Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Aber ohngeachtet seines genauen Umganges mit Reisern liebte er dennoch vorzüglich die einsamen Spaziergänge. – Nun war vor dem neuen Tore in Hannover der Gang auf der Wiese längst dem Flusse nach dem Wasserfall zu besonders einladend für seine romantischen Ideen.

Die feierliche Stille, welche in der Mittagsstunde auf dieser Wiese herrschte; die einzelnen hie und da zerstreuten hohen Eichbäume, welche mitten im Sonnenschein, so wie sie einsam standen, ihren Schatten auf das Grüne der Wiese hinwarfen – ein kleines Gebüsch, in welchem man versteckt das Rauschen des Wasserfalls in der Nähe hörte – am jenseitigen Ufer des Flusses der angenehme Wald, in welchem er mit Reisern des Morgens in der Frühe spazieren gegangen war – in der Ferne weidende Herden; und die Stadt mit ihren vier Türmen und dem umgebenden, mit Bäumen bepflanzten Walle, wie ein Bild in einem optischen Kasten. – Dies zusammengenommen versetzte ihn allemal in jene wunderbare Empfindung, die man hat, sooft es einem lebhaft wird, daß man in diesem Augenblicke nun gerade an diesem Orte und an keinem andern ist, daß dies nun unsere wirkliche Welt ist, an die wir so oft als an eine bloß idealische Sache denken. –

Es fällt einem ein, daß man sich bei der Lektüre von Romanen immer wunderbarere Vorstellungen von den Gegenden und Örtern gemacht hat, je weiter man sie sich entfernt dachte. Und nun denkt man sich mit allen großen und kleinen Gegenständen, die einen jetzt umgeben, z. B. in Vorstellung eines Einwohners von Peking – dem dies alles nun ebenso fremd, so wunderbar deuchten müßte – und die uns umgebende wirkliche Welt bekommt durch diese Idee einen ungewohnten Schimmer, der sie uns ebenso fremd und wunderbar darstellt, als ob wir in dem Augenblick tausend Meilen gereist wären, um diesen Anblick zu haben. – Das Gefühl der Ausdehnung und Einschränkung unsers Wesens drängt sich in einen Moment zusammen, und aus der vermischten Empfindung, welche dadurch erzeugt wird, entsteht eben die sonderbare Art von Wehmut, die sich unserer in solchen Augenblicken bemächtigt. –

Reiser fing schon damals an, über dergleichen Erscheinungen bei sich selber nachzudenken und zu untersuchen, wie die Gegenstände solche Eindrücke auf ihn machen könnten – allein die Eindrücke selbst waren noch zu lebhaft, als daß er kaltblütige Reflexionen darüber hätte anstellen können – auch war seine Denkkraft noch nicht geübt und nicht stark genug, sich die aufsteigenden Bilder der Phantasie gehörig unterzuordnen – dazu kam eine gewisse Trägheit und Hinsinken in der Behaglichkeit des Genusses, wodurch ebenfalls seine Reflexionen wieder gehemmt wurden. –

Demohngeachtet aber hatte er schon seit dem vorigen Sommer im Sinn gehabt, einen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften zu schreiben und diesen in das Hannoversche Magazin einrücken zu lassen – er sammlete hiezu beständig Ideen und hatte genug Gelegenheit, sie zu sammlen, weil seine eigene Erfahrung sie ihm täglich an die Hand gab. – Allein mit dem ganzen Aufsatze kam er doch nicht zustande.

Auch konnte er damals nicht begreifen, warum die einzelnen auf der Wiese hin und her zerstreuten hohen Bäume mit ihrem Schatten in der Mittagssonne einen so wunderbaren Eindruck auf ihn machten – er fiel nicht darauf, daß eben der einsame Stand derselben in großen und unregelmäßigen Zwischenräumen der Gegend das majestätische feierliche Ansehen gab, wodurch sein Herz immer so gerührt wurde. – Diese einsamen Bäume machten ihm seine eigne Einsamkeit, indem er unter ihnen umherwandelte, gleichsam heilig und ehrwürdig – sooft er unter diesen Bäumen ging, lenkten sich seine Gedanken auf erhabene Gegenstände, seine Schritte wurden langsamer, sein Haupt gesenkt und sein ganzes Wesen ernster und feierlicher – dann verlor er sich in dem naheliegenden niedrigen Gebüsch und setzte sich in den Schatten eines Gesträuchs, wo er denn beim Geräusch des nahen Wasserfalls sich entweder in angenehmen Phantasien wiegte oder las.

