Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Reiser, der an Leib und Seele gelähmt war, konnte kein Wort hierauf antworten, sondern ging hin, wo das Theater mit seinem letzten Vorhange ganz am Ende an die kahle Mauer grenzt, und stützte sich verzweiflungsvoll mit dem Kopfe an die Wand. Denn er war nun wirklich unglücklich und doppelt unglücklich. –

Der eingebildete und der würkliche Mangel traten in fürchterlicher Eintracht zusammen, um sein Gemüt mit Schrecken und Grauen vor der Zukunft zu erfüllen.

Er sahe nun keinen Ausweg aus diesem Labyrinthe, in welches seine eigene Torheit ihn geleitet hatte – hier war nun die kahle öde Mauer, das täuschende Schauspiel war zu Ende.

Er eilte vors Tor hinaus und ging in der Allee, wo er sich schon oft mit den angenehmsten Vorstellungen beschäftiget hatte, verzweiflungsvoll auf und nieder; die Menschen gingen kalt vor ihm vorbei; niemand wußte, daß er in diesem Augenblick die einzige Hoffnung seines Lebens verloren hatte und einer der verlassensten Menschen war.

Und sonderbar war es, daß gerade in diesem allerverlassensten Zustande sich ein unbekanntes Gefühl von Liebebedürfnis in ihm regte, da seine Verzweiflung in Mitleid mit seinem eigenen Zustande sich verwandelte und ihm nun ein Wesen fehlte, das dieses Mitleid mit ihm haben könnte.

Er getrauete sich den Mittag nicht zu Hause zu gehen, sondern aß nicht und kehrte erst den Nachmittag wieder zurück – und am Abend ging er in die Komödie, wo nun die Operette der Deserteur aufgeführt wurde, die ihm den Tod seiner Hoffnungen bezeichnete.

Nie aber in seinem Leben ist seine Teilnahme an einem fremden Schicksale stärker gewesen, als sie es gerade diesen Abend an dem Schicksale der Liebenden war, welche durch den drohenden Todesstreich getrennt werden sollten. Es traf bei ihm zu, was Homer von den Mädchen sagt, die um den erschlagenen Patroklius weinten, sie beweinten zugleich ihr eigenes Schicksal.

Selbst die Musik rührte ihn bis zu Tränen, und jeder Ausdruck erschütterte sein Innerstes. Am stärksten aber fühlte er sich durch die Szene bewegt, wo der Deserteur, der schon sein Todesurteil weiß, im Gefängnis an seine Geliebte schreiben will und sein betrunkener Kamerad ihm keine Ruhe läßt, weil er ihn ein Wort soll buchstabieren lehren.

Reiser fühlte es hier tief, wie wenig ein Mensch den andern Menschen ist, wie wenig den andern an seinem Schicksal liegt; und sein Freund mit der Hutkokarde stand wieder vor seiner Seele da. Weswegen putzte aber jener seine Hutkokarde, als um seinem Mädchen, der einzigen zu gefallen, die damals seine Göttin war, in der er sich wiederfinden und wieder von ihr geliebt sein wollte.

Das Schauspiel endigte sich froh, die Unglücklichen wurden getröstet, das Weinen verwandelte sich in Lachen, das Trauren in Fröhlichkeit – aber betrübt und mit schwerem Herzen ging Reiser in seine Wohnung – vor ihm war alles dunkel, und er sahe nun keinen Strahl von Hoffnung mehr.

Als er zu Hause kam, legte er sich sogleich zu Bette – seine Sinne waren stumpf – seine Gedanken wußten keinen Ausweg mehr zu finden – und der Schlaf war das einzige, was ihm übrig blieb. – Es war ihm, als ob er aus diesem Schlafe nicht wieder erwachen würde – denn alle Lebensaussichten waren ihm abgeschnitten, und er hatte keine Hoffnung mehr, wozu er erwachen sollte.

Der Gedanke von Auflösung, von gänzlichem Vergessen seiner selbst, von Aufhören aller Erinnerung und alles Bewußtseins war ihm so süß, daß er diese Nacht die Wohltat des Schlafes im reichsten Maße genoß – denn kein leiser Wunsch hemmte mehr die gänzliche Abspannung aller seiner Seelenkräfte; kein Traum von täuschender Hoffnung schwebte ihm mehr vor – alles war nun vorbei und endigte sich in die ewigstille Nacht des Grabes.

So wohltätig reicht die Natur den Hoffnungslosen auch schon die Schale dar, aus der er Vergessenheit seiner Leiden trinken und alle Erinnerungen an irgend etwas, das er wünschte oder wornach er strebte, aus der Seele verwischt werden sollen.

Als Reiser am andern Morgen spät aus seinem tiefen Schlafe erwachte, fühlte er sich wunderbar an Leib und Seele gestärkt – er fühlte Kraft in sich, alles zu unternehmen, um auch selbst unter diesen Umständen noch zum Ziel seiner Wünsche zu gelangen.

Es stieg ein Gedanke in ihm auf, sich hier um Unterrichtsstunden zu bewerben; sich durch seinen eigenen Fleiß zu nähren und auf dem Theater umsonst zu dienen. – Dieser Entschluß wurde immer lebhafter bei ihm, und er traute seinen Kräften alles zu, sobald er nur wieder einen Schimmer von Hoffnung vor sich sahe, sein Ziel zu erreichen.

Während dieser Gedanken zog er sich an und ging zu Ekhof, dem er seinen Entschluß entdeckte und dessen Rat er sich ausbat, indem er versicherte, daß er für sich selbst leben könne, ohne doch von der Art, wie er zu leben dächte, sich etwas merken zu lassen.

