Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Die Musik, die Zuschauer, die Erleuchtung von den Fackeln, die Anführer mit Federhüten und entblößten Degen – das alles beseelte ihn wieder mit neuem Mut, da er sich in diesem glänzenden Aufzuge mit befand. –

Und da er am andern Tage mit unter der Zahl der Primaner stand und dem Rektor mit einer lateinischen Anrede an ihn das Neujahrsgeschenk, wozu Reiser doch auch seinen Teil beigetragen hatte, auf einem silbernen Teller überreicht wurde, so fühlte er sich einmal mit einigem Wohlgefallen wieder in der wirklichen Welt. – Er sahe sich doch hier nicht ganz ausgeschlossen und verdrängt. – Allein wie sehr verbitterte ihm der Haß und Übermut seiner Mitschüler auch diese kleine Aufmunterung wieder! –

Der Rektor bewirtete die Primaner, welche ihm das Geschenk gebracht hatten, mit Wein und Kuchen. – Diese tranken zu wiederholten Malen seine Gesundheit, wobei sie denn am Ende, da ihnen der Wein in die Köpfe stieg, ziemlich laut wurden. – Reiser trank einige Gläser Wein, ohne schlimme Folgen zu besorgen – allein die gänzliche Ungewohnheit des Weintrinkens machte, daß ihn ein paar Gläser schon etwas berauschten; nun legten es seine edeldenkenden Mitschüler darauf an, ihn gänzlich betrunken zu machen, welches ihnen teils durch List und teils durch Drohungen gelang, so daß Reiser allerlei verwirrtes Zeug redete und am Ende zu Bette gebracht werden mußte. –

War nun Reiser vorher schon in dem Zutrauen und der Achtung aller derer, die ihn kannten, gesunken, so gab dieser Vorfall seinem guten Kredit nun vollends den letzten Stoß. – Vorher war er schon ein träger, unordentlicher und unfleißiger, nun war er auch ein unmäßiger und schlechter Mensch, weil er in dem Hause seines Lehrers, der zugleich sein Wohltäter war, durch sein unanständiges Betragen zugleich das undankbarste Herz verraten hatte.

Alle diese Folgen sahe Reiser dunkel voraus, da er am andern Morgen erwachte, und indem er sich anzog, machte er sich schon auf Bitte und Entschuldigung bei dem Rektor wegen seines gestrigen Betragens gefaßt. –

Er hatte seine Anrede recht gut ausstudiert und versicherte unter andern, daß er diesen Flecken auf alle Weise wieder würde auszutilgen suchen, worauf ihm denn der Rektor eben nicht sehr tröstlich antwortete, daß die nachteiligen Folgen von diesem Vorfall, wenn er bekannt würde, wohl schwerlich zu verhüten sein würden.

Der Rektor hatte darin sehr recht – denn der Vorfall wurde bald bekannt, und es hieß nun: Wie! der junge Mensch lebt von Wohltaten, selbst der Prinz wendet so viel an ihn, und da er in dem Hause seines Lehrers, seines Wohltäters, der ihm Obdach gibt, gastfreundlich bewirtet wird, beträgt er sich so – wie niederträchtig, wie undankbar!

Ohngeachtet nun Reisern diese Folgen ahndeten, und er höchst traurig darüber war, empfand er doch am andern Tage, da er ins Chor kam und seine Mitschüler über sein blasses und verwirrtes Ansehn, das er noch von dem gestrigen Rausche hatte, lachten, eine Art von sonderbarem Stolz, gleichsam als ob er durch das gestrige Betrinken eine gewisse Bravour bezeigt hätte, daß er sogar affektierte, als ob sein Taumel noch fortdauerte, um dadurch Aufmerksamkeit auf sich zu erregen. –

Denn die Aufmerksamkeit der übrigen auf ihn, die diesmal mehr mit einer gewissen Art von Beifall als mit Spott verknüpft war, schmeichelte ihm. – Auch betrachteten ihn die andern so, wie man einen zu betrachten pflegt, der in demselben Fall ist, worin man selbst einmal war – denn der Präfektus war fast immer betrunken – dies geheime Vergnügen, welches Reiser empfand, da es ihm zu gelingen schien, sich durch das Schlechte bemerkt zu machen, ist wohl die gefährlichste Klippe der Verführung, woran die meisten jungen Leute zu scheitern pflegen.

