Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Selbst der Gedanke an seine eigne Zerstörung war ihm nicht nur angenehm, sondern verursachte ihm sogar eine Art von wollüstiger Empfindung, wenn er oft des Abends, ehe er einschlief, sich die Auflösung und das Auseinanderfallen seines Körpers lebhaft dachte.

Antons dreimonatlicher Aufenthalt in Pyrmont war ihm in vieler Rücksicht sehr vorteilhaft, weil er fast immer sich selbst überlassen war und das Glück hatte, diese kurze Zeit wieder von seinen Eltern entfernt zu sein, indem seine Mutter zu Hause geblieben war und sein Vater andre Geschäfte in Pyrmont hatte und sich nicht viel um ihn bekümmerte; doch aber sich hier, wenn er ihn zuweilen sahe, weit gütiger als zu Hause gegen ihn betrug.

Auch logierte mit Antons Vater in demselben Hause ein Engländer, der gut Deutsch sprach und sich mit Anton mehr abgab, wie irgendeiner vor ihm getan hatte, indem er anfing, ihn durch bloßes Sprechen Englisch zu lehren und sich über seine Progressen freute. Er unterredete sich mit ihm, ging mit ihm spazieren und konnte am Ende fast gar nicht mehr ohne ihn sein.

Dies war der erste Freund, den Anton auf Erden fand: mit Wehmut nahm er von ihm Abschied. Der Engländer drückte ihm bei seiner Abreise ein silbern Schaustück in die Hand, das sollte er ihm zum Andenken aufbewahren, bis er einmal nach England käme, wo ihm sein Haus offen stände: nach funfzehn Jahren kam Anton wirklich nach England und hatte noch sein Schaustück bei sich, aber der erste Freund seiner Jugend war tot.

Anton sollte einmal diesen Engländer gegen einen Fremden, der ihn besuchen wollte, verleugnen und sagen, er sei nicht zu Hause. Man konnte ihn auf keine Weise dazu bringen, weil er keine Lüge begehen wollte.

Dies wurde ihm damals sehr hoch angerechnet und war just einer der Fälle, wo er tugendhafter scheinen wollte, als er wirklich war, denn er hatte sich sonst eben aus einer Notlüge nicht so sehr viel gemacht; aber seinen wahren innern Kampf, wo er oft seine unschuldigsten Wünsche einem eingebildeten Mißfallen des göttlichen Wesens aufopferte, bemerkte niemand.

Indes war ihm das liebreiche Betragen, das man in Pyrmont gegen ihn bewies, sehr aufmunternd und erhob seinen niedergedrückten Geist ein wenig. Wegen seiner Schmerzen am Fuße bezeugte man ihm Mitleid, im von Fleischbeinschen Hause begegnete man ihm leutselig, und der Herr von Fleischbein küßte ihn auf die Stirne, sooft er ihm auf der Straße begegnete. Dergleichen Begegnungen waren ihm ganz etwas Ungewohntes und Rührendes, das seine Stirne wieder freier, sein Auge offner und seine Seele heitrer machte.

Er fing nun auch an, sich auf die Poesie zu legen, und besang, was er sah und hörte. Er hatte zwei Stiefbrüder, die beide in Pyrmont das Schneiderhandwerk lernten, und deren Meister ebenfalls Anhänger der Lehre des Herrn von Fleischbein waren. Von diesen nahm er in Versen, die er selbst gemacht und auswendig gelernt hatte, sehr rührend Abschied, sowie auch von dem von Fleischbeinschen Hause.

Freilich kehrte er nun nicht so wieder von Pyrmont zu Hause, wie er erwartet hatte, aber doch war er in dieser kurzen Zeit ein ganz andrer Mensch geworden und seine Ideenwelt um ein Großes bereichert.

Allein zu Hause wurden durch die erneuerte Zwietracht seiner Eltern, wozu vermutlich die Ankunft seiner beiden Stiefbrüder vieles beitrug, und durch das unaufhörliche Schelten und Toben seiner Mutter die guten Eindrücke, die er in Pyrmont und besonders in dem von Fleischbeinschen Hause erhalten hatte, bald wieder ausgelöscht, und er befand sich aufs neue in seiner vorigen gehässigen Lage, wodurch seine Seele ebenfalls finster und menschenfeindlich gemacht wurde.

Da Antons beide Stiefbrüder bald abreiseten, um ihre Wanderschaft anzutreten, so war auch der häusliche Friede eine Zeitlang wiederhergestellt, und Antons Vater las nun zuweilen selber anstatt aus der Madam Guion Schriften etwas aus dem Telemach vor oder erzählte ein Stück aus der ältern oder neuern Geschichte, worin er wirklich ziemlich bewandert war; denn neben seiner Musik, worin er es im Praktischen weit gebracht hatte, machte er beständig aus dem Lesen nützlicher Bücher ein eignes Studium, bis endlich die Guionschen Schriften alles übrige verdrängten.

