Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Reiser hatte sich bei Verfertigung dieser Rede ein Ideal in seinem Kopfe gebildet, das ihn wirklich begeisterte – wozu denn das kam, daß er von diesen Gegenständen öffentlich reden sollte. – Der Gedanke füllte gleichsam die Lücken aus, wo seine Begeisterung aufhörte oder ermattete. –

Da er aber nun freilich von seinem Gegenstande wenig oder gar nichts wußte, so bemühte er sich, eine Anzahl Lobreden, die auf den König und die Königin schon gehalten waren, in die Hände zu bekommen; diese las er durch und abstrahierte sich daraus sein Ideal, ohne sonst aus einer einzigen sich auch nur eines Ausdrucks zu bedienen – dies vermied er so sorgfältig, als er nur immer konnte; denn vor dem Plagiat hatte er die entsetzlichste Scheu – so daß er sich sogar des Ausdrucks am Schluß seiner Rede: ›daß Wald und Gebürg' es widerhallen‹, schämte, weil einmal in Werthers Leiden der Ausdruck steht: ›daß Wald und Gebürg' erklang‹ – ihm entschlüpften zwar oft Reminiszenzien, aber er schämte sich ihrer, sobald er sie bemerkte. –

An dem Tage nun, da er die Rede gehalten hatte, war er, wie ich schon bemerkt, niedergeschlagener wie jemals – denn alles war ihm doch so tot, so leer – und es war nun vorbei – womit seine Einbildungskraft sich so lange beschäftigt hatte. –

Den Nachmittag wurde er nebst den andern beiden, die Reden gehalten hatten, bei dem ersten Bürgermeister, der zugleich Scholarch war, zum Kaffee gebeten; dies war ihm eine ganz ungewohnte Ehre – er wußte sich nicht recht dabei zu nehmen – und wurde nicht eher wieder heiter, als bis er sein schönes Kleid ausgezogen hatte und des Abends wieder zu seinem Essigbrauer kam, wo Winter und S... und Philipp Reiser auch schon waren, die sich seines Glücks nun wirklich freuten, und deren Teilnehmung ihm mehr wert war als alle das Glänzende dieses Tages. –

Reiser erhielt nun noch mehr Unterrichtsstunden, wodurch sich seine Einnahme so verbesserte, daß er sich ein beßres Logis mieten, zuweilen einige seiner Mitschüler zum Kaffee bitten und für einen Primaner auf einen ganz ansehnlichen Fuß leben konnte – nun aber deuchte ihm das Geld, was er einnahm, gegen seine sonstigen Einkünfte und Bedürfnisse gehalten so viel, daß ihm die Kostbarkeit desselben und die Notwendigkeit des Zusammenhaltens auch nicht im mindesten einleuchtete – er wurde auf die Weise durch seine stärkere Einnahme ärmer, als er vorher war; und eben das, was eine Wirkung seines günstigen Glücks war, wurde in der Folge wieder die Quelle seines Unglücks. –

Da er nun aber die Achtung aller derer, die ihn kannten, und derer, von welchen sein Glück abhing, so plötzlich und so unerwartet wiedergewonnen hatte, so machte dies natürlicherweise einen Eindruck auf sein Gemüt, der ihn zu einem edlen Bestreben anspornte, diese Achtung immer mehr zu verdienen – er fing an, die Stunden des öffentlichen Unterrichts sorgfältiger wie jemals zu nutzen und vorzüglich durch Aufschreiben sich, soviel er nur konnte, davon zu eigen zu machen. –