Indes wurde dieser Übermut bei Reisern sehr bald wieder gedämpft, da er die nachteiligen Folgen, welche ihm der Rektor prophezeit hatte, nur zu bald empfand. – Allenthalben empfing man ihn mit kalten und verächtlichen Blicken. – Er ließ daher die meisten Freitische einen nach dem andern freiwillig fahren und hungerte lieber oder aß Salz und Brot – ehe er sich diesen Blicken aussetzen wollte. – Bei dem einzigen Schuster Schantz ging er noch immer mit Vergnügen hin, denn hier wurde er nach wie vor mit freundlichen Blicken empfangen, und man ließ ihn hier nicht für sein widriges Schicksal büßen.

Er war damals weit entfernt, daß er sich gegen sich selbst hätte entschuldigen sollen. – Vielmehr trauete er dem Urteil so vieler Menschen mehr als seinem eigenen Urteil über sich selbst zu – er klagte sich oft an und machte sich die bittersten Vorwürfe über seine Versäumnis im Studieren, über sein Lesen und über sein Schuldenmachen beim Bücherantiquarius – denn er war damals nicht imstande, sich das alles als eine natürliche Folge der engsten Verhältnisse, worin er sich befand, zu erklären. – In solcher Stimmung der Seele, wo er gegen sich selbst aufgebracht und seine Phantasie noch durch ein Trauerspiel, das er eben gelesen hatte, erhitzt war, schrieb er einmal einen verzweiflungsvollen Brief an seinen Vater, worin er sich als den größten Verbrecher anklagte, und der mit unzähligen Gedankenstrichen angefüllt war, so daß sein Vater nicht wußte, was er aus dem Briefe machen sollte und für den Verstand des Verfassers im Ernst zu fürchten anfing. – Der ganze Brief war im Grunde eine Rolle, die Reiser spielte. – Er fand ein Vergnügen daran, sich selbst, wie es zuweilen die Helden in den Trauerspielen machen, mit den schwärzesten Farben zu schildern und dann recht tragisch gegen sich selbst zu wüten.

Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte, was konnte wohl anders sein Bestreben sein, als sich so viel und so oft wie möglich selbst zu vergessen?

Der Bücherantiquarius blieb daher seine immerwährende Zuflucht, und ohne diesen würde er seinen Zustand schwerlich ertragen haben, den er sich nun in manchen Stunden nicht nur erträglich, sondern sogar angenehm zu machen wußte, wenn er z. B. bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, ein kleines, freilich eben nicht glänzendes Auditorium um sich versammlen und dem mit aller Fülle des Ausdrucks und der Deklamation, die ihm nur möglich war, irgendeines seiner Lieblingstrauerspiele, als Emilia Galotti, Ugolino oder sonst etwas Tränenvolles, wie z. B. den Tod Abels von Geßner vorlesen konnte, wobei er denn ein unbeschreibliches Entzücken empfand, wenn er rund um sich her jedes Auge in Tränen erblickte und darin den Beweis las, daß ihm sein Endzweck, durch die Sache, die er vorlas, zu rühren, gelungen war. –

