Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Er bekam am Ende einen dicken Band nachgeschriebener Predigten zusammen, die er nun als einen großen Schatz betrachtete, und worunter ihm insbesondre zwei wahre Kleinodien zu sein schienen: die eine war von dem Pastor Uhle, der mit dem Pastor Paulmann wegen der Geschwindigkeit im Sprechen die meiste Ähnlichkeit hatte, in der Ägidienkirche gehalten und handelte vom jüngsten Gericht. – Mit wahrem Entzücken harangierte Anton diese Predigt oft seiner Mutter wieder vor, worin die Zerstörung der Elemente, das Krachen des Weltbaues, das Zittern und Zagen des Sünders, das fröhliche Erwachen der Frommen in einem Kontrast dargestellt wurde, der die Phantasie bis auf den höchsten Grad erhitzte – und dies war eben Antons Sache. Er liebte die kalten Vernunftpredigten nicht. Die zweite Predigt, welche er unter allen vorzüglich schätzte, war eine Abschiedspredigt des Pastors Lesemann, die er in der Kreuzkirche hielt, und worin derselbe fast vom Anfange bis zu Ende durch Tränen und Schluchzen unterbrochen wurde, so beliebt war er bei seiner Gemeine. Das rührende Pathos, womit diese Rede wirklich gehalten wurde, machte auf Antons Herz einen unauslöschlichen Eindruck, und er wünschte sich keine größre Glückseligkeit, als einmal auch vor einer solchen Menge von Menschen, die alle mit ihm weinten, eine solche Abschiedsrede halten zu können.

Bei so etwas war er in seinem Elemente und fand ein unaussprechliches Vergnügen an der wehmütigen Empfindung, worin er dadurch versetzt wurde. Niemand hat wohl mehr die Wonne der Tränen (the joy of grief) empfunden als er bei solchen Gelegenheiten. Eine solche Erschütterung der Seele durch eine solche Predigt war ihm mehr wert als aller andre Lebensgenuß, er hätte Schlaf und Nahrung darum gegeben.

Auch das Gefühl für die Freundschaft erhielt jetzt bei ihm neue Nahrung. Er liebte einige von seinen Lehrern im eigentlichen Verstande und empfand eine Sehnsucht nach ihrem Umgange – insbesondre äußerte sich seine Freundschaft gegen einen derselben namens R..., der dem äußern Anschein nach ein sehr harter und rauher Mann war, in der Tat aber das edelste Herz besaß, was nur bei einem künftigen Dorfschulmeister gefunden werden kann.

Bei diesem hatte Anton doch eine Privatstunde im Rechnen und Schreiben, welche sein Vater für ihn bezahlte – denn Rechnen und Schreiben war noch das einzige, welches dieser für Anton zu lernen der Mühe wert hielt. – R... ließ ihn denn bald, weil er schon orthographisch schrieb, eigne Ausarbeitungen machen, die seinen Beifall erhielten, welcher für Anton so schmeichelhaft war, daß er sich endlich erkühnte, diesem Lehrer sein Herz zu entdecken und so offenherzig und freimütig mit ihm zu sprechen, wie er lange mit niemandem hatte sprechen dürfen.

Er entdeckte ihm also seine unüberwindliche Neigung zum Studieren und die Härte seines Vaters, der ihn davon abhielte, und der ihn nichts als ein Handwerk wolle lernen lassen. Der rauhe R... schien über dies Zutrauen gerührt zu sein und sprach Anton Mut ein, sich dem Inspektor zu entdecken, der ihm vielleicht noch eher zu seinem Endzweck würde behülflich sein können. Das war nun eben der Inspektor, welcher zu Anton, da er beim Buchstabieren nicht vorschreien wollte, mit der verächtlichsten Miene »dummer Knabe!« gesagt hatte, welches er noch nicht vergessen konnte und also noch lange Bedenken trug, einem solchen Manne seine Neigung zum Studieren zu entdecken, der gezweifelt hatte, ob er auch buchstabieren könne.

Indes nahm die Achtung, worin sich Anton in dieser Schule setzte, von Tage zu Tage zu, und er erreichte seinen Wunsch, hier der erste zu sein und die meiste Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehn. Dies war freilich eine solche Nahrung für seine Eitelkeit, daß er sich oft schon im Geist als Prediger erblickte, insbesondere, wenn er schwarze Unterkleider trug – dann trat er mit einem gravitätischen Schritt und ernsthafter als sonst einher. –

