Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Die Brunnenzeit kam wieder heran, und Antons Vater beschloß, ihn wieder mit nach Pyrmont zu nehmen; allein diesmal sollte Anton nicht so viel Freude als im vorigen Jahre dort genießen, denn seine Mutter reiste mit.

Ihr unaufhörliches Verbieten von Kleinigkeiten und beständiges Schelten und Strafen zu unrechter Zeit verleidete ihm alle edlern Empfindungen, die er hier vor einem Jahr gehabt hatte; sein Gefühl für Lob und Beifall ward dadurch so sehr unterdrückt, daß er zuletzt beinahe seiner Natur zuwider eine Art von Vergnügen darin fand, sich mit den schmutzigsten Gassenbuben abzugeben und mit ihnen gemeine Sache zu machen, bloß weil er verzweifelte, sich je die Liebe und Achtung in Pyrmont wieder zu erwerben, die er durch seine Mutter einmal verloren hatte, welche nicht nur gegen seinen Vater, sooft er zu Hause kam, sondern auch gegen ganz fremde Leute beständig von nichts als von seiner schlechten Aufführung sprach, wodurch dieselbe denn wirklich anfing, schlecht zu werden und sein Herz sich zu verschlimmern schien. Er kam auch nun seltner in das von Fleischbeinsche Haus, und die Zeit seines diesmaligen Aufenthalts in Pyrmont strich für ihn höchst unangenehm und traurig vorüber, so daß er sich oft noch mit Wehmut an die Freuden des vorigen Jahres zurückerinnerte, ob er gleich diesmal nicht so viel Schmerzen an seinem Fuß auszustehn hatte, der nun, nachdem der schadhafte Knochen herausgenommen war, wieder an zu heilen fing.

Bald nach der Zurückkunft seiner Eltern in Hannover trat Anton in sein zwölftes Jahr, worin ihm wiederum sehr viele Veränderungen bevorstanden: denn noch in diesem Jahre sollte er von seinen Eltern getrennt werden. Fürs erste stand ihm eine große Freude bevor.

Antons Vater ließ ihn auf Zureden einiger Bekannten in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen, damit er wenigstens auf alle Fälle, wie es hieß, einen Kasum solle setzen lernen. In die übrigen Stunden der öffentlichen Schule aber, worin Religionsunterricht die Hauptsache war, wollte ihn sein Vater, zum größten Leidwesen seiner Mutter und Anverwandten, schlechterdings nicht schicken.

Nun war doch einer von Antons eifrigsten Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule gehen zu dürfen, zum Teil erfüllt.

Beim ersten Eintritt waren ihm schon die dicken Mauern, dunklen gewölbten Gemächer, hundertjährigen Bänke und vom Wurm durchlöcherten Katheder nichts wie Heiligtümer, die seine Seele mit Ehrfurcht erfüllten.

Der Konrektor, ein kleines muntres Männchen, flößte ihm, ohngeachtet seiner nicht sehr gravitätischen Miene, dennoch durch seinen schwarzen Rock und Stutzperücke einen tiefen Respekt ein.

Dieser Mann ging auch auf einen ziemlich freundschaftlichen Fuß mit seinen Schülern um: gewöhnlich nannte er zwar einen jeden Ihr, aber die vier öbersten, welche er auch im Scherz Veteraner hieß, wurden vorzugsweise Er genannt.

Ob er dabei gleich sehr strenge war, hat doch Anton niemals einen Vorwurf noch weniger einen Schlag von ihm bekommen: er glaubte daher auch in der Schule immer mehr Gerechtigkeit als bei seinen Eltern zu finden.

Er mußte nun anfangen, den Donat auswendig zu lernen; allein freilich hatte er einen wunderbaren Akzent, der sich bald zeigte, da er gleich in der zweiten Stunde sein Mensa auswendig hersagen mußte, und indem er Singulariter und Pluraliter sagte, immer den Ton auf die vorletzte Silbe legte, weil er sich beim Auswendiglernen dieses Pensums wegen der Ähnlichkeit dieser Wörter mit Amoriter, Jebusiter usw. fest einbildete, die Singulariter wären ein besonderes Volk, das Mensa, und die Pluraliter ein andres Volk, das Mensä gesagt hätte.

Wie oft mögen ähnliche Mißverständnisse veranlaßt werden, wenn der Lehrer sich mit den ersten Worten des Lehrlings begnügen läßt, ohne in den Begriff desselben einzudringen!