Überhaupt brachte er die vergnügtesten Stunden seines damaligen Lebens entweder für sich allein oder in diesem Zirkel bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, zu, wo er gleichsam die Herrschaft über die Geister führen und sich zum Mittelpunkte ihrer Aufmerksamkeit machen konnte – denn hier wurde er gehört – hier konnte er vorlesen, deklamieren, erzählen und lehren – und er ließ sich wirklich mit den Handwerksgesellen, welche dort zusammenkamen, zuweilen in Dispüte über sehr wichtige Materien, als über das Wesen der Seele, die Entstehung der Dinge, den Weltgeist und dergleichen ein, wodurch er die Köpfe verwirrte – indem er die Aufmerksamkeit dieser Leute auf Dinge lenkte, an die sie in ihrem Leben nicht gedacht hatten. –

Mit einem Schneidergesellen insbesondre, der anfing, an seinen Grübeleien Gefallen zu finden, unterhielt er sich oft stundenlang – über die Möglichkeit der Entstehung einer Welt aus nichts – endlich gerieten sie auf das Emanationssystem und auf den Spinozismus – Gott und die Welt war eins. –

Wenn dergleichen Materien nicht in die Schulterminologie eingehüllt werden, so sind sie für jeden Kopf und sogar Kindern verständlich. –

Bei einem solchen Gespräch pflegte Reiser aller seiner Sorgen und seines Kummers zu vergessen – das, was ihn drückte, war denn viel zu klein für ihn, um seine Aufmerksamkeit zu beschäftigen – er fühlte sich aus dem umringenden Zusammenhange der Dinge, worin er sich auf Erden befand, auf eine Zeitlang hinaus versetzt und genoß die Vorrechte der Geisterwelt – wer ihm dann zuerst in den Wurf kam, mit dem suchte er sich in philosophische Gespräche einzulassen und seine Denkkraft an ihm zu üben. –

Indes wandte er doch seine Schulstunden ohngeachtet der wenigen Aufmunterung, die er darin genoß, und der vielen Demütigungen, die er darin erduldete, nicht ganz unnütz an. – Er schrieb bei dem Direktor neue Geschichte, Dogmatik und Logik und bei dem Rektor die Erdbeschreibung und einige Übersetzungen lateinischer Autoren nach, wodurch er denn doch immer neben seiner Komödien- und Romanlektüre noch einige wissenschaftliche Kenntnisse auffing und, ohne es eigentlich mit Absicht zu treiben, auch im Lateinischen noch einige Fortschritte machte. –

Das war aber alles nur wie zufällig – manche Stunde versäumte er dazwischen, und manche Stunde las er, während daß der Livius oder ein andrer lateinischer Autor gelesen wurde, für sich heimlich einen Roman, weil er doch einmal wußte, daß der Direktor ihn nicht mehr aufzurufen würdigte. –

Denn wenn er in den Schulstunden mitten unter einer Anzahl von sechs bis siebenzig Menschen saß, von denen fast kein einziger sein Freund war, und denen er fast insgesamt ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung war, so mußte ihm dies natürlicherweise beständig eine sehr ängstliche Lage sein, wo er sich am meisten gedrungen fühlte, sich in eine andre Welt zu träumen, in der er sich besser befand. –

Aber auch diese Zuflucht mißgönnte man ihm – und indem er gerade einmal, noch ehe die Stunde anging, in einem Bande vom Theater der Deutschen las, so nahm man, während daß der Rektor hereintrat, ihm das Buch weg und legte es dem Rektor aufs Katheder hin, dem man nun auf Befragen, woher das Buch käme, sagte, daß Reiser während den Stunden darin zu lesen pflegte. – Ein Blick voll wegwerfender Verachtung auf Reisern war die Antwort des Rektors auf diese Anklage.

Und dieser Blick kostete Reisern wiederum einen Teil des wenigen Selbstzutrauens, das ihm noch übrig geblieben war; denn weit entfernt, sich gegen sich selbst zu entschuldigen, glaubte er vielmehr diese Verachtung wirklich zu verdienen und hielt sich in dem Augenblick ebenso sehr für ein weggeworfnes verächtliches Wesen, als ihn der Rektor nur immer dafür halten konnte. –


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