Am Ende der Woche des Sonnabends wurde immer, nachdem vorher das Lied ›Bis hieher hat mich Gott gebracht‹ gesungen war, von einem der Schüler ein langes Gebet gelesen, – wenn dies an Anton kam, so war das ein wahres Fest für ihn – er dachte sich auf der Kanzel, wo er noch während der letzten Verse des Gesanges seine Gedanken sammelte und nun auf einmal wie der Pastor Paulmann mit aller Fülle der Beredsamkeit in ein brünstiges Gebet ausbrach. – Seine Deklamation bekam also für einen Schulknaben freilich zu viel Pathos, als daß dieses nicht hätte auffallend sein sollen. Der Lehrer ließ ihn also nur selten das Gebet lesen. –

Ja, es entstand zuletzt sogar eine Art von Neid gegen ihn bei den Lehrern. – Einer derselben stellte eine Übung an, wo eine von Hübners biblischen Historien von den Schülern mit eignen Worten mußte wiedererzählt werden. Anton schmückte diese Historie mit aller seiner Phantasie auf eine poetische Art aus und trug sie mit einer Art von rednerischem Schmuck wieder vor – das beleidigte den Lehrer, der am Ende die Bemerkung machte, Anton solle kürzer erzählen. Das künftigemal faßte er also die ganze Erzählung in ein paar Worte zusammen und war in zwei Minuten damit fertig. – Das war dem Lehrer wieder zu kurz und brachte ihn aufs neue auf – endlich ließ er ihn gar keine Historien mit eignen Worten mehr erzählen. – Des Nachmittags fürchteten sich die Lehrer, welche die Katechisation wiederholten, ihn zu fragen, weil er immer mehr als sie nachgeschrieben hatte – er konnte also gar nicht einmal mehr dazu kommen, seine Fähigkeiten zu zeigen, welches doch sein höchster Wunsch war, um Aufmerksamkeit auf sich zu erregen.

Voller Unwillen darüber, daß er immer ungefragt und stumm dasitzen mußte, ging er endlich einmal mit tränenden Augen zum Inspektor, der ihn in den Morgenstunden nun auch öfter gefragt hatte und sein Urteil über ihn geändert zu haben schien, – dieser fragte ihn, was ihm fehle, ob ihm etwa von einem seiner Mitschüler Unrecht geschehen sei, und Anton antwortete: nicht von seinen Mitschülern, sondern von seinen Lehrern sei ihm Unrecht geschehen, diese vernachlässigten ihn, und niemand fragte ihn mehr, wenn er gleich die Sache besser als andre wüßte. Hierin möchte man ihm doch Recht verschaffen!

Der Inspektor suchte ihm das auszureden und entschuldigte die Lehrer mit der Menge der Schüler, von der Zeit an aber fing er an, selbst aufmerksamer auf ihn zu werden, und fragte ihn des Morgens in der Frühstunde öfter als sonst.

In einer Stunde wöchentlich wurde eine Übung mit den Psalmen angestellt, wo ein jeder der Schüler sich Lehren herausziehn mußte; diese wurden auf ein Blatt Papier oder eine Rechentafel geschrieben und dann abgelesen, wobei mancher stark zu schwitzen pflegte. – Der Inspektor war dabei. Anton schrieb nichts auf. Als aber die Reihe an ihn kam, ging er den ganzen Psalm durch und hielt eine ordentliche Abhandlung oder Predigt darüber, die fast eine halbe Stunde dauerte, so daß der Inspektor selbst am Ende sagte: es sei nun genug; – er solle den Psalm nicht eigentlich erklären, sondern nur einige moralische Lehren herausziehen.

Auf die Weise ging beinahe ein Jahr hin, wo Anton so außerordentliche Fortschritte in seinem Fleiß tat und sich so untadelhaft betrug, daß er seinen Zweck, Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, im höchsten Grade erreichte, indem er sich sogar den Neid seiner Lehrer zuzog.

Nun stand er aber auch auf dem entscheidenden Punkte, wo er irgendeine Lebensart wählen sollte, und die Härte seines Vaters, der nun daran arbeitete, ihn bald loszuwerden, nahm von Tage zu Tage gegen ihn zu, so daß die Schule gleichsam ein sichrer Zufluchtsort für ihn vor der Bedrückung und Verfolgung zu Hause war.

Sein geliebter Lehrer R... wurde indes zu einem Dorfschulmeister befördert, und nun hatte er keinen eigentlichen Freund mehr unter seinen Lehrern. – Dieser riet ihm bei seinem Abschiede noch einmal, sich geradezu an den Inspektor zu wenden – und weil es nun ohnedem die höchste Zeit war, irgendeinen Entschluß zu fassen, so wagte er es eines Tages mit klopfendem Herzen, den Inspektor um Gehör zu bitten, weil er ihm etwas Wichtiges zu sagen habe. – Dieser nahm ihn mit auf seine Stube, und hier wurde Anton freimütiger, erzählte ihm seine Schicksale und entdeckte ihm sein ganzes Herz. – Der Inspektor schilderte ihm die Schwierigkeiten, die Kosten des Studierens, benahm ihm aber demohngeachtet nicht alle Hoffnung, sondern versprach, sich wo möglich für ihn zu verwenden, daß er unentgeltlich eine lateinische Schule besuchen könnte – indes war das alles sehr weit aussehend, weil er von seinen Eltern zu seiner Unterstützung gar nichts, nicht einmal Wohnung und Nahrung hoffen durfte, indem sein Vater noch sechs Meilen hinter Hannover eine kleine Bedienung erhalten hatte und also in kurzem ganz aus Hannover wegziehen mußte.