Nun ging es an das Auswendiglernen. Das amo, amem, amas, ames ward bald nach dem Takte hergebetet, und in den ersten sechs Wochen wußte er schon sein oportet auf den Fingern herzusagen; dabei wurden täglich Vokabeln auswendig gelernt, und weil ihm niemals eine fehlte, so schwang er sich in kurzer Zeit von einer Stufe zur andern empor und rückte immer näher an die Veteraner heran.

Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum ersten Male in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröffnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte.

Auch zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle Morgen, während daß seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen mußte, welches er sehr gern tat.

Es ward alsdann darüber gesprochen, und er durfte auch zuweilen sein Wort dazugeben. Übrigens genoß er das Glück, nicht viel zu Hause zu sein, weil er noch die Stunden seines alten Schreibmeisters zu gleicher Zeit besuchte, den er, ohngeachtet mancher Kopfstöße, die er von ihm bekommen hatte, so aufrichtig liebte, daß er alles für ihn aufgeopfert hätte.

Denn dieser Mann unterhielt sich mit ihm und seinen Mitschülern oft in freundschaftlichen und nützlichen Gesprächen, und weil er sonst von Natur ein ziemlich harter Mann zu sein schien, so hatte seine Freundlichkeit und Güte desto mehr Rührendes, das ihm die Herzen gewann.

So war nun Anton einmal auf einige Wochen in einer doppelten Lage glücklich: aber wie bald wurde diese Glückseligkeit zerstört! Damit er sich seines Glücks nicht überheben sollte, waren ihm fürs erste schon starke Demütigungen zubereitet.

Denn ob er nun gleich in Gesellschaft gesitteter Kinder unterrichtet ward, so ließ ihn doch seine Mutter die Dienste der niedrigsten Magd verrichten.

Er mußte Wasser tragen, Butter und Käse aus den Kramläden holen und wie ein Weib mit dem Korbe im Arm auf den Markt gehen, um Eßwaren einzukaufen.

Wie innig es ihn kränken mußte, wenn alsdann einer seiner glücklichern Mitschüler hämisch lächelnd vor ihm vorbeiging, darf ich nicht erst sagen.

Doch dies verschmerzte er noch gerne gegen das Glück, in eine lateinische Schule gehen zu dürfen, wo er nach zwei Monaten so weit gestiegen war, daß er nun an den Beschäftigungen des öbersten Tisches oder der sogenannten vier Veteraner mit teilnehmen konnte.

Um diese Zeit führte ihn auch sein Vater zum erstenmale zu einem äußerst merkwürdigen Manne in Hannover, der schon lange der Gegenstand seiner Gespräche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer und war hundertundfünf Jahre alt.

Er hatte Theologie studiert und war zuletzt Informator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in Hannover gewesen, in dessen Hause er noch lebte und von dem gegenwärtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen und jetzt selber schon beinahe ein Greis geworden war, seinen Unterhalt bekam.

Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, mußte beständig Tinte und Feder bei der Hand haben und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er denn sehr vernehmlich und deutlich mündlich beantwortete.

Dabei konnte er noch im hundertundfünften Jahre sein kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen und redete beständig sehr wahr und zusammenhängend, obgleich oft etwas leiser oder lauter, als nötig war, weil er sich selber nicht hören konnte.

Im Hause war er nicht anders als unter dem Namen ›der alte Mann‹ bekannt. Man brachte ihm sein Essen und sonstige Bequemlichkeiten; übrigens bekümmerte man sich nicht viel um ihn.

Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: »Komm, jetzt will ich dich zu einem Manne führen, in dem du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus und den Erzvater Abraham wiedererblicken wirst.«

Und indem sie hingingen, bereitete ihn sein Vater immer noch auf das, was er nun bald sehen würde, vor.

Sie traten ins Haus. Antons Herz pochte.

Sie gingen über einen langen Hof hinaus und stiegen eine kleine Windeltreppe hinauf, die sie in einen langen dunklen Gang führte, worauf sie wieder eine andre Treppe hinauf und dann wieder einige Stufen hinabstiegen; dies schienen Anton labyrinthische Gänge zu sein.

Endlich öffnete sich linker Hand eine kleine Aussicht, wo das Licht durch einige Fensterscheiben erst von einem andern Fenster hineinfiel.

Es war schon im Winter und die Türe auswendig mit Tuch behangen; Antons Vater eröffnete sie: es war in der Dämmerung, das Zimmer weitläufig und groß, mit dunkeln Tapeten ausgeziert, und in der Mitte an einem Tische, worauf Bücher hin und her zerstreut lagen, saß der Greis auf einem Lehnsessel.

Er kam ihnen mit entblößtem Haupt entgegen.

Das Alter hatte ihn nicht daniedergebückt, er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor. Sie setzten sich.


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