Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Aber der Frühling und Sommer des Jahres 1775 verfloß ihm nun ganz poetisch. – Die angenehmen Shakespearenächte, welche er im Winter mit Philipp Reisern zugebracht hatte, wurden nun durch noch angenehmere Morgenspaziergänge verdrängt. –

Nicht weit von Hannover, wo der Fluß einen künstlichen Wasserfall bildet, ist ein kleines Gehölz, welches man nicht leicht irgendwo angenehmer und einladender finden kann. –

Hierher wurden Wallfahrten noch vor Sonnenaufgang angestellt – die beiden Wanderer nahmen sich ihr Frühstück mit, und wenn sie nun im Walde angelangt waren, so beraubten sie eine Menge Baumstämme ihres Mooses und bereiteten sich einen weichen Sitz, worauf sie sich lagerten und, wenn sie ihr Frühstück verzehrt hatten, sich einander wechselsweise vorlasen. – Hierzu wurden besonders Kleists Gedichte ausgewählt, die sie bei dieser Gelegenheit beinahe auswendig lernten.

Wenn sie dann am andern Tage wieder hinkamen, so suchten sie im ganzen Wäldchen erst ihren gestrigen Platz wieder und fanden sich nun hier wie zu Hause in der großen freien Natur, welches ihnen eine ganz besondere herzerhebende Empfindung war. – Alles in diesem großen Umkreise um sie her gehörte ihren Augen, ihren Ohren und ihrem Gefühl – das junge Grün der Bäume, der Gesang der Vögel und der kühle Morgenduft.

Wenn sie dann wieder heimkehrten, so ging Philipp Reiser in seine Werkstatt und machte Klaviere, indes Anton Reiser die Schule besuchte, wo nun größtenteils schon eine ganz andere Generation seiner Mitschüler war, so daß er auch hier mit leichterm Herzen hingehen konnte. –

In manchen Stunden suchte dann Anton Reiser auch seine geliebte Einsamkeit wieder, ob er nun gleich einen Freund hatte – und wenn irgendein schöner Nachmittag war, so hatte er sich auf einer Wiese vor Hannover längst dem Flusse ein Plätzchen ausgesucht, wo ein kleiner klarer Bach über Kiesel rollte, der sich zuletzt in den vorbeigehenden Fluß ergoß. – Dies Plätzchen war ihm nun, weil er es immer wieder besuchte, auch gleichsam eine Heimat in der großen ihn umgebenden Natur geworden; und er fühlte sich auch wie zu Hause, wenn er hier saß, und war doch durch keine Wände und Mauern eingeschränkt, sondern hatte den freien ungehemmten Genuß von allem, was ihn umgab. – Dies Plätzchen besuchte er nie, ohne seinen Horaz oder Virgil in der Tasche zu haben. – Hier las er Blandusiens Quell, und wie die eilende Flut

Obliquo laborat trepidare rivo.

Von hier sahe er die Sonne untergehen und betrachtete die sich verlängernden Schatten der Bäume. – An diesem Bache verträumte er manche glückliche Stunde seines Lebens. – Und hier besuchte ihn auch zuweilen die Muse, oder vielmehr, er suchte sie. – Denn er bemühte sich jetzt, ein großes Gedicht zustande zu bringen, und weil er diesmal bloß dichten wollte, um zu dichten, so gelang es ihm nicht wie vorher; der Wunsch, ein Gedicht zu machen, war diesmal eher bei ihm da als der Gegenstand, den er besingen wollte, woraus gemeiniglich nicht viel Gutes zu folgen pflegt. –

Die Gedanken waren diesmal gesucht oder gemein – man sahe, was er schrieb, hatte sollen ein Gedicht werden. – Indes schimmerte auch durch diese schlechten Verse allenthalben seine schwermütige Laune durch – jedes lachende und angenehme Bild war gleichsam mit einem Flor überzogen. – Die Blätter färbten sich nur mit jungem Grün, um wieder zu verwelken. – Der Himmel war nur heiter, um sich wieder zu trüben. –

