Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Indes schwieg er jetzt noch stille und wartete ein paar Tage, bis er ohnedem zu dem Direktor gehen mußte, um ihm einen lateinischen Aufsatz, den er, so wie seine Mitschüler, wöchentlich zur Übung im Stil verfertigen mußte, zur Durchsicht zu bringen; und bei dieser Gelegenheit überreichte er denn dem Direktor eine Abschrift von den beiden Gedichten, die er deklamiert hatte, und sagte ihm, daß er selbst der Verfasser davon wäre. –

Des Direktors Mienen, der ihn sonst ziemlich gleichgültig angesehen hatte, heiterten sich sichtbar gegen ihn auf, da er dies sagte, und von dem Augenblick an schien dieser Mann sein Freund zu werden – er ließ sich mit ihm in ein Gespräch über die Dichtkunst ein, erkundigte sich nach seiner Lektüre, und Reiser ging mit freudenvollen Herzen über die gute Aufnahme seiner Gedichte zu Hause. –

Den andern Tag verkündigte er Philipp Reisern sein Glück, der sich aufrichtig mit ihm darüber freute, daß man nun einmal aufhören würde, ihn zu verkennen, und nun vielleicht glücklichere Tage auf ihn warteten. –

Nun fügte es sich, daß Reiser in der folgenden Woche am Montag Morgen etwas spät in die erste Lehrstunde kam, welche der Direktor hielt, und in welcher er die lateinischen Aufsätze ohne Nennung der Namen öffentlich zu beurteilen pflegte. – Und da er nun in den Hörsaal trat, hörte er den Anfang seines Gedichts ›Der Gottesleugner‹ vom Direktor, der auf dem Katheder saß, ablesen und Zeile vor Zeile kritisieren. – Reiser konnte erst kaum seinen Ohren trauen, da er dies hörte – sobald er hereintrat, waren aller Augen auf ihn gerichtet – denn diese öffentliche Kritik war die erste in ihrer Art. –

Der Direktor mischte so viel aufmunterndes Lob unter seinen Tadel und bezeigte über die beiden Gedichte, die Reiser deklamiert hatte, im Ganzen genommen so sehr seinen Beifall, daß dieser von dem Tage an die Achtung seiner Mitschüler, deren Spott er so lange gewesen war, erhielt und auf die Weise eine neue Epoche seines Lebens anfing. –

Sein poetischer Ruhm breitete sich bald in der Stadt aus – er bekam von allen Seiten Aufträge, Gelegenheitsgedichte zu machen – und seine Mitschüler wollten alle von ihm in der Poesie unterrichtet sein und das Geheimnis, wie man Verse machen könne, von ihm lernen. – Auch wurden dem Direktor nun so viele Verse ins Haus gebracht, daß dieser es endlich untersagen mußte – auch hat er nachher nie wieder öffentlich Verse kritisiert. –

Was Reisern am meisten bei der Sache freute, war der merkliche Fortschritt, den er seit einem Jahre in Ansehung der Bildung seines Geschmacks getan zu haben glaubte, da ihm vor einem Jahre das Gedicht an die Gottesleugner, welches er jetzt höchst abgeschmackt fand, noch so sehr gefallen hatte, daß er es der Mühe wert hielt, es auswendig zu lernen. – Aber in dies Jahr hatte sich auch die Lektüre des Shakespeare, des Werthers und der vielen vorzüglichen Gedichte in den neuen Musenalmanachen nebst seinem Studium der Wolfischen Philosophie zusammengedrängt, wozu noch die Einsamkeit und der stille ungestörte Naturgenuß kam, wodurch sein Geist zuweilen in einem Tage mehr als vorher in ganzen Jahren an Kultur gewann. – Man fing nun auch an, wieder auf ihn aufmerksam zu werden, und diejenigen, welche bisher geglaubt hatten, daß nichts aus ihm werden würde, fingen nun wieder an zu glauben, daß doch noch wohl etwas aus ihm werden könnte. –

Bei dieser bessern Wendung seines Schicksals behielt Reiser demohngeachtet noch immer seine schwermütige Laune bei, woran er nun einmal ein besonderes Behagen fand; und selbst an dem Tage, da ihm die unerwartete Ehre der öffentlichen Kritik seiner Gedichte widerfahren war, ging er den Nachmittag einsam und schwermütig bei dem trüben und regnigten Wetter in der Stadt umher – und wollte am Abend zu Philipp Reisern gehen, um diesem sein Glück zu sagen. – Da er nun hinkam, fand er ihn nicht zu Hause, und alles war ihm nun so tot, so öde – er konnte sich seines Glücks, die Achtung der Menschen, die ihn zunächst umgaben, in gewissem Maße gewonnen zu haben, nicht recht freuen, weil er es seinem Freunde nun nicht hatte erzählen können. –

Und da er nun traurig vor sich hin wieder nach Hause kehrte, verfolgte er die Idee des Nichtzuhausefindens, des Rückkehrens mit kummerbeladenem Herzen, wenn er seinem Freunde ein Leiden hätte klagen wollen, bis zu dem fürchterlichen Gedanken, daß er ihn tot gefunden habe und nun verzweiflungsvoll selbst sein Glück verwünschte, weil er das größte Glück des Lebens, einen treuen Freund, verloren hatte. – Daraus bildeten sich denn wieder folgende Verse, die er aufschrieb, als er zu Hause kam –

