Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Das war ihm unmöglich zu glauben, daß er immer so, wie jetzt, würde verkannt und vernachlässiget werden. Gewissen romanhaften Ideen nach, die er sich in den Kopf gesetzt hatte, mußte es sich etwa einmal fügen, daß ein edler Mann, der auf der Straße ihm begegnete, etwas Auffallendes an ihm bemerkte und sich dann seiner annehme. – Eine gewisse schwermütige melancholische Miene, die er zu dem Ende annahm, glaubte er, würde am ersten diese Aufmerksamkeit erregen. – Darum affektierte er sie nun oft noch in höherm Grade, als sie ihm natürlich war. – Ja, oft war er schon beinahe im Begriff, wenn ihm die Physiognomie irgendeines vornehmen Mannes Zutrauen einflößte, ihn geradezu anzureden und ihm seine Umstände zu entdecken. – Der Gedanke schreckte ihn aber immer wieder zurück, daß ihn dieser vornehme Mann vielleicht für närrisch halten möchte.

Zuweilen sang er auch, wenn er auf der Straße ging, mit einer gewissen klagenden Stimme einige von den Liedern der Madam Guion, die er auswendig gelernt hatte, und worin er Anspielungen auf sein Schicksal zu finden glaubte; und dann dachte er, weil zuweilen in den Romanen durch ein solches klagendes Lied, das einer singt, Wunderdinge gewürkt werden, würde es auch ihm vielleicht gelingen, dadurch, daß er die Aufmerksamkeit irgendeines Menschenfreundes auf sich zöge, seinem Schicksal eine andere Wendung zu geben.

Für den Pastor Paulmann ging seine Ehrfurcht viel zu weit, als daß er es je hätte wagen sollen, ihn anzureden. – Wenn er nahe bei ihm stand, so überfiel ihn ein Schauder, als ob er sich in der Nähe eines Engels befände. –

Er konnte es sich entweder gar nicht denken oder suchte den Gedanken mit Fleiß zu vermeiden, daß dieser Pastor Paulmann wie andre Menschen aufstände und zu Bette ginge und alle natürliche Handlungen wie sie verrichtete. Sich ihn im Schlafrock und der Nachtmütze vorzustellen, war ihm ganz unmöglich – oder er flohe vielmehr vor diesem Gedanken, als wenn dadurch eine Lücke in seiner Seele wäre hervorgebracht worden. Besonders war ihm das Bild von der Nachtmütze ganz etwas Unausstehliches, sooft es ihm bei dem Pastor Paulmann einfiel; es war, als ob dadurch eine Disharmonie in alle seine übrigen Vorstellungen käme.

Nun fügte es sich aber einmal, daß Anton gerade in der Kirchtüre stand, als der Pastor Paulmann hereintrat und in plattdeutscher Sprache zu dem Küster sagte, daß sie nachher noch ein Kind zu taufen hätten.

Würkte je ein Kontrast lebhaft auf Antons Seele, so war es dieser – den Mann, welchen er sich nie anders als mit jenem feierlichen herzerschütternden Tone zu dem versammelten Volke redend gedacht hatte, zuerst plattdeutsch wie der simpelste Handwerksmann mit dem Küster über eine so feierliche Sache, als die Taufe war, sprechen zu hören; und das in einem Tone, der nichts weniger als feierlich war, und womit man einem sagen würde, er solle ja nicht vergessen, das Waschbecken zu bringen.

Durch diesen einzigen Vorfall wurde Antons Abgötterei gegen den Pastor Paulmann einigermaßen herabgestimmt. Er betete ihn etwas weniger an und liebte ihn desto mehr.