Philipp Reiser erteilte diesem Gedichte seinen Beifall nicht; und doch hatte Anton Reiser bei jedem Reime, den er mühsam hersetzte, darauf gerechnet. – Aber sein Freund war ein strenger und unparteiischer Richter, der nicht leicht einen matten Gedanken, einen gesuchten Reim oder ein Flickwort ungeahndet ließ. – Besonders machte er sich über eine Stelle in Anton Reisers Gedicht lustig, die hieß:

So wechselt Lust und Schmerz im ganzen Leben ab,
Und selbst das Leben sinkt ins stille kühle Grab. –

Philipp Reiser konnte nicht aufhören, über diese Stelle, die er in einem komischen Tone deklamierte, seinen Witz spielen zu lassen. – Er nannte seinen Freund seinen lieben Hans Sachs – und machte ihm mehr dergleichen Lobsprüche, die eben nicht allzu aufmunternd waren. – Indes ließ er ihn doch nicht ganz sinken – sondern hob einige erträgliche Stellen aus dem Gedicht heraus, denen er denn seinen Beifall nicht ganz versagte. –

Durch eine solche wechselseitige Mitteilung und fruchtbare Kritik wurde nun das Band zwischen diesen beiden Freunden immer fester geknüpft, und Anton Reisers Streben, er mochte Verse oder Prosa niederschreiben, ging unablässig dahin, sich den Beifall seines Freundes zu erwerben. –

Damals ereignete sich nun ein Vorfall, der Anton Reisers Herzen eben nicht viel Ehre zu machen scheint, ob er gleichwohl in der Natur der menschlichen Seele gegründet ist. –

Der Sohn des Pastor Marquard, welcher während der Zeit die Universität bezogen hatte und von dort schwindsüchtig wieder zurückgekommen war, wurde, nachdem man alle möglichen Mittel vergeblich angewandt, von den Ärzten aufgegeben, die in diesem Frühjahr seinen Tod als gewiß prophezeiten; und Reisers erste Gedanken, da er dies hörte, waren, wie er auf diesen Vorfall ein Gedicht machen wollte, das ihm Ruhm und Beifall und auch vielleicht die Gunst des Pastor Marquard wieder zuwege brächte. Kurz, er hatte das Gedicht schon acht Tage vorher angefangen, ehe der junge Marquard starb. –

Statt nun daß er dies Gedicht hätte machen sollen, weil er über diesen Vorfall betrübt war, suchte er sich vielmehr selbst in eine Art von Betrübnis zu versetzen, um auf diesen Vorfall ein Gedicht machen zu können. – Die Dichtkunst machte ihn also diesmal wirklich zum Heuchler. –

Allein der junge Marquard hatte sich auch die letzte Zeit um Reisern eben nicht viel bekümmert und sich seiner gegen die Spöttereien und Beleidigungen seiner Mitschüler nicht angenommen – sondern, so wie es zuweilen kam, wohl selbst mit eingestimmt. – Daß Reisern also sein Gedicht auf den jungen Marquard mehr am Herzen lag als der junge Marquard selbst, war wohl sehr natürlich, obgleich es wieder nicht zu billigen war, daß er Empfindungen log, die er nicht hatte – er war auch dabei nicht ganz einig mit sich selber, sondern sein Gewisse machte ihm häufige Vorwürfe, die er denn dadurch übertäubte, daß er sich selbst zu überreden suchte, er empfinde wirklich eine solche Wehmut über den frühen Tod des jungen Marquard, der in der Blüte seiner Jahre allen Hoffnungen und Aussichten auf die Zukunft dieses Lebens entrissen ward. –

Weil nun dies Gedicht im Grunde Heuchelei war, so gelang es ihm auch wiederum nicht und erhielt auch den Beifall seines Freundes nicht, der fast an jeder Zeile etwas zu tadeln fand – auch der Pastor Marquard, dem er das Gedicht überreichen ließ, nahm keine besondere Rücksicht darauf, und er erreichte also seinen Zweck dadurch gar nicht. –


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