Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Alle diese Veränderungen gingen mit ihm vom neunten bis zum zehnten Jahre vor. Während dieser Zeit nahm ihn auch sein Vater wegen des Schadens am Fuße mit nach dem Gesundbrunnen in Pyrmont. Wie freute er sich nun, den Herrn von Fleischbein persönlich kennen zu lernen, von dem sein Vater beständig mit solcher Ehrfurcht wie von einem übermenschlichen Wesen geredet hatte, und wie freute er sich, dort von seinen großen Fortschritten in der innern Gottseligkeit Rechenschaft ablegen zu können: seine Einbildungskraft malte ihm dort eine Art von Tempel, worin er auch als Priester eingeweiht und als ein solcher zur Verwunderung aller, die ihn kannten, zurückkehren würde.

Er machte nun mit seinem Vater die erste Reise, und während derselben war dieser auch etwas gütiger gegen ihn und gab sich mehr mit ihm ab als zu Hause. Anton sahe hier die Natur in unaussprechlicher Schönheit. Die Berge rund umher in der Ferne und in der Nähe und die lieblichen Täler entzückten seine Seele und schmolzen sie in Wehmut, die teils aus der Erwartung der großen Dinge entstand, die hier mit ihm vorgehen sollten.

Der erste Gang mit seinem Vater war in das Haus des Herrn von Fleischbein, wo dieser den Verwalter, Herrn H., zuerst sprach, ihn umarmte und küßte und auf das freundschaftlichste von ihm bewillkommt wurde.

Ohngeachtet der großen Schmerzen, die Anton durch die Reise an seinem Fuße empfand, war er doch beim Eintritt in das Haus des Herrn von Fleischbein vor Freuden außer sich. Anton blieb diesen Tag in der Stube des Herrn H., mit dem er künftig alle Abend speisen mußte. Übrigens bekümmerte man sich doch im Hause lange nicht so viel um ihn, wie er erwartet hatte.

Seine Übungen im innern Gebet setzte er nun sehr fleißig fort; allein es konnte denn freilich nicht fehlen, daß sie nicht zuweilen eine sehr kindische Wendung nehmen mußten. Hinter dem Hause, wo sein Vater in Pyrmont logierte, war ein großer Baumgarten: hier fand er zufälligerweise einen Schiebkarren und machte sich das Vergnügen, damit im ganzen Garten herumzuschieben.

Um dies nun aber zu rechtfertigen, weil er anfing, es für Sünde zu halten, bildete er sich eine ganz sonderbare Grille. Er hatte nämlich in den Guionschen Schriften und anderwärts viel von dem Jesulein gelesen, von welchem gesagt wurde, daß es allenthalben sei und man beständig und an allen Orten mit ihm umgehen könne.

Das Diminutivum machte, daß er sich einen Knaben, noch etwas kleiner wie er, darunter vorstellte, und da er nun mit Gott selber schon so vertraut umging, warum nicht noch viel mehr mit diesem seinen Sohne, dem er zutraute, daß er sich nicht weigern werde, mit ihm zu spielen, und also auch nichts dawider haben werde, wenn er ihn ein wenig auf den Schiebkarren herumfahren wollte.

Nun schätzte er es sich aber doch für ein sehr großes Glück, eine so hohe Person auf den Schiebkarren herumfahren zu können und ihr dadurch ein Vergnügen zu machen; und da diese Person nun ein Geschöpf seiner Einbildungskraft war, so machte er auch mit ihr, was er wollte, und ließ sie oft kürzer, oft länger an dem Fahren Gefallen finden, sagte auch wohl zuweilen mit der größten Ehrerbietigkeit, wenn er vom Fahren müde war: so gern ich wollte, ist es mir doch jetzt unmöglich, dich noch länger zu fahren.

So sahe er dies am Ende für eine Art von Gottesdienst an und hielt es nun für keine Sünde mehr, wenn er sich auch halbe Tage mit dem Schiebkarren beschäftigte.

Nun aber bekam er selbst mit Bewilligung des Herrn von Fleischbein ein Buch in die Hand, das ihn wieder in eine ganz andre und neue Welt führte. Es war die Acerra philologika. Hier las er nun die Geschichte von Troja, vom Ulysses, von der Circe, vom Tartarus und Elysium und war sehr bald mit allen Göttern und Göttinnen des Heidentums bekannt. Bald darauf gab man ihm auch den Telemach ebenfalls mit Bewilligung des Herrn von Fleischbein zu lesen, vielleicht weil der Verfasser desselben, Herr von Fénelon, mit der Madam Guion Umgang hatte.

Die Acerra philologika war ihm zur Lektüre des Telemach eine schöne Vorbereitung gewesen, weil er dadurch mit der Götterlehre ziemlich bekannt geworden war und sich schon für die meisten Helden interessierte, die er im Telemach wiederfand.

Diese Bücher wurden verschiedne Male nacheinander mit der größten Begierde und mit wahrem Entzücken von ihm durchgelesen, insbesondere der Telemach, worin er zum ersten Male die Reize einer schönen zusammenhängenden Erzählung schmeckte.

Die Stelle, welche ihn im ganzen Telemach am lebhaftesten gerührt hat, war die rührende Anrede des alten Mentors an den jungen Telemach, als dieser auf der Insel Cypern die Tugend mit dem Laster zu vertauschen im Begriff war, und ihm nun sein getreuer, lange von ihm für verloren gehaltener Mentor plötzlich wieder erschien, dessen traurender Anblick ihn bis in das Innerste seiner Seele erschütterte.