Indes hatte er sich sein Ideal von Glückseligkeit völlig von dem Pastor Paulmann abstrahiert. – Er konnte sich nichts Erhabeners und Reizenderes denken, als, wie der Pastor Paulmann, öffentlich vor dem Volke reden zu dürfen und alsdann so wie er manchmal gar die Stadt mit Namen anzureden. – Dies letzte hatte insbesondre für ihn etwas Großes und Pathetisches – so daß er sich oft ganze Tage über in seinen Gedanken beständig mit dieser Anrede beschäftigte – und sogar, wann er etwa, um Bier zu holen, über die Straßen ging und ein paar Jungen sich balgen sahe, nicht unterlassen konnte, im Geiste die Worte des Pastor Paulmann zu wiederholen und die ruchlose Stadt vor ihrem Verderben zu warnen, wobei er zugleich den Arm drohend in die Höhe hob. – Wo er ging und stand, harangierte er in Gedanken für sich selber, und wenn er dann in recht heftigen Affekt geriet, so hielt er die Predigt gegen den Meineid.

So schwebte er eine Zeitlang in diesen angenehmen Phantasien hin, die ihn das Wollekratzen in der kalten Stube, das Hütewaschen im Eise und den Mangel des Schlafs, wenn er oft mehrere Nächte hindurch wachen mußte, fast ganz vergessen ließen. – Die Stunden entflohen ihm zuweilen während der Arbeit wie Minuten, wenn es ihm gelang, sich in den Charakter eines öffentlichen Redners hinein zu phantasieren.

Allein, sei es nun, daß diese unnatürliche Überspannung seiner Seelenkräfte oder die für seine Jahre zu große Anstrengung seines Körpers zur Arbeit ihn zuletzt niederwerfen mußte – er ward gefährlich krank. Seine Pflege war nicht die beste. Er phantasierte im Fieber und lag oft ganze Tage lang allein, ohne daß sich jemand um ihn bekümmerte.

Endlich arbeitete doch seine gute Natur sich durch: er ward wiederhergestellt. – Eine gewisse Trägheit und Niedergeschlagenheit blieb aber demohngeachtet von dieser Krankheit zurück – und der menschenfreundliche Herr Lobenstein hätte ihm beinahe durch eine seiner sanften Ermahnungen ein tödliches Rezidiv verursacht.

Es war eines Abends in der Dämmerung, da Lobenstein in einem dunklen abgelegenen Gemache sich eines warmen Kräuterbades bediente, wobei ihm Anton zur Hand sein mußte. Da er nun in diesem Bade schwitzte und große Angst ausstund, so sagte er zu Anton mit einer Stimme, die ihm durch Mark und Beine drang: Anton! Anton! hüte dich vor der Hölle! – und dabei sah er starr in eine Ecke hin. –

Anton zitterte bei diesen Worten, ein plötzlicher Schauder lief ihm durch den ganzen Körper. Alle Schrecken des Todes überfielen ihn – denn er zweifelte nicht im geringsten, daß Lobenstein in diesem Augenblick eine Erscheinung gehabt habe, wodurch ihm Antons Tod angedeutet sei; und das habe ihn zu dem fürchterlichen Ausruf: Hüte, ach! hüte dich vor der Hölle! bewogen.

Lobenstein stieg nach diesem Ausruf plötzlich aus dem Bade, und Anton mußte ihn zu seiner Kammer leuchten. Mit bebenden Knien ging er vor ihm her: und Lobenstein schien ihm blasser als der Tod auszusehen, da er von ihm wegging.

