer Pause an:

Weh dir, der du gewissenlos
Gott, deinen Herrn, verleugnet!
Was trägst du deine Stirne bloß,
Die schwarzer Meineid zeichnet? –
Mit dieser Stirne logst du Gott,
Sein heilger Name war dir Spott,
Wie tief bist du gefallen!
Weh dir, vor Gottes Angesicht
Trittst du – er kennet deiner nicht –
Unglücklicher von allen,
Die einer Mutter Brust gesäugt –
Verzweifle nicht – vielleicht, vielleicht,
Daß einst nach deiner Tränen Menge,
Die Flamm in deinem Busen löscht
Und Reue, mit der Jahre Länge,
Die Schuld von deiner Seele wäscht.
Der du die Freveltat begannst,
O gib, wenn du noch weinen kannst,
Die Hoffnung nicht verloren –
Gott wendet noch sein Angesicht,
Er will den Tod des Sünders nicht,
Sein Mund hat es geschworen. –

Diese Worte, mit öftern Pausen und dem erhabensten Pathos gesprochen, taten eine unglaubliche Wirkung. – Man atmete, da sie geendigt waren, tiefer herauf, man wischte sich den Schweiß von der Stirn. – Und nun wurde die Natur des Meineides untersucht, seine Folgen in ein schreckliches und immer schrecklicher Licht gestellt. Der Donner rollte auf das Haupt des Meineidigen herab, das Verderben nahte sich ihm, wie ein gewappneter Mann, der Sünder erbebte in den innersten Tiefen seiner Seele – er rief: »Ihr Berge fallet über mich, und ihr Hügel bedecket mich!« – Der Meineidige erhielt keine Gnade, er wurde vor dem Zorn des Ewigen vernichtet. –

Hier schwieg er wie erschöpft – ein panisches Schrecken bemächtigte sich aller Zuhörer. – Anton rechnete in der Eile die Jahre seines Lebens hindurch, ob er sich nicht etwa eines Meineids schuldig gemacht habe.

Aber nun begann der Zuspruch – dem Verzweifelnden wurde Gnade und Verzeihung angekündigt – wenn er zehnfach büßte, was er Witwen und Waisen entrissen; wenn er sein ganzes Leben hindurch seine Schuld mit Tränen der Reue und guten Werken wieder abzuwaschen suchte.

Die Gnade wurde dem Verbrecher nicht so leicht gemacht; sie mußte durch Gebet und Tränen errungen werden. Und jetzt war es, als wolle er sie durch sein eignes Gebet und Tränen vor allem Volke vor Gott erringen, indem er sich selbst an die Stelle des seelenzerknirschten Sünders setzte. –

Dem Verzweifelnden wurde zugerufen: knie nieder in Staub und Asche, bis deine Knie wund sind, und sprich: ich habe gesündigt im Himmel und vor dir – und so fing sich ein jeder Periode an mit: ich habe gesündigt im Himmel und vor dir! und dann folgte nach der Reihe das Bekenntnis: Witwen und Waisen hab ich unterdrückt; dem Schwachen hab ich seine einzige Stütze, dem Hungrigen sein Brot genommen – so ging es durch das ganze Register der Freveltaten. – Und jeder Periode schloß sich dann: Herr, ist es möglich, daß ich noch Gnade finde! –

Alles zerschmolz nun in Wehmut und Tränen. – Der Refrain bei jedem Perioden tat eine unglaubliche Wirkung – es war, als wenn jedesmal die Empfindung einen neuen elektrischen Schlag erhielt, wodurch sie bis zum höchsten Grade verstärkt wurde. – Selbst die zuletzt erfolgende Erschöpfung, die Heiserkeit des Redners (es war, als schrie er zu Gott für die Sünden des Volks) trug zu der allgemeinen um sich greifenden Rührung bei, die diese Predigt verursachte; da war kein Kind, das nicht sympathetisch mitgeseufzt und mitgeweint hätte.

Drittehalb Stunden waren schon wie Minuten verflossen – plötzlich hielt er inne und schloß nach einer Pause mit denselben Versen, womit er begann. – Mit erschöpfter gedämpfter Stimme las er nun die öffentliche Beichte, das Sündenbekenntnis und die darauf erfolgende angekündigte Vergebung ab; darauf betete er für diejenigen, welche zum Abendmahl gehen wollten, worin er sich mit einschloß, und dann sprach er mit aufgehobenen Händen den Segen. – Der Abfall der Stimme bei diesem allen gegen den Ton, welcher in der Predigt herrschte, hatte viel Feierliches und Rührendes.