Dies hatte nun freilich für Antons Seele weit mehr Anziehendes als die biblische Geschichte und alles, was er vorher in dem Leben der Altväter oder in den Guionschen Schriften gelesen hatte; und da ihm nie eigentlich gesagt worden war, daß jenes wahr und dieses falsch sei, so fand er sich gar nicht ungeneigt, die heidnische Göttergeschichte mit allem, was da hineinschlug, wirklich zu glauben.

Ebensowenig konnte er aber auch, was in der Bibel stand, verwerfen; um soviel mehr, da dies die ersten Eindrücke auf seine Seele gewesen waren. Er suchte also, welches ihm allein übrigblieb, die verschiedenen Systeme, so gut er konnte, in seinem Kopfe zu vereinigen und auf diese Weise die Bibel mit dem Telemach, das Leben der Altväter mit der Acerra philologika und die heidnische Welt mit der christlichen zusammenzuschmelzen.

Die erste Person in der Gottheit und Jupiter, Kalypso und die Madam Guion, der Himmel und Elysium, die Hölle und der Tartarus, Pluto und der Teufel machten bei ihm die sonderbarste Ideenkombination, die wohl je in einem menschlichen Gehirn mag existiert haben.

Dies machte einen so starken Eindruck auf sein Gemüt, daß er noch lange nachher eine gewisse Ehrfurcht gegen die heidnischen Gottheiten behalten hat.

Von dem Hause, wo Antons Vater logierte, bis nach dem Gesundbrunnen und der Allee dabei war ein ziemlich weiter Weg. Anton schleppte sich demohngeachtet mit seinem schmerzenden Fuße, das Buch unterm Arm, hinaus und setzte sich auf eine Bank in der Allee, wo er im Lesen nach und nach seinen Schmerz vergaß und bald nicht nur auf der Bank in Pyrmont, sondern auf irgendeiner Insel mit hohen Schlössern und Türmen oder mitten im wilden Kriegsgetümmel sich befand.

Mit einer Art von wehmütiger Freude las er nun, wenn Helden fielen, es schmerzte ihn zwar, aber doch deuchte ihn, sie mußten fallen.

Dies mochte auch wohl einen großen Einfluß auf seine kindischen Spiele haben. Ein Fleck voll hochgewachsener Nesseln oder Disteln waren ihm so viele feindliche Köpfe, unter denen er manchmal grausam wütete und sie mit seinem Stabe einen nach dem andern herunterhieb.

Wenn er auf der Wiese ging, so machte er eine Scheidung und ließ in seinen Gedanken zwei Heere gelber oder weißer Blumen gegeneinander anrücken. Den größten unter ihnen gab er Namen von seinen Helden, und eine benannte er auch wohl von sich selber. Dann stellte er eine Art von blinden Fatum vor, und mit zugemachten Augen hieb er mit seinem Stabe, wohin er traf.

Wenn er dann seine Augen wieder eröffnete, so sah er die schreckliche Zerstörung, hier lag ein Held und dort einer auf den Boden hingestreckt, und oft erblickte er mit einer sonderbaren wehmütigen und doch angenehmen Empfindung sich selbst unter den Gefallenen.

Er betrauerte dann eine Weile seine Helden und verließ das fürchterliche Schlachtfeld. Zu Hause, nicht weit von der Wohnung seiner Eltern, war ein Kirchhof, auf welchem er eine ganze Generation von Blumen und Pflanzen mit eisernem Zepter beherrschte und keinen Tag hingehen ließ, wo er nicht mit ihnen eine Art von Musterung hielt.

Als er von Pyrmont wieder nach Hause gereist war, schnitzte er sich alle Helden aus dem Telemach von Papier, bemalte sie nach den Kupferstichen mit Helm und Panzer und ließ sie einige Tage lang in Schlachtordnung stehen, bis er endlich ihr Schicksal entschied und mit grausamen Messerhieben unter ihnen wütete, diesem den Helm, jenem den Schädel zerspaltete und rund um sich her nichts als Tod und Verderben sahe.

So liefen alle seine Spiele, auch mit Kirsch- und Pflaumkernen, auf Verderben und Zerstörung hinaus. Auch über diese mußte ein blindes Schicksal walten, indem er zwei verschiedne Arten als Heere gegeneinander anrücken und nun mit zugemachten Augen den eisernen Hammer auf sie herabfallen ließ, und wen es traf, den traf's.

Wenn er Fliegen mit der Klappe totschlug, so tat er dieses mit einer Art von Feierlichkeit, indem er einer jeden mit einem Stücke Messing, das er in der Hand hatte, vorher die Totenglocke läutete. Das allergrößte Vergnügen machte es ihm, wenn er eine aus kleinen papiernen Häusern erbauete Stadt verbrennen und dann nachher mit feierlichem Ernst und Wehmut den zurückgebliebenen Aschenhaufen betrachten konnte.

Ja, als in der Stadt, wo seine Eltern wohnten, einmal wirklich in der Nacht ein Haus abbrannte, so empfand er bei allem Schreck eine Art von geheimen Wunsche, daß das Feuer nicht so bald gelöscht werden möchte.

Dieser Wunsch hatte nichts weniger als Schadenfreude zum Grunde, sondern entstand aus einer dunklen Ahndung von großen Veränderungen, Auswanderungen und Revolutionen, wo alle Dinge eine ganz andre Gestalt bekommen und die bisherige Einförmigkeit aufhören würde.


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