Ich suchte meinen Freund,
Wollt' ihm sagen meine Leiden
Und fand ihn nicht – –
Da ging ich bekümmert
Mit schwerem Herzen
In meine Hütte zurück. – –

Ich suchte meinen Freund,
Wollt' ihm sagen meine Freuden
Und fand ihn nicht – –
Da ward ich so traurig,
Als freudig ich vor war,
Und ging und schwieg. –

Ich suchte meinen Freund,
Wollt' ihm sagen mein Glück
Und fand ihn tot – –
Da verflucht' ich mein Glück
Und tat einen Schwur,
So lange mein Auge noch Tränen weint,
Zu trauren um diesen einen Freund,
Denn diesen einen Freund hatt' ich nur. –

Um diese Zeit machte er nun auch durch den Sohn des Kantors Winter eine sehr interessante Bekanntschaft mit dem philosophischen Essigbrauer, womit ihn dieser schon vor einem halben Jahre hatte bekannt machen wollen und immer nicht dazu gekommen war. –

Winter holte ihn also eines Abends ab, und Reiser war voller Erwartung – unterwegs unterrichtete ihn Winter, wie er sich bei dem Essigbrauer nehmen, daß er nicht guten Abend und, wenn er wegginge, nicht gute Nacht sagen solle. – Dann kamen sie auf der langen Osterstraße, die voller altfränkischen Häuser ist, durch den großen Torweg über einen langen Hof in das Brauhaus, wo der Essigbrauer hinten hinaus sein abgesondertes Revier hatte, in welchem die Fässer in einem großen Verschlage, wo beständig eingeheizt ist, reihenweise nebeneinander standen, so daß sie eine Art von langen Gängen bildeten, in welchen man sich verlieren konnte. – Wenn man hier sprach, so schallte es dumpf wieder. – Da nun hier niemand zu sehen war, so fing Winter an zu rufen ubi? – und eine Stimme in der Ferne antwortete hic! – sie gingen darauf in das eigentliche Brauhaus dicht neben dem Revier, wo die Fässer standen, und der Essigbrauer in seinem weißen Kamisol und blauen Schürze mit aufgestreiften Armen stand am Fenster und schrieb – er wäre gleich fertig, sagte er, darauf gab er an Winter ein Papier, worauf einige lateinische Verse standen, die er soeben für ihn verfertigt hatte. –

Der Essigbrauer schien Reisern ein Mann von ohngefähr dreißig Jahren zu sein – in jeder Bewegung seiner Muskeln, in dem zuckenden Blick seiner Augen schien sich in sich selbst zurückgedrängte Kraft zu äußern. – Gleich der erste Anblick des Essigbrauers flößte Reisern Ehrfurcht ein – dieser aber schien sich erst gar nicht um ihn zu bekümmern, sondern sprach mit Winter über einige neue Musikalien und andere Sachen, wobei er kein Wort anders als plattdeutsch sprach und sich doch dabei so richtig und edel ausdrückte, daß selbst das gröbste Plattdeutsch in seinem Munde einen gewissen Reiz gewann, der verursachte, daß man mit Vergnügen und Bewunderung, wenn er sprach, an seinen Lippen hing, wie Reiser nachher oft erfahren hat, wenn dieser Essigbrauer zwischen seinen Fässern Weisheit lehrte. –

Weil es schon ein ziemlich kalter Herbstabend war, so führte der Essigbrauer seine beiden Gäste in seinen geheizten Prunksaal, wo die langen Reihen Fässer standen, und wo er ihnen eine Art von süßem, sehr wohlschmeckenden Bier vorsetzte, wobei denn das Gespräch allgemein wurde; und da die Rede auf einen gemeinschaftlichen Bekannten, einen alten Mann, fiel, der sehr viel Drollichtes und Sonderbares an sich hatte, fing der Essigbrauer an, den ganzen Charakter dieses Mannes mit Sternischer Laune bis auf das kleinste Detail zu schildern. – Hernach las er etwas aus dem Tom Jones mit solchem Ausdruck und einer so wahren und richtigen Deklamation vor, daß Reiser nicht leicht irgendwo eine bessere Unterhaltung gefunden hatte und dem jungen Winter beim Weggehen sein Vergnügen über diese Bekanntschaft nicht genug beschreiben konnte. –

Er besuchte von nun an entweder in Winters Gesellschaft oder allein den Essigbrauer fast alle Abend und fand sich hier, wenn sie bei der hangenden Lampe zwischen den Fässern am warmen Ofen auf ihren hölzernen Schemeln saßen und im Tom Jones lasen oder Charakterschilderungen machten, so glücklich und vergnügt, als er noch nie, ausgenommen mit Philipp Reisern, gewesen war – allein in dem Umgange mit dem Essigbrauer fühlte er sich allemal erhoben und gestärkt, sooft er bei sich erwog, daß ein Mann von solchen Kenntnissen und Fähigkeiten sich mit solcher Geduld und Standhaftigkeit der Seele seinem Schicksale unterwarf, welches ihn von allem Umgange mit der feinern Welt und von aller Nahrung des Geistes, die ihm daraus hätte zuströmen können, gänzlich ausschloß. – Und eben der Gedanke, daß ein solcher Mann so versteckt und in der Dunkelheit lebte, machte Reisern den Wert desselben noch auffallender – so wie ein Licht in der Dunkelheit stärker zu leuchten scheint, als wenn sein Glanz sich unter der Menge andrer Lichter verliert. –


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