Er redete daher auch eine Art von Büchersprache, und Anton erinnert sich noch sehr genau, wie er im siebenten oder achten Jahre oft sehr aufmerksam zuhörte, wann sein Vater sprach, und sich wunderte, daß er von allen den Wörtern, die sich auf ›heit‹ und ›keit‹ und ›ung‹ endigten, keine Silbe verstand, da er doch sonst, was gesprochen wurde, verstehen konnte.

Auch war Antons Vater außer dem Hause ein sehr umgänglicher Mann und konnte sich mit allerlei Leuten über allerlei Materien angenehm unterhalten. Vielleicht wäre auch alles im Ehestande besser gegangen, wenn Antons Mutter nicht das Unglück gehabt hätte, sich oft für beleidigt und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben und ein gewisses Mitleid mit sich selber zu empfinden, worin sie eine Art von Vergnügen fand.

Leider scheint sich diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen und ihm sein Anteil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sei der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden und sagen zu können, alle andren haben etwas und ich nichts bekommen!

Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten.

Oft konnte Anton stundenlag nachdenken und Gründe gegen Gründe auf das genaueste abwägen, ob eine Züchtigung von seinem Vater recht oder unrecht sei.

Jetzt genoß er in seinem elften Jahre zum ersten Male das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre.

Sein Vater war ein abgesagter Feind von allen Romanen und drohete ein solches Buch sogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es in seinem Hause fände. Demohngeachtet bekam Anton durch seine Base die schöne Banise, die Tausend und eine Nacht und die Insel Felsenburg in die Hände, die er nun heimlich und verstohlen, obgleich mit Bewußtsein seiner Mutter, in der Kammer las und gleichsam mit unersättlicher Begierde verschlang.

Dies waren einige der süßesten Stunden in seinem Leben. Sooft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines Vaters, ohne ihm selber das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, worin sie ehemals ein ebenso entzückendes Vergnügen gefunden hatte.

Die Erzählung von der Insel Felsenburg tat auf Anton eine sehr starke Wirkung; denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts Geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen und erst einen kleinen, denn immer größern Zirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dies erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Tiere, Pflanzen und leblose Kreaturen, kurz alles, was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseins hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt, umher bewegen, bis ihm schwindelte.

Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihm damals oft wonnevollre Stunden, als er je nachher wieder genossen hat.

So machte seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit. Wie oft, wenn er an einem trüben Tage bis zum Überdruß und Ekel in der Stube eingesperrt war und etwa ein Sonnenstrahl durch eine Fensterscheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm Vorstellungen vom Paradiese, vom Elysium oder von der Insel der Kalypso, die ihn ganze Stunden lang entzückten.

Aber von seinem zweiten und dritten Jahre an erinnert er sich auch der höllischen Qualen, die ihm die Märchen seiner Mutter und seiner Base im Wachen und im Schlafe machten: wenn er bald im Traume lauter Bekannte um sich her sahe, die ihn plötzlich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anbleckten, bald eine hohe düstre Stiege hinaufstieg und eine grauenvolle Gestalt ihm die Rückkehr verwehrte, oder gar der Teufel bald wie ein fleckigtes Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand ihm erschien.

Als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte, jagte ihm jede alte Frau Furcht und Entsetzen ein, so viel hörte er beständig von Hexen und Zaubereien; und wenn der Wind oft mit sonderbarem Getön durch die Hütte pfiff, so nannte seine Mutter dies im allegorischen Sinn den handlosen Mann, ohne weiter etwas dabei zu denken.

Allein sie würde es nicht getan haben, hätte sie gewußt, wie manche grauenvolle Stunde und wie manche schlaflose Nacht dieser handlose Mann ihrem Sohne noch lange nachher gemacht hat.

Insbesondre waren immer die letzten vier Wochen vor Weihnachten für Anton ein Fegefeuer, wogegen er gerne den mit Wachslichtern besteckten und mit übersilberten Äpfeln und Nüssen behängten Tannenbaum entbehrt hätte.

Da ging kein Tag hin, wo sich nicht ein sonderbares Getöse wie von Glocken oder ein Scharren vor der Türe oder eine dumpfte Stimme hätte hören lassen, die den sogenannten Ruprecht oder Vorgänger des heiligen Christs anzeigte, den Anton denn im ganzen Ernst für einen Geist oder ein übermenschliches Wesen hielt, und so ging auch diese ganze Zeit über keine Nacht hin, wo er nicht mit Schrecken und Angstschweiß vor der Stirne aus dem Schlaf erwachte.

Dies währte bis in sein achtes Jahr, wo erst sein Glaube an die Wirklichkeit des Ruprechts sowohl als des heiligen Christs an zu wanken fing.


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