Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Allein er war nun freilich zu spät zu der theatralischen Gesellschaft getreten, um eine Rolle, wie er sie sich wünschte, zu erhalten, welches ihn außerordentlich kränkte. – Indes freute es ihn doch wieder, daß er nur noch eine Rolle bekam, da er den Ersatz erhielt, daß ihm die Verfertigung eines Prologs zu dem Deserteur aus Kindesliebe aufgetragen wurde, welcher nebst dem Personenverzeichnis gedruckt werden sollte. –

Nun wartete man nur darauf, bis die ordentlichen Schauspieler wieder wegreisen würden, um alsdann ebenfalls auf dem großen Königlichen Operntheater zu spielen, wozu sich die Primaner selbst die Erlaubnis erbeten hatten – so daß diesmal diese dramatischen Übungen so glänzend wurden, wie sie noch niemals gewesen waren. – Die ganze Einrichtung war dabei den jungen Leuten selbst überlassen – und da nun Reiser mit von der Gesellschaft war, so nahm er doch auch an allen öffentlichen Beratschlagungen und Debatten teil – eine Sache, die er von altersher nie gewohnt gewesen war, und die ihm daher fremd vorkam – es war ihm ordentlich, als käme es ihm nicht recht zu, wenn man ihn auch mit in Betrachtung zog. –

Ob er nun gleich eben keine äußere Veranlassung dazu hatte, so war ihm doch die Einsamkeit noch immer lieb – und seine vergnügtesten Stunden waren, wenn er etwa eine Strecke vor das Tor hinaus nach einer Windmühle ging, wo ringsumher in einem kleinen Bezirk eine romantische Abwechselung von Hügeln und Tälern war, und wo er sich im Garten in einer Laube eine Schale Milch geben ließ und dabei las – oder in seine Schreibtafel schrieb. – Dies war schon vor mehrern Jahren einer seiner liebsten Spaziergänge, und er war auch oft mit Philipp Reisern da gewesen. –

Als Werthers Leiden erschienen, fiel ihm bei den reizenden Beschreibungen von Wahlheim sogleich diese Windmühle ein und die manchen süßen Stunden, welche er einsam da genossen hatte.

Dann war vor dem neuen Tore ein künstlich angelegtes, ganz kleines Wäldchen, worin so viele Krümmungen und sich durchschlängelnde Pfade angebracht waren, daß man das Wäldchen wenigstens für sechsmal so groß hielt, als es war, wenn man darin herumirrte – man hatte ringsumher die Aussicht auf eine grüne Wiese, wo in der Ferne hinter den einzelnen hohen Bäumen, unter denen Reiser so gern zu wandern pflegte, und hinter dem kleinen Gebüsch, wo er sich so oft gelagert hatte, der Fluß hervorschimmerte, mit dessen Ufern er ebenfalls, durch seine öftern Spaziergänge an demselben, unter so manchen verschiednen Situationen seines Lebens vertraut geworden war. – Oft wenn er am Ende dieses Wäldchens auf einer Bank saß und in die weite Gegend hinausschaute, stiegen alle die vergangnen Szenen seines Lebens, der Kummer und Sorgen, die er dort an so manchem schwülen Sommertage mit sich herumgetragen hatte, wieder vor ihm auf, und das Andenken daran versetzte ihn in eine stille Wehmut, der er mit Vergnügen nachhing. – Er konnte auch in der Ferne die Brücke sehn, die über den Bach ging, an dem er so manche Stunde gesessen und so manches gelesen und gedichtet hatte. – Weil nun das Wäldchen so nahe vor der Stadt war, so pflegte er oft des Abends im Mondschein hinauszugehn und auch wohl mitunter ein wenig zu ›siegwartisieren‹, ohne doch den Siegwart gelesen zu haben, der erst ein Jahr nachher erschien. –

Hier hatte er in dem vorigen Jahre, da er neunzehn Jahr alt war, an einem rauhen Septemberabend seinen Geburtstag gefeiert – und sich selber die heiligsten Gelübde getan, sein künftiges Leben besser als das vergangne zu nutzen. –

Auf diesen einsamen Spaziergängen verfertigte er denn auch seinen Prolog, der sich wie seine Rede mit ›welch ein‹ anfing; denn in das sanft klingende ›welch ein‹ hatte er sich ordentlich verliebt, es schien gleich eine solche Fülle von Ideen zu fassen und alles Folgende hineinzufügen – er konnte sich keinen vollklingendern Anfang denken und hub daher denn auch seinen Prolog an:

Welch eine Göttin geußt Entzücken
Ins Herz des Fühlenden?
Läßt mitleidsvoll vor seinen Blicken
Oft Szenen sanfter Freud' entstehn,
Und bildet ihre Haine schön
Sanfttraurender Melancholie?
Sie ists, des Himmels Phantasie –
Oft wandelt sie auf Blumenwegen
Mit ihm ins stille Tal hinab,
Zeigt ihm die Unschuld da in Hütten
Und Freuden, welche Gott ihr gab, usw.

