Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Auf diese Weise brachte er zwölf schreckliche Wochen seines Lebens zu, bis ihn endlich der Pastor Marquard durch die dritte Hand selbst wissen ließ, daß er sich seiner wieder annehmen wolle, sobald er sich zur ernstlichen Abbitte und Reue über sein Betragen bequemte.

Dies erweichte endlich sein Herz, da er überdem seines hartnäckigen Trotzes und des darauffolgenden langwierigen Elendes müde war. Er setzte sich hin und schrieb einen langen Brief an den Pastor Marquard, worin er sich selbst mit der größten Erbitterung gegen sich herabsetzte – sich als den unwürdigsten Menschen schilderte, den je die Sonne beschienen habe – – und sich kein besser Schicksal prophezeite, als daß er dereinst vor Armut und Dürftigkeit unter freiem Himmel das Ende seines Lebens finden würde – –

Kurz, dieser Brief war in den überspanntesten Ausdrücken der Selbstverachtung und Selbstherabwürdigung, die man sich nur denken kann, abgefaßt und war doch nichts weniger als Heuchelei. –

Reiser hielt sich wirklich damals für ein Ungeheuer von Bosheit und Undankbarkeit und schrieb den ganzen Brief an den Pastor Marquard mit einer Erbitterung gegen sich selbst nieder, wie sie vielleicht nur bei irgendeinem Menschen möglich ist – – er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen, sondern sich noch immer mehr anzuklagen. –

Indes sahe er doch so viel ein, daß die Wut, Romanen und Komödien zu lesen und zu sehen, die nächste Veranlassung seines gegenwärtigen Zustandes war – aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so notwendigen Bedürfnis geworden war – alle die Schmach und die Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen in eine idealische Welt verdrängt worden war – darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwürfe, als ihm vielleicht irgendein anderer würde gemacht haben – in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheuete sich. –

Die Beichte, welche er daher dem Pastor Marquard in dem an ihn gerichteten Briefe ablegte, war schrecklich und einzig in ihrer Art – so daß der Pastor Marquard erstaunte, da er sie las – denn vielleicht war ihm in seinem Leben nie so gebeichtet worden. –

Da Reiser diesen Brief abgegeben hatte, so wartete er nur darauf, wann er bei dem Pastor Marquard würde vorgelassen werden; und es wurde ihm ein Tag bestimmt, welchem er nun mit sonderbaren, vermischten Empfindungen von Furcht und Hoffnung und resignierter Verzweiflung entgegensahe. –

Er hatte sich dabei auf eine sehr theatralische Szene gefaßt gemacht, die ihm aber gänzlich mißlang. – Er wollte nämlich dem Pastor Marquard zu Füßen fallen und seinen ganzen Zorn auf sich herab erbitten. – Die ganze Anrede an ihn hatte er sich schon in seinen Gedanken entworfen, und nun trug er sich beständig mit dieser Idee herum, wo er ging und stund; bis zu dem Tage, wo er bei dem Pastor Marquard sollte vorgelassen werden. –

Allein während der Zeit ereignete sich für ihn ein höchst verdrießlicher Umstand. – Sein Vater hatte von seinem Zustande gehört und war nach Hannover herübergekommen, um Fürbitte für ihn einzulegen, welches Reisern deswegen höchst unangenehm war, weil er keiner fremden Fürsprache zu bedürfen glaubte, sondern sich selbst schon für fähig genug hielt, durch seine affektvolle Anrede, die er sich erlernt hatte, das Herz des Pastor Marquard zu rühren. –

Endlich erwachte er zu dem wichtigen Tage, wo er den Pastor Marquard sprechen sollte – – und seine Phantasie ging nun mit lauter großen Dingen schwanger – wie er voll Reue und Verzweiflung sich dem Pastor Marquard zu Füßen werfen – und dieser ihn dann gerührt aufheben – und ihm verzeihen würde. –

Und da er nun endlich in das Haus des Pastor Marquard kam und sich diesem so lange vorbereiteten Auftritte mit schauervoller Sehnsucht näherte; indem er draußen wartete, bis man ihn hereinrufen würde, kam endlich der Bediente heraus und sagte ihm, er solle nur hereinkommen, sein Vater sei schon bei dem Pastor Marquard.

Diese Nachricht war ein Donnerschlag für ihn – er stand eine Weile wie betäubt da – in dem Augenblick scheiterte sein ganzer Plan – er wollte den Pastor Marquard ohne Zeugen sprechen denn nur ohne Zeugen fühlte er sich imstande, die ganze Szene mit dem Niederknieen vor dem Pastor Marquard und der rührenden und pathetischen Anrede an ihn zu spielen. – In Gegenwart eines Dritten und vorzüglich in Gegenwart seines Vaters vor dem Pastor Marquard niederzuknieen, war ihm unmöglich. –

Er schickte den Bedienten wieder herein und ließ sagen, er müßte den Pastor Marquard notwendig allein sprechen. – Dies Gespräch wurde ihm abgeschlagen, und statt der glänzenden und rührenden Szene, die er zu spielen dachte, mußte er nun, indem er hereintrat, ohne ein einziges Wort von seiner ganzen längstentworfenen Anrede vorbringen zu können, durch die Gegenwart seines Vaters bis zur Verachtung gedemütigt, wie ein Missetäter dastehen. –