Es ging auf die Weise fast kein Tag hin, wo seine Phantasie nicht mit neuen Bildern aus der wirklichen sowohl als aus der idealischen Welt genährt worden wäre. –

Zu diesem allen kam nun noch, daß gerade in diesem Jahre die Leiden des jungen Werthers erschienen waren, welche nun zum Teil in alle seine damaligen Ideen und Empfindungen von Einsamkeit, Naturgenuß, patriarchalischer Lebensart, daß das Leben ein Traum sei usw., eingriffen. –

Er bekam sie im Anfange des Sommers durch Philipp Reisern in die Hände, und von der Zeit an blieben sie seine beständige Lektüre und kamen nicht aus seiner Tasche. – Alle die Empfindungen, die er an dem trüben Nachmittage auf seinem einsamen Spaziergange gehabt hatte, und welche das Gedicht an Philipp Reisern veranlaßten, wurden dadurch wieder lebhaft in seiner Seele. – Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften bringen wollte – seine Betrachtungen über Leben und Dasein fand er hier fortgesetzt – ›Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht?‹ – Das war eben der Gedanke, der ihm schon so lange seine eigne Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemalt hatte. –

Was aber nun die eigentlichen Leiden Werthers anbetraf, so hatte er dafür keinen rechten Sinn. – Die Teilnehmung an den Leiden der Liebe kostete ihm einigen Zwang – er mußte sich mit Gewalt in diese Situation zu versetzen suchen, wenn sie ihn rühren sollte – denn ein Mensch, der liebte und geliebt ward, schien ihm ein fremdes, ganz von ihm verschiedenes Wesen zu sein, weil es ihm unmöglich fiel, sich selbst jemals als einen Gegenstand der Liebe von einem Frauenzimmer zu denken. – Wenn Werther von seiner Liebe sprach, so war ihm nicht viel anders dabei, als wenn ihn Philipp Reiser von den allmählichen Fortschritten, die er in der Gunst seines Mädchens getan hatte, oft stundenlang unterhielt. –

Aber die allgemeinen Betrachtungen über Leben und Dasein, über das Gaukelspiel menschlicher Bestrebungen, über das zwecklose Gewühl auf Erden, die dem Papier lebendig eingehauchten echten Schilderungen einzelner Naturszenen und die Gedanken über Menschenschicksal und Menschenbestimmung waren es, welche vorzüglich Reisers Herz anzogen.

– Die Stelle, wo Werther das Leben mit einem Marionettenspiel vergleicht, wo die Puppen am Draht gezogen werden, und er selbst auf die Art mit spielt oder vielmehr mit gespielt wird, seinen Nachbar bei der hölzernen Hand ergreift und zurückschaudert – erweckte bei Reisern die Erinnerung an ein ähnliches Gefühl, das er oft gehabt hatte, wenn er jemanden die Hand gab. Durch die tägliche Gewohnheit vergißt man am Ende, daß man einen Körper hat, der ebensowohl allen Gesetzen der Zerstörung in der Körperwelt unterworfen ist als ein Stück Holz, das wir zersägen oder zerschneiden, und daß er sich nach eben den Gesetzen wie jede andere von Menschen zusammengesetzte körperliche Maschine bewegt. – Diese Zerstörbarkeit und Körperlichkeit unsers Körpers wird uns nur bei gewissen Anlässen lebhaft – und macht, daß wir vor uns selbst erschrecken, indem wir plötzlich fühlen, daß wir etwas zu sein glaubten, was wir wirklich nicht sind und statt dessen etwas sind, was wir zu sein uns fürchten. – Indem man nun einem andern die Hand gibt und bloß den Körper sieht und berührt, indem man von dessen Gedanken keine Vorstellung hat, so wird dadurch die Idee der Körperlichkeit lebhafter, als sie es bei der Betrachtung unseres eignen Körpers wird, den wir nicht so von den Gedanken, womit wir ihn uns vorstellen, trennen können und ihn also über diese Gedanken vergessen.

Nichts aber fühlte Reiser lebhafter, als wenn Werther erzählt, daß sein kaltes freudenloses Dasein neben Lotten in gräßlicher Kälte ihn anpackte. – Dies war gerade, was Reiser empfand, da er einmal auf der Straße sich selbst zu entfliehen wünschte und nicht konnte und auf einmal die ganze Last seines Daseins fühlte, mit der man einen und alle Tage aufstehen und sich niederlegen muß. – Der Gedanke wurde ihm damals ebenfalls unerträglich und führte ihn mit schnellen Schritten an den Fluß, wo er die unerträgliche Bürde dieses elenden Daseins abwerfen wollte – und wo seine Uhr auch noch nicht ausgelaufen war. –

Kurz, Reiser glaubte sich mit allen seinen Gedanken und Empfindungen bis auf den Punkt der Liebe im Werther wieder zu finden. – ›Laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern finden kannst.‹ – An diese Worte dachte er, sooft er das Buch aus der Tasche zog – – er glaubte sie auf sich vorzüglich passend. – Denn bei ihm war es, wie er glaubte, teils Geschick, teils eigne Schuld, daß er so verlassen in der Welt war; und so wie mit diesem Buche konnte er sich doch auch selbst mit seinem Freunde nicht unterhalten. –

Fast alle Tage ging er nun bei heiterm Wetter mit seinem Werther in der Tasche den Spaziergang auf der Wiese längst dem Flusse, wo die einzelnen Bäume standen, nach dem kleinen Gebüsch hin, wo er sich wie zu Hause fand und sich unter ein grünes Gesträuch setzte, das über ihm eine Art von Laube bildete – weil er nun denselben Platz immer wieder besuchte, so wurde er ihm fast so lieb wie das Plätzchen am Bache – und er lebte auf die Weise bei heiterm Wetter mehr in der offenen Natur als zu Hause, indem er zuweilen fast den ganzen Tag so zubrachte, daß er unter dem grünen Gesträuch den Werther und nachher am Bache den Virgil oder Horaz las. –


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