Dieser Prolog wurde nun nebst dem Personenverzeichnis wie ein kleines Buch gedruckt, und auf dem Titel stand: ›verfaßt von Reiser, gesprochen von Iffland‹. – Reiser sah sich also aufs neue gedruckt, und was noch mehr war, so erhielt er von seinen Mitschülern den Auftrag, den Prinzen selbst zu der Komödie einzuladen, welches er denn mit dem Degen an der Seite und in seinem Galakleide, worin er die Rede gehalten hatte, tat. –

Die Noblesse und Honoratioren der Stadt wurden nun auch von den jungen Leuten selbst eingeladen, und Reiser erhielt hier wiederum Gelegenheit so wie damals, da er die Rede gehalten hatte, einen Teil der großen Welt in der Nähe zu sehen, den er vorher nur noch aus einer großen Entfernung angestaunt hatte – er sahe, daß die Minister, Grafen und Edelleute, mit denen er nun Gesicht gegen Gesicht sprach, nicht so erstaunlich von ihm verschiedene Wesen waren, sondern daß sie in ihren Äußerungen ebenso wie die gemeinsten Leute manchmal etwas Sonderbares und Komisches hatten, wodurch der Nimbus um sie verschwand, sobald man sie nur reden hörte und sich in der Nähe mit ihnen unterhielt. –

So glänzend nun Reisers Zustand schien, wenn er so über die Straße paradierte und in den ersten Häusern seine Cour machte, so war dieser Zustand doch im eigentlichen Verstande ein glänzendes Elend zu nennen – denn durch das schlechte Verhältnis seiner Ausgaben gegen seine Einkünfte wurden seine Umstände immer mißlicher, seine Lage immer ängstlicher. – Überdem drückte ihn das Einförmige seiner Lage, und daß er noch keine Aussicht vor sich sahe, die Universität mit Anstand zu beziehen – auch war ihm nun jener Beifall aus der ersten Hand, den ein Schauspieler einernten kann, so wichtig und so lieb geworden, daß sein Hang immer mehr nach dem Theater als nach der Universität war. –

Es war wirklich damals gerade die glänzendste Schauspielerepoche in Deutschland, und es war kein Wunder, daß die Idee, sich in eine so glänzende Laufbahn, wie die theatralische war, zu begeben, in den Köpfen mehrerer jungen Leute Funken schlug und ihre Phantasie erhitzte – das war denn damals auch der Fall bei der dramatischen Gesellschaft in Hannover – sie hatte gerade die vortrefflichsten Muster, einen Brockmann, Reineck, Schröder zu einem Zweck der Kunst vereinigt, täglich Lorbeern einernten sehen, und es war wirklich kein unrühmlicher Gedanke, solchen Mustern nachzueifern. –

Und um nun diesen Endzweck zu erreichen, brauchte man nicht erst drei Jahre auf der Universität studiert zu haben. – Dann kam bei Reisern die unwiderstehliche Begierde zum Reisen hinzu, welche sich seit der abenteuerlichen Wallfahrt nach Bremen seiner bemächtigt hatte – und der Gedanke, sich aus allen seinen bisherigen Verhältnissen, wo selbst das Beste ihm doch immer nur halb geglückt war, hinauszuversetzen und sein Glück in der weiten Welt zu suchen, fing allmählich an, bei ihm der herrschende zu werden – es war aber nur noch ein bloßes Spiel seiner Phantasie; er war noch nicht eigentlich entschlossen, die Sache selbst ins Werk zu richten. –

Während dieser Zeit besuchte ihn nun sein Vater in Hannover, den er jetzt zum ersten Male in seiner Stube, die mit sehr guten Möbeln versehen und schön austapeziert war, bewirten konnte. – Seinem Vater suchte er nun seine Lage von der angenehmsten und vorteilhaftesten Seite zu schildern und stellte ihm das Aufführen der Komödie als eine Sache vor, wodurch er nun sowohl wegen des gedruckten Prologs als auch, weil er den Prinz selbst dazu eingeladen hätte, wieder neue Aufmerksamkeit auf sich errege und sich ebenso wie durch die Rede an der Königin Geburtstage im auffallenden Lichte wieder zeigen könnte. –

Reisers Vater äußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfälle, wo einer sich öffentlich zu seinem Vorteil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z. B. bei der Rede an der Königin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten wären, den man verfolgen müsse, weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne. –

Reiser begleitete seinen Vater bei dessen Rückreise eine Stunde vor das Tor hinaus, und da sie nun an eben den Fleck kamen, wo ihm derselbe einst seinen Fluch gegeben hatte, so standen sie zufälligerweise still – es fiel Reisern nachher erst ein, daß dies derselbe Fleck war – sie hatten sich bis dahin über die wichtigsten und erhabensten Gegenstände, worin die Mystik und die Metaphysik zusammentreffen, unterredet, und nun schloß Reisers Vater einen Bund mit seinem Sohne, daß sie von nun an gemeinschaftlich jenem großen Ziele der Vereinigung mit dem höchsten denkenden Wesen näher zu kommen streben wollten; worauf er ihm denn auf eben dem Fleck durch Auflegung der Hand seinen Segen erteilte, wo er ihm ehemals seinen Fluch gab. –

Reiser kehrte also nun in einer sehr guten Stimmung wieder zu Hause – und blieb darin, bis nun wieder eine neue Rollenbesetzung von den Stücken, die außer dem Deserteur aus Kindesliebe noch aufgeführt werden sollten, seine Phantasie erregte und seine durch vernünftiges Nachdenken eingewiegten romanhaften Ideen wieder erweckte. –


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