Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Bei dem allen war ihm nun doch der Gedanke aufmunternd, daß er in der künftigen Woche die sogenannte hohe Schule zu besuchen anfangen sollte. Das war so lange sein sehnlichster Wunsch gewesen. Wie oft hatte er mit Ehrfurcht das große Schulgebäude mit der hohen steinernen Treppe vor demselben angestaunt, wenn er über den Marktkirchhof ging. – Stundenlang stand er oft, ob er etwa durch die Fenster etwas von dem, was inwendig vorging, erblicken könnte. Nun schimmerte von dem großen Katheder in Prima zufälligerweise ein Teil durch das Fenster – wie malte sich seine Phantasie das aus! Wie oft träumte ihm des Nachts von diesem Katheder und von langen Reihen von Bänken, wo die glücklichen Schüler der Weisheit saßen, in deren Gesellschaft er nun bald sollte aufgenommen werden.

So bestanden von seiner Kindheit auf seine eigentlichen Vergnügungen größtenteils in der Einbildungskraft, und er wurde dadurch einigermaßen für den Mangel der wirklichen Jugendfreuden, die andre in vollem Maße genießen, schadlos gehalten. – Dicht neben der Schule führten zwei lange Gänge nach den nebeneinander gebauten Priesterhäusern. Die machten ihm einen so ehrwürdigen Prospekt, daß das Bild davon nebst dem Schulgebäude Tag und Nacht das herrschende in seiner Seele war – und denn die Benennung ›hohe Schule‹, welche unter gemeinen Leuten im Gebrauch war, und der Ausdruck ›hohe Schüler‹, welchen er ebenfalls oft gehört hatte, machten, daß ihm seine Bestimmung, diese Schule zu besuchen, immer wichtiger und größer vorkam.

Der Zeitpunkt wo dies geschehen sollte, war nun da, und mit klopfendem Herzen erwartete er den Augenblick, wo ihn der Direktor Ballhorn in einen dieser Hörsäle der Weisheit führen würde. Er wurde von dem Direktor geprüft und tüchtig befunden, in die zweite Klasse gesetzt zu werden. Die mit einer natürlichen Würde verknüpfte Freundlichkeit, womit ihn dieser Mann zuerst mein lieber Reiser nannte, ging ihm durch die Seele und flößte ihm das innigste Zutrauen verbunden mit einer unbegrenzten Ehrfurcht gegen den Direktor ein. O, was vermag ein Schulmann über die Herzen junger Leute, wenn er gerade so wie der Direktor Ballhorn den rechten Ton einer durch Leutseligkeit gemilderten Würde in seinem Betragen zu treffen weiß!

Den Sonntag nach der Konfirmation ging nun Reiser zuerst zum Abendmahl und suchte nun aufs gewissenhafteste die Lehren in Ausübung zu bringen, welche er sich darüber aufgeschrieben und auswendig gelernt hatte, als die vorhergehende Prüfung nach dem Buß- und Sündenspiegel und dann das Hinzutreten zum Altar mit einem freudigen Zittern. – Er suchte sich auf alle Weise in eine solche Art von freudigen Zittern zu versetzen; es wollte ihm aber nicht gelingen, und er machte sich selbst die bittersten Vorwürfe darüber, daß sein Herz so verhärtet war. Endlich fing er vor Kälte an zu zittern, und dies beruhigte ihn einigermaßen.

Allein die himmlische Empfindung und das selige Gefühl, das ihm nun diese Seelenspeise gewähren sollte, alles das empfand er nicht – er schrieb aber die Schuld davon bloß seinem eigenen verstockten Herzen zu und quälte sich selbst über den Zustand der Gleichgültigkeit, worin er sich fühlte.

Am meisten schmerzte es ihn, daß er nicht recht zur Erkenntnis seines Sündenelendes kommen konnte, welches doch zur Heilsordnung nötig war. Auch hatte er den Tag vorher in einer auswendig gelernten Beichte im Beichtstuhl bekennen müssen, daß er leider viel und mannigfaltig gesündigt mit Gedanken, Worten und Werken, mit Unterlassung des Guten und Begehung des Bösen.

Die Sünden nun, deren er sich schuldig glaubte, waren vorzüglich Unterlassungssünden. Er betete nicht andächtig gnug, liebte Gott nicht eifrig gnug, fühlte nicht Dankbarkeit gnug gegen seine Wohltäter und empfand kein freudiges Zittern, da er zum Abendmahle ging. – Dies alles ging ihm nun nahe, aber er konnte es doch mit Zwang nicht abhelfen, darum war es ihm insofern recht lieb, daß ihm für diese Vergehungen von dem Pastor Marquard die Absolution erteilet wurde.

Dabei blieb er aber doch immer mit sich selber unzufrieden: denn zu der Gottseligkeit und Frömmigkeit rechnete er vorzüglich die Aufmerksamkeit auf jeden seiner Schritte und Tritte, auf jedes Lächeln und auf jede Miene, auf jedes Wort, das er sprach, und auf jeden Gedanken, den er dachte. – Diese Aufmerksamkeit mußte nun natürlicherweise sehr oft unterbrochen werden und konnte nicht wohl über eine Stunde in einem fortdauern – sobald nun Reiser seine Zerstreuung merkte, ward er unzufrieden mit sich selbst und hielt es am Ende beinahe für unmöglich, ein ordentlich gottseliges und frommes Leben zu führen.