Die Übungen im Deklamieren währten fort – und Reiser verfertigte zu diesem Endzweck noch ein Gedicht über die Mängel der Vernunft – ein Thema, das der Direktor zur Ausarbeitung aufgegeben hatte. – Reiser brachte hier alle seine Zweifel hinein, die er schon so lange mit sich herumgetragen hatte. – Die Begriffe Alles und Sein als die höchsten Begriffe des menschlichen Verstandes gnügten ihm nicht – sie schienen ihm eine enge und ängstliche Einschränkung zu sein – daß nun damit alles menschliche Denken aufhören sollte – ihm fielen die Worte des sterbenden alten Tischers ein – alles, alles, alles! – daß er gleichsam da, wo sich ein neues Dasein von dem alten scheidet, diesen höchsten Grenzbegriff so oft wiederholte – die Scheidewand sollte gleichsam durchgebrochen werden. – Alles und Dasein mußten wieder untergeordnete Begriffe von einem noch höhern, vielumfassendern Begriffe werden – alles, was ist – muß noch etwas neben sich leiden, etwas – das zugleich mit allem, was ist, unter etwas Höherem, etwas Erhabenerem begriffen wird – warum soll unser Denken die letzte Grenze sein? – wenn wir nichts Höheres sagen können als alles, was da ist, soll denn eine höhere und die höchste Denkkraft auch nichts Höheres sagen können? – Der sterbende Tischer wollte vielleicht mehr sagen, als er sein ›alles‹ zweimal wiederholte, aber seine Zunge oder seine Gedanken versagten ihm – und er starb. –

Dies waren die sonderbaren Ideen, die Reiser in sein Gedicht über die Mängel der Vernunft brachte, das unter andern die Worte enthielt:

Das All, das die Vernunft im kühnsten Flug erschwingt,
Wie weit ists noch von dem, wonach der Seraph ringt? –

Zuletzt endigte sich denn das Gedicht auf eine sehr orthodoxe Weise, daß man also doch zu dem Licht der Offenbarung am Ende seine Zuflucht nehmen müsse:

Ein Licht, das vor uns her durch dunkle Schatten geht
Und unsern Pfad erhellt – weh dem, der es verschmäht! –

Den Schluß billigte der Direktor sehr; das Ganze des Gedichts aber hielt er, wie auch sehr natürlich war, für unverständlich. –

Ein andermal arbeitete Reiser wieder ein Gedicht über die Zufriedenheit – gleichsam zu seiner eignen Belehrung oder zur eignen Richtschnur seines Lebens aus – nachdem er nun aber alle Beruhigungsgründe bei den Widerwärtigkeiten des Lebens durchgegangen war und sich gleichsam in eine sanfte Stille eingewiegt hatte, so erwachte doch am Ende wieder seine schwarze Melancholie – und er beschloß die Reihe der sanften Empfindungen, welche in diesem Gedicht ausgedrückt waren, doch am Ende mit folgenden Ausdrücken der Verzweiflung:

Doch machen ungemeßne Leiden
Dir hier dein Leben selbst zur Qual –
Und findest du dann keinen Retter
Und keinen End'ger deiner Not –
Sieh auf! – er kämmt im Donnerwetter –
O grüße, grüße deinen Tod!

Indem er einem solchen Gedanken nachhing, empfand er oft eine Art von qualenvoller Wonne, wenn es dergleichen geben kann. –

Dies Gedicht war gleichsam ein Gemälde aller seiner Empfindungen, die, wenn sie auch sanft und ruhig anhuben, sich doch gemeiniglich auf die Weise zu endigen pflegten. – Zu diesem Gange der Empfindungen war nun einmal durch alle die unzähligen Kränkungen und Demütigungen, die er von Jugend auf erlitten hatte, sein Gemüt gestimmt – bei der heitersten lachendsten Aussicht zog sich das schwarze Melancholische immer wieder wie eine Wolke vor seine Seele. –

Sobald sich auch sein Ausdruck dahin lenkte, wurde er natürlich und wahr. – Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für jemanden verliebte Klagen zu dichten. – Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte – indem er sein ganzes Äußre einmal für so wenig empfehlend hielt, daß er gänzlich Verzicht darauf getan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird – was er also hievon wußte, das dachte er sich bloß, ohne es je empfinden zu können. – Demohngeachtet gerieten ihm die verliebten Klagen, die er entwarf, nicht ganz übel, weil er das kurz darin zusammendrängte, was er aus Romanen und Philipp Reisers Unterredungen wußte. – Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande, wo er vom Überrest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen und konnte sich wieder in seine Stelle versetzen. – Der letzte Vers dieser verliebten Klagen schien ihm daher auch unter den Händen zu geraten. –

Im tiefsten, schwarzen Hain,
Wohin kein Wandrer kam,
Wo Todes Vögel schrein –
Am ausgehöhlten Stamm
Der Eiche will ich trostlos weinen,
So lange Stern' am Himmel scheinen,
Bis unter meiner Klagen Laut
Der Morgen taut. – –

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