Indessen hatte der Inspektor mit dem Konsistorialrat Götten, unter dessen Direktion das Schulmeisterinstitut stand, Antons wegen geredet, und dieser ließ ihn zu sich kommen. – Der Anblick dieses ehrwürdigen Greises schlug zuerst Antons Mut darnieder, und seine Knie bebten, da er vor ihm stand – als ihn aber der Greis leutselig bei der Hand faßte und mit sanfter Stimme anredete, fing er an, freimütig zu sprechen und seine Neigung zum Studieren zu entdecken. – Der Konsistorialrat Götten ließ ihn darauf eine von Gellerts geistlichen Oden laut lesen, um zu hören, wie seine Ausrede und Stimme beschaffen sei, wenn er sich dereinst dem Predigtamt widmen wollte. – Darauf versprach er, ihm freien Unterricht zu verschaffen und ihn mit Büchern zu unterstützen; das sei aber auch alles, was er für ihn tun könne. – Anton war so voller Freuden über dieses Anerbieten, daß seine Dankbarkeit gar keine Grenzen hatte, und er nun alle Berge auf einmal überstiegen zu haben glaubte. Denn daß er außer freiem Unterricht und Büchern auch noch Nahrung, Wohnung und Kleider brauche, fiel ihm gar nicht ein.

Triumphierend eilte er nach Haus und verkündigte seinen Eltern sein Glück. – Aber wie sehr wurde seine Freude niedergeschlagen, da sein Vater ihm ganz kaltblütig sagte: er dürfe, wenn er studieren wolle, auf keinen Heller von ihm rechnen – wenn er sich also selbst Brot und Kleider zu verschaffen imstande sei, so habe er gegen sein Studieren weiter nichts einzuwenden. – In einigen Wochen würde er von Hannover wegreisen, und wenn Anton alsdann noch bei keinem Meister wäre, so möchte er sehen, wo er unterkäme und nach Gefallen abwarten, ob einer von den Leuten, die ihm das Studieren so eifrig anrieten, auch für seinen Lebensunterhalt sorgen würde.

Traurig und tiefsinnig ging Anton itzt umher und dachte seinem Schicksal nach. – Der Gedanke zu studieren war fest in seiner Seele, und sollten sich ihm auch noch weit mehr Schwierigkeiten in den Weg setzen – mancherlei Projekte durchkreuzten sich in seinem Kopfe. – Er erinnerte sich, gelesen zu haben, daß es einst in Griechenland einen lehrbegierigen Jüngling gab, der für seinen Unterhalt Holz haute und Wasser trug, um die Zeit, die ihm noch übrig blieb, dem Studieren widmen zu können. – Diesem Beispiele wollte er folgen und war oft schon willens, sich als Tagelöhner auf gewisse Stunden zu verdingen, um die übrige Zeit zu seinem freien Gebrauch zu haben – dann konnte er aber wieder die Schulstunden nicht ordentlich abwarten – so machte ihn alle sein Nachdenken und Überlegung immer nur noch tiefsinniger und unentschloßner. Indes rückte der entscheidende Zeitpunkt immer näher heran, wo er einen Entschluß fassen mußte. – Er sollte nun die Schule, die er bisher besucht hatte, verlassen, um noch eine Zeitlang in die Garnisonschule zu gehen, weil er von dem Garnisonprediger Marquard konfirmiert werden sollte, dessen Vorbereitungs- und Katechisationsstunden er itzt schon zu besuchen anfing, und der wegen seiner Antworten aufmerksam auf ihn geworden war. Allein er würde es von selbst nie gewagt haben, diesem Mann, zu welchem er zuerst gar kein Zutrauen fassen konnte, den Kummer seiner Seele zu entdecken.

Da sich nun für Anton keine solide Aussicht zum Studieren eröffnen wollte, so würde er doch am Ende wahrscheinlich den Entschluß haben fassen müssen, irgendein Handwerk zu lernen, wenn nicht wider Vermuten ein sehr geringfügig scheinender Umstand seinem Schicksal in seinem ganzen künftigen Leben eine andre Wendung gegeben hätte. –



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