Ekhof lobte und billigte seine Standhaftigkeit und sagte ihm, er zweifle nicht, daß dies Anerbieten werde angenommen werden. Der Bibliothekarius Reichard, welchem Reiser eben diesen Entschluß bekannt machte, versprach ihm den andern Tag Bescheid darauf zu geben.

Und nun kehrte Reiser voll neuer Hoffnung wieder zu Hause – sein ganzes Beginnen kam ihm nun selber noch ehrenvoller vor, weil er mit der Kunst zugleich den Fleiß in nützlichen Geschäften und nährendem Erwerb verband – und alle seine übrigen Stunden der Kunst zum Opfer brachte.

Er aß nun diesen Mittag wieder voll Zutrauen bei seinem Wirt – und fühlte in sich einen unwiderstehlichen Mut, der Kunst zuliebe das Härteste im Leben zu ertragen, sich auf die notwendigsten Bedürfnisse einzuschränken und Tag und Nacht nicht zu ruhen, um sich in der Kunst zu üben und zugleich seine Unterrichtsstunden gehörig abzuwarten.

Mit diesen Entschlüssen, die ihm einen recht heroischen Mut einflößten, kam er am andern Morgen wieder zu Reichard und hörte nun sein Endurteil, daß man sich auch auf sein Anerbieten, umsonst auf dem Theater zu dienen, nicht einlassen könne und jetzt schlechterdings kein neues Engagement bei diesem Theater mehr stattfinden solle. – Wenn Reiser einige Wochen eher gekommen wäre, so hätte sich etwas für ihn tun lassen, nun aber sei alles vergeblich. –

Diese ganz unerwartete zweite abschlägige Antwort versetzte Reisern in eine Art von innerer Erbitterung – er fing in diesem Augenblicke an, sich selbst zu hassen und zu verachten, und fragte: ob er denn nicht etwa Souffleur oder Rollenschreiber oder Lichtputzer beim Theater werden könne? – Reichard antwortete: es täte ihm leid, da Reiser so viel Feuer fürs Theater verriete, daß sein Unternehmen ihm hier mißlungen wäre, indes würde es ihm vielleicht anderwärts gelingen.

Reiser ging nun in tiefen Gedanken von Reichard weg, und ging bei dem Bau am Schlosse auf und nieder, wo einige in Schiebkarren Steine zuführten, andere sie ordneten. – Er stand wohl an eine Stunde da und sahe immer dieser Arbeit zu – dabei entstand eine sonderbare Begierde in ihm, sein gutes Kleid auszuziehen und mit den übrigen Tagelöhnern auch Steine zu diesem Bau auf den Schiebkarren herbeizuführen.

Es war schon gegen Mittag, und die Sonne schien immer heißer. – Die Hände der Arbeiter wurden laß – sie ruheten sich aus und verzehrten auf der Erde ihr Mittagsmahl. – Reiser gab sich mit dem einen ins Wort und fragte ihn, wie viel sein Tagelohn betrüge. Es war eine Anzahl Groschen, die Reiser nicht mehr in seinem Vermögen hatte; und das Geld konnte in einem Tage verdient werden.

Der Entschluß, um diesen Tagelohn zu arbeiten, war in dem Augenblicke bei Reisern schon so gewiß, daß er innerlich lachen mußte, daß der Arbeiter, während er mit ihm sprach, die Mütze vor ihm abnahm und nicht wußte, daß sie vielleicht morgen Kameraden sein würden.

Das einzige, was seine Erbitterung und Selbsthaß und Selbstverachtung mildern konnte, war dieser Entschluß, worin er sich selbst wieder ehrte. Denn nun wollte er seinen wahren Zustand seinem Wirt entdecken, seinen Degen, sein Kleid ihm für die Bezahlung lassen und dann beim Schloßbau Steine zuführen.

Während nun dies in seinen Gedanken vorging, glaubte er selbst, es sei sein wahrer Ernst, und wußte nicht, daß seine Einbildungskraft ihn wieder täuschte und daß er schon wieder in Gedanken eine Rolle spielte.

Denn als Handlanger beim Schloßbau war er nun das Niedrigste, was er nur sein konnte; diese selbstgewählte freiwillige Niedrigkeit hatte einen außerordentlichen Reiz für ihn – er lebte nun wie die übrigen von seinem Stande, ging des Sonntags fleißig in die Kirche und war ein stiller religiöser Mensch – in einsamen Stunden ergötzte er sich denn mit Shakespeare und Homer und hatte dasjenige reelle Leben in sich, was er nicht außer sich haben konnte.

Besonders rührend war ihm bei dergleichen Vorstellungen immer der Gedanke, daß er am Sonntage fleißig in die Kirche gehen und dem Prediger recht aufmerksam zuhören würde. – Denn hierdurch vernichtete er gleichsam sich selbst, weil er alles, was auch der schlechteste Prediger ihm sagen würde, doch für sich noch sehr lehrreich hielt, und nicht klüger als der einfältigste Mensch sein wollte.

Er dachte sich nun wieder in dem Zustande, worin er als Hutmacherbursch gewesen war, wo er den Prediger, der ihm gefiel, wie ein Wesen höherer Art und selbst die Chorschüler auf der Straße mit Ehrfurcht betrachtete. Vom Theater durfte er in diesem Zustande kaum einen Begriff haben – und doch war es ihm wieder, als ob eben dieser Zustand auf eine wunderbare Weise ihn seinem ersten Wunsche vielleicht wieder näher bringen könnte.


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