Es bemächtigte sich seiner hiebei ein Gefühl, das er in seinem Leben noch nicht gekannt hatte – seinen Vater neben sich in bittender Stellung vor dem Pastor Marquard stehen zu sehen, war ihm unerträglich – alles in der Welt hätte er darum gegeben, daß dieser in dem Augenblick hundert Meilen weit entfernt gewesen wäre. – Er fühlte sich in seinem Vater doppelt gedemütigt und beschämt – und dann kam der Verdruß dazu, daß ihm die ganze Fußfallszene mißlungen war – alles ging nun so kalt, so gemein, so gewöhnlich zu – – Reiser stand so unausgezeichnet wie ein ganz gemeiner, alltäglicher Bösewicht da, dem man über sein Betragen die verdienten Vorwürfe macht – und er wollte sich doch selbst als einen recht großen Bösewicht schildern und selbst die härteste Strafe für sein Verbrechen nun auf sich herab erbitten. –

Allein kein Zufall in seinem Leben fügte sich vielleicht mehr zu seinem wahren Vorteil als eben dieser. – Wäre es ihm diesmal mit der angelegten Szene gelungen, wer weiß, wozu er in der Folge noch geschritten, und was für Rollen er würde gespielt haben. – Vielleicht war dies eben der entscheidende Augenblick, wo sein Schicksal, ob er ein Heuchler und Spitzbube werden oder ein aufrichtiger und ehrlicher Mensch bleiben sollte, auf der Spitze stand. –

Die ganze Fußfallszene wäre doch im Grunde, obgleich nicht offenbare Heuchelei und Verstellung, doch wenigstens Affektation gewesen, und der Übergang von der Affektation zur Heuchelei und Verstellung, wie leicht ist der! –

Es war gewiß eine wahre Wohltat für Reisern, daß der Pastor Marquard alle die überspannten Ausdrücke in seinem Briefe keiner Aufmerksamkeit würdigte und, statt dadurch gerührt zu sein, sie lächerlich fand und sie für die unreife Geburt einer durch Romanen und Komödienlektüre erhitzten Phantasie erklärte; mit dem Beifügen, wenn Reiser wirklich so ein Bösewicht wäre, als er sich in dem Briefe geschildert hätte, so würde er sich nicht das mindeste mehr um ihn bekümmern, sondern ihn als ein Ungeheuer verabscheuen. –

Und statt sich nun weiter in Erklärungen einzulassen, daß ihm das Vergangene verziehen sein solle, wenn er künftig sich anders betrüge und dergleichen, kam der Pastor Marquard auf eine gar nicht empfindsame Art sogleich auf Reisers zerrissene Schuhe und Strümpfe und auf die Schulden, die er gemacht hatte, und wie diese nun bezahlt und seine zerrissenen Kleidungsstücke wieder hergestellt werden sollten. – Nicht einmal zu feierlicher Angelobung künftiger Besserung oder so etwas Rührendem ließ er Reisern kommen. – Sein ganzes Benehmen gegen ihn, ob er sich gleich seiner nun wieder annahm, war rauh und hart – aber eben dies rauhe und harte Betragen war es, was Reisern aus seinem Schlummer weckte und ihn aus seiner idealischen Romanen- und Komödienwelt wieder in die wirkliche Welt versetzte, insbesondere, da ihm sein Roman, den er mit dem Pastor Marquard zu spielen gedachte, mißlungen war und er doch nun auch wieder aus seinem schrecklichen Zustande durch keine leere Phantasie, ein Bauer zu werden und dergleichen, sondern wirklich herausgerissen werden sollte. –

Unzählige gute Vorsätze und Entschließungen drängten sich nun mit dieser Wendung seines Schicksals in seiner Seele wieder empor, die mißlungene Fußfallszene schmerzte ihn zwar noch immer; endlich aber söhnte er sich auch darüber mit dem Schicksal aus – und so fing nun eine neue Epoche seines Lebens an. –

Er zog von dem Bürstenbinder aus und wurde bei einem Schneider eingemietet, bei dem er in derselben Stube wohnen und auf dem Boden schlafen mußte. – Die Frau Filter und der Hofmusikus, welche in demselben Hause wohnten, nahmen sich seiner wieder an, indem sie ihm wöchentlich einmal zu essen gaben. – Die Frau Filter ließ ihn das kleine Mädchen, welches sie bei sich hatte, im Schreiben und im Katechismus unterrichten – er besuchte die Schule wieder regelmäßig, man schöpfte wieder neue Hoffnung von ihm – selbst der Prinz ließ ihn zu sich kommen und sprach ihn in Gegenwart des Pastor Marquard, der das Geld zu seiner Unterstützung vom Prinzen für ihn in Empfang nahm und damit seine Schulden tilgte.

So ging nun alles wieder so weit gut – und er fing nun an wieder fleißig zu sein – obgleich seine äußere Situation auch hier seinem Studieren eben nicht zu günstig war – denn in der Stube des Schneiders hatte er nichts wie sein angewiesenes Plätzchen, wo sein Klavier stand, das ihm zugleich zum Tische diente, und unter welchem er zugleich seine ganze Bibliothek in ein kleines Bücherbrett aufgestellt hatte. – Wenn er nun für sich las und arbeitete, so konnte er um sich her nicht Stille gebieten; und solange der Winter dauerte, war er doch genötigt, in der Stube seines Wirts zu bleiben – im Sommer zog er mit seinem Klavier und Büchern auf den Boden, wo er schlief und einsam und ungestört war. –


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