Anton ging nun nicht aus der Kirche, er mußte erst den Pastor Paulmann zum Abendmahl gehen sehen. – Alle Schritte desselben waren ihm nun heilig. Mit einer Art von Ehrfurcht trat er auf den Fleck, wo er wußte, daß der Pastor Paulmann gegangen war. – Was hätte er itzt darum gegeben, daß er schon zum Abendmahl hätte mitgehen dürfen! Er sahe nun den Pastor Paulmann zu Hause gehen, dessen Sohn, ein Knabe von neun Jahren, nebenherging. – Seine ganze Existenz hätte Anton darum gegeben, um dieser glückliche Sohn zu sein. – Wenn er nun den Pastor Paulmann sahe, wie er mit der Gemeine, die ihn von allen Seiten umwallte, über die Straße ging und immer von beiden Seiten denen, die ihn grüßten, freundlich dankte, so war es, als ob er um sein Haupt einen gewissen Schimmer erblickte und unter den übrigen Sterblichen ein übermenschliches Wesen dahin wandeln sahe – sein höchster Wunsch war, durch sein Hutabnehmen nur einen seiner Blicke auf sich zu ziehen – und als ihm das gelungen war, eilte er schnell nach Hause, um diesen Blick gleichsam in seinem Herzen zu bewahren.

Den folgenden Sonntag predigte der Pastor Paulmann des Mittags von der Liebe gegen die Brüder, und so seelenerschütternd seine Predigt wider den Meineid gewesen war, so sanftrührend war diese; die Worte flossen nun wie Honig von seinen Lippen, jede seiner Bewegungen war anders, sein ganzes Wesen schien sich nach dem Stoff, wovon er predigte, verändert zu haben. Und doch war hierbei nicht die mindeste Affektation. Es war ihm natürlich, sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen, die der Stoff seiner Rede veranlaßte, zu verweben.

Diesen Vormittag hatte Anton mit erstaunlich langer Weile dem andern Prediger dieser Kirche zugehört – er geriet ein paarmal in eine Art von Wut gegen ihn, da sich alles anließ, als ob er jetzt Amen sagen würde, und er dann von neuem in dem alten Tone wieder anfing. Jetzt war es mehr wie jemals Antons größte Qual, einer solchen langweiligen Predigt zuzuhören, da er sich nicht enthalten konnte, beständig Vergleichungen anzustellen, nachdem er sich einmal die Predigt des Pastor Paulmann als das höchste Ideal gedacht hatte, welches ihm von jedem andern unerreichbar schien.

Als die Vormittagspredigt vorbei war, so war die Reihe an dem Pastor Paulmann, die Einsegnung beim Abendmahl zu verrichten, welche Anton nun zum erstenmal von ihm hörte. – Und nun, in welcher ehrwürdigen Gestalt erschien er ihm itzt! Er stand im Hintergrunde der Kirche vor dem hohen Altare und sang die Worte: Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich – mit einer so himmelerhebenden Stimme und einem so mächtigen Ausdruck, daß Anton sich in dem Augenblick in höhere Regionen verzückt glaubte – auch war ihm dies alles wie etwas, das hinter einem Vorhange, im Allerheiligsten geschahe, wozu sich sein Fuß nicht nahen durfte – wie beneidete er einen jeden, der zum Altar hinzutreten und aus den Händen des Pastor Paulmann das Abendmahl empfangen durfte! – Ein sehr junges Frauenzimmer, die schwarz gekleidet, mit blassen Wangen und einer Miene voll himmlischer Andacht zum Altar hinzutrat, machte zuerst auf Antons Herz einen Eindruck, den er bisher noch nicht gekannt hatte. Er hat dies junge Frauenzimmer nie wieder gesehen, aber ihr Bild ist nie in seiner Seele verloschen.

Nun hatte seine Phantasie ein neues Spiel. – Die Idee vom Abendmahl war jetzt diejenige, womit er zu Bette ging und aufstund, und womit er sich den ganzen Tag über, wenn er bei seiner Arbeit allein war, beschäftigte; dabei schwebte ihm immer der Pastor Paulmann im Sinne mit seiner sanften, schwellenden Stimme und seinem gen Himmel gehobnen Auge, das von mehr als irdischer Andacht erleuchtet schien. Zuweilen drängte sich denn auch in seiner Phantasie das Bild des schwarz gekleideten jungen Frauenzimmers mit der blassen Farbe und andachtsvollen Miene wieder vor.

Durch dies alles wurde seine Einbildungskraft so begeistert, daß er sich itzt für den glücklichsten Menschen unter der Sonne würde gehalten haben, wenn er den künftigen Sonntag hätte zum Abendmahl gehen dürfen. Er versprach sich eine so überirdische himmlische Tröstung beim Genuß des Abendmahls, daß er schon im voraus Freudentränen darüber vergoß; wobei er zugleich ein gewisses sanftes beruhigendes Mitleid mit sich selber empfand, das ihm nun alles Bittre und Unangenehme seiner Lage versüßte, wenn er bedachte, daß ihn doch als Hutmacherbursche einmal niemand dieses Trostes würde berauben können. Alle vierzehn Tage wenigstens nahm er sich dann vor, zum Abendmahl zu gehen, wenn er erst so weit wäre – und dann schlich sich ganz geheim in diesen Wunsch die Hoffnung mit ein, daß durch dies öftere Zumabendmahlgehen der Pastor Paulmann ihn vielleicht am Ende bemerken würde: und dieser Gedanke war es wohl vorzüglich, welcher bei ihm die unaussprechliche Süßigkeit in diese Vorstellungen brachte. So lag auch hier die Eitelkeit im Hinterhalt verborgen, wo sie mancher vielleicht am wenigsten vermutet hätte.


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