Ist nun je mit wahrer Andacht und Heftigkeit zu Gott gebetet worden, so geschahe es itzt von Anton, sobald er allein war; er warf sich in einem Verschlag bei der Werkstätte nicht auf die Knie, sondern aufs Angesicht nieder und flehte zu Gott und bat ihn, wie ein Missetäter, über den schon der Stab gebrochen ist, um sein Leben – nur um eine Frist zur Bekehrung, wenn er ja sterben solle – denn ihm fiel ein, daß er mehr als zwanzigmal auf der Straße gelaufen, gesprungen und mutwillig gelacht hatte – und nun lagen alle die Qualen der Hölle auf ihm, welche er dafür ewig würde erdulden müssen. – Hüte, ach hüte dich vor der Hölle! gellte noch immer in seinen Ohren, als ob ein Geist aus dem Grabe ihm diese Worte zugerufen hätte – und er fuhr fort eine volle Stunde nacheinander zu beten und würde die ganze Nacht nicht aufgehört haben, wenn er keine Linderung seiner Angst verspürt hätte; – aber so wie seine Brust einen ängstlichen Seufzer nach dem andern ausstieß und endlich seine Tränen flossen, schien es ihm, als sei ihm von Gott Erhörung seiner Bitte gewährt – der nun lieber, wie dort bei den Niniviten, einen Propheten wolle zuschanden werden lassen, als daß er eine Seele verderben ließe. – Anton hatte sein Fieber weggebetet, worin er wahrscheinlich wieder zurückgefallen sein würde, wenn seine empörten Geister nicht diesen Ausweg gefunden hätten. – So heilt oft eine Schwärmerei, eine Tollheit die andere – die Teufel werden ausgetrieben durch Beelzebub.

Anton wurde nach dieser Ermattung durch einen ruhigen Schlaf erquickt und stand am andern Morgen wieder gesund auf – aber der Gedanke an den Tod erwachte wieder mit ihm – höchstens glaubte er, sei ihm eine kleine Frist zur Bekehrung gegeben, und nun müsse er sehr eilen, wenn er noch seine Seele retten wolle.

Das tat er denn auch, so sehr er konnte; er betete des Tages unzähligemal in einem Winkel auf seinen Knien und erträumete sich zuletzt dadurch eine feste Überzeugung von der göttlichen Gnade und eine solche Heiterkeit der Seele, daß er sich oft schon im Himmel glaubte und sich nun manchmal den Tod wünschte, ehe er wieder von diesem guten Wege abkommen möchte.

Aber es konnte nicht fehlen, daß bei allen diesen Ausschweifungen seiner Phantasie die Natur ihren Zeitpunkt wahrnahm, wo sie wieder zurückkehrte – und dann die natürliche Liebe zum Leben um des Lebens willen in Antons Seele wieder erwachte. – Dann war ihm freilich der Gedanke an seinen bevorstehenden Tod sehr etwas Trauriges und Unangenehmes, und er betrachtete diese Augenblicke als solche, wo er wieder aus der göttlichen Gnade gefallen sei, und geriet darüber in neue Angst, weil es ihm nicht möglich war, die Stimme der Natur in sich zu unterdrücken.

Jetzt empfand er doppelt alle die traurigen Folgen des Aberglaubens, der ihm von seiner frühesten Kindheit an eingeflößet war – seine Leiden konnte man im eigentlichen Verstande die Leiden der Einbildungskraft nennen – sie waren für ihn doch würkliche Leiden, sie raubten ihm die Freuden seiner Jugend. –

Von seiner Mutter wußte er, es sei ein sicheres Zeichen des nahen Todes, wenn einem beim Waschen die Hände nicht mehr rauchen – nun sahe er sich sterben, so oft er sich die Hände wusch. – Er hatte gehört, wenn ein Hund im Hause mit der Schnauze zur Erde gekehrt heule, so wittre er den Tod eines Menschen; – nun prophezeite ihm jedes Hundegeheul seinen Tod. – Wenn sogar ein Huhn wie ein Hahn krähete, so war das ein untrügliches Zeichen, daß bald jemand im Hause sterben würde – und nun ging hier gerade ein solches unglückweissagendes Huhn auf dem Hofe herum, welches beständig auf eine unnatürliche Weise wie ein Hahn krähte. – Für Anton klang keine Totenglocke so fürchterlich als dieses Krähen; und dieses Huhn hat ihm mehr trübe Stunden in seinem Leben gemacht als irgendeine Widerwärtigkeit, die er sonst erlitten hat.

Oft schöpfte er wieder Trost und Hoffnung zum Leben, wenn das Huhn einige Tage schwieg – sobald es sich dann wieder hören ließ, waren alle seine schönen Hoffnungen und Entwürfe plötzlich gescheitert.


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