Die Frau Filter hielt ihm an dem Tage, da er zum Abendmahl ging, eine lange Predigt über die bösen Lüste und Begierden, die in diesem Alter zu erwachen pflegten, und wogegen er nun kämpfen müsse. Zum Glück verstand Reiser nicht, was sie eigentlich damit meinte, und wagte es auch nicht, sich genauer darnach zu erkundigen, sondern nahm sich nur fest vor, wenn böse Lüste in ihm erwachen sollten, sie möchten auch sein von welcher Art sie wollten, ritterlich dagegen anzukämpfen.

Er hatte bei seinem Religionsunterricht auf dem Seminarium zwar schon von allerlei Sünden gehört, wovon er sich nie einen rechten Begriff machen konnte, als von Sodomiterei, stummen Sünden und dem Laster der Selbstbefleckung, welche alle bei der Erklärung des sechsten Gebots genannt wurden, und die er sich sogar aufgeschrieben hatte. Aber die Namen waren auch alles, was er davon wußte; denn zum Glück hatte der Inspektor diese Sünden mit so fürchterlichen Farben gemalt, daß sich Reiser schon vor der Vorstellung von diesen ungeheuren Sünden selbst fürchtete und mit seinen Gedanken in das Dunkel, welches sie umhüllte, nicht tiefer einzudringen wagte. – Überhaupt waren seine Begriffe von dem Ursprung des Menschen noch sehr dunkel und verworren, ob er gleich nicht mehr glaubte, daß der Storch die Kinder bringe. – Seine Gedanken waren gewiß damals rein; denn ein gewisses Gefühl von Scham, das ihm natürlich zu sein schien, war Ursach, daß er weder mit seinen Gedanken über dergleichen Gegenständen verweilte, noch sich mit seinen Mitschülern und Bekannten darüber zu unterreden wagte. Auch kamen ihm seine religiösen Begriffe von Sünde wohl hiebei zustatten. – Es war ihm fürchterlich genug, daß es wirklich dergleichen Laster, die er nur den Namen nach kannte, in der Welt gab, geschweige denn, daß er nur einen Gedanken hätte haben sollen, sie näher kennen zu lernen.

Am Montag morgen introduzierte ihn nun der Direktor Ballhorn in die zweite Klasse des Lyzeums, wo der Konrektor und der Kantor unterrichteten. – Der Konrektor war zugleich Prediger, und Reiser hatte ihn oft predigen hören. – Er war es eben, dessen Art, sich in seinem Priesterornat zu tragen, Reisern besonders gefiel, so daß er dieselbe mit einem gewissen Auf- und Niederbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen suchte. Auch war der Pastor Grupen, so hieß er, noch ein sehr junger, der Kantor hingegen war ein alter und etwas hypochondrischer Mann.

In der zweiten Klasse waren schon ziemlich erwachsene junge Leute, und Reiser bildete sich nicht wenig darauf ein, nun ein Sekundaner zu sein.

Die Lehrstunden nahmen ihren Anfang: der Konrektor lehrte die Theologie, die Geschichte, den lateinischen Stil und das griechische Neue Testament. – Der Kantor den Katechismus, die Geographie und die lateinische Grammatik. Des Morgens um sieben Uhr fingen die Stunden an und dauerten bis zehn, und des Nachmittags um ein Uhr fingen sie wieder an und dauerten bis um vier Uhr. – Hier mußte nun also Reiser nebst zwanzig bis dreißig andern jungen Leuten einen großen Teil seines damaligen Lebens zubringen. Es war also gewiß kein unwichtiger Umstand, wie diese Lehrstunden eingerichtet waren.

Alle Morgen früh wurde nach der vorgeschriebenen Ordnung zuerst ein Kapitel aus der Bibel gelesen, wie es jedesmal in der Reihe folgte, es mochte nun so lang oder kurz sein, wie es wollte. Darauf wurde denn nach einer gewissen Heilsordnung zweimal die Woche eine Art von Theologie doziert, worin z. B. die opera ad extra und die opera ad intra vorkamen, die vorzüglich eingeprägt wurden. Unter den erstern wurden nämlich die Werke verstanden, woran alle drei Personen in der Gottheit teilnahmen, als die Schöpfung, Erlösung usw., ob sie gleich einer Person vorzüglich zugeschrieben werden; und unter den letztern wurde das verstanden, wodurch sich eine Person von der andern unterschied, und was ihr nur ganz allein zukommt, als die Zeugung des Sohnes vom Vater, das Ausgehen des heiligen Geistes vom Vater und Sohn usw. Reiser hatte diese Unterschiede zwar schon auf dem Seminarium gelernet, aber es freute ihn doch sehr, daß er sie nun auch lateinisch zu benennen wußte. Die opera ad extra und die opera ad intra prägten sich ihm von dem theologischen Unterricht am tiefsten ein.

Zwei Stunden in der Woche trug der Konrektor eine Art von Universalgeschichte nach dem Holberg vor, und der Kantor lehrte die Geographie nach dem Hübner. Das war der ganze wissenschaftliche Unterricht. Alle übrige Zeit wurde auf die Erlernung der lateinischen Sprache verwandt. Diese war es denn auch allein, worin sich jemand Ruhm und Beifall erwerben konnte. Denn die Ordnung der Plätze richtete sich nur nach der Geschicklichkeit im Lateinischen.

Der Kantor hatte nun die Methode, daß er über eine Anzahl von Regeln aus der großen Märkischen Grammatik wöchentlich einen kleinen Aufsatz diktierte, der ins Lateinische übersetzt werden mußte, und wo die Ausdrücke so gewählt waren, daß immer gerade die jedesmaligen grammatikalischen Regeln darauf konnten angewandt werden. Wer nun auf die Erklärung derselben am besten achtgegeben hatte, der konnte auch sein sogenanntes Exerzitium am besten machen und sich dadurch zu einem höhern Platze hinaufarbeiten.


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