Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Wenn er dann auf den Straßen, die an den Wall grenzten, in den Häusern Licht angesteckt sahe und sich nun dachte, daß in jeder erleuchteten Stube, deren in einem Hause oft so viele waren, eine Familie oder sonst eine Gesellschaft von Menschen oder ein einzelner Mensch lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augenblick die Schicksale und das Leben und die Gedanken eines solchen Menschen oder einer solchen Gesellschaft von Menschen in sich faßte, und daß er auch nun nach dem vollendeten Spaziergange in eine solche Stube wieder zurückkehren würde, wo er gleichsam hingebannt und wo der eigentliche Fleck seines Daseins wäre, so brachte dies bei ihm zuerst eine sonderbare demütigende Empfindung hervor, als sei nun sein Schicksal unter diesen unendlichen verwirrten Haufen sich einander durchkreuzender menschlicher Schicksale gleichsam verloren und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht. – Dann erhoben aber auch eben diese Lichter in den einzelnen Stuben in den Häusern am Walle zuweilen seinen Geist wieder, wenn er einen Überblick des Ganzen daraus schöpfte und sich aus seiner eigenen kleinen einengenden Sphäre, wodurch er sich unter allen diesen im Leben unbemerkten und unausgezeichneten Bewohnern der Erde mitverlor, herausdachte und sich ein besonderes ausgezeichnetes Schicksal prophezeite, wovon die süße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwärts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Mut belebte.

Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksalen er ebensowenig als sie von den seinigen wußte, hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt – die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich.

Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer.

Sich in das ganze Sein und Wesen eines andern hineindenken zu können, war oft sein Wunsch – wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen herging – so wurde ihm der Gedanke der Fremdheit dieses Menschen, der gänzlichen Unbewußtheit des einen von dem Namen und Schicksalen des andern so lebhaft, daß er sich, so dicht es der Wohlstand erlaubte, an einen solchen Menschen andrängte, um auf einen Augenblick in seine Atmosphäre zu kommen und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durchdringen könnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den seinigen trennte. –

Noch eine Empfindung aus den Jahren seiner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich, hier herangezogen zu werden – er dachte sich damals zuweilen, wenn er andere Eltern als die seinigen hätte und die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ihm ganz gleichgültig wären. – – Über den Gedanken vergoß er oft kindische Tränen – seine Eltern mochten sein, wie sie wollten, so waren sie ihm doch die liebsten – und er hätte sie nicht gegen die vornehmsten und gütigsten vertauscht. – Aber zugleich kam ihm auch schon damals das sonderbare Gefühl von dem Verlieren unter der Menge, und daß es noch so unzählig viele Eltern mit Kindern außer den seinigen gab, worunter sich diese wieder verloren – –

Sooft er sich nachher in einem Gedränge von Menschen befunden hat, ist eben dies Gefühl der Kleinheit, Einzelnheit und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm erwacht. – – Wieviel ist des mir gleichen Stoffes hier! welch eine Menge von dieser Menschenmasse, aus welcher Staaten und Kriegsheere, so wie aus Baumstämmen Häuser und Türme gebauet werden! –

Das waren ohngefähr die Gedanken, die damals ein dunkles Gefühl in ihm hervorbrachten, weil er sie nicht in Worte einzukleiden und sie sich nicht deutlich zu machen wußte.

Einmal, da vier Missetäter auf dem Rabensteine vor Hannover geköpft wurden, ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus und sahe nun vier darunter, welche aus der Zahl der übrigen ausgetilget und zerstückt werden sollten. – Dies kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war – als ob ein Baum im Walde umgehauen oder ein Ochse gefällt werden sollte – und da nun die Stücken dieser hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden und er sich selbst und die um ihn her stehenden Menschen ebenso zerstückbar dachte – so wurde ihm der Mensch so nichtswert und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von tierischer Zerstückbarkeit begrub – und sogar mit einem gewissen Vergnügen wieder zu Hause ging und seinen Haarteig auf dem Wege verzehrte – denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er manche Tage bloß von diesem Teige lebte. – Nahrung und Kleidung war ihm gleichgültig so wie Tod und Leben – ob nun eine solche bewegliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Anzahl gibt, auf der Welt mehr umhergeht oder nicht! – Dann konnte er sich nicht enthalten, sich immer an den Platz der zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundenen hingerichteten Missetäter zu stellen – und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: ›Der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbt, so stirbt er auch.‹ –

Wenn er von dieser Zeit an ein Tier schlachten sahe, so hielt er sich immer in Gedanken damit zusammen – und da er es bei dem Schlächter auch so oft zu sehen Gelegenheit hatte, so ging eine ganze Zeitlang sein bloßes Denken dahin – den Unterschied zwischen sich und einem solchen Tier, das geschlachtet wird, auszumitteln. – Er stand oft stundenlang und sah so ein Kalb mit Kopf, Augen, Ohren, Mund und Nase an; und lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie möglich an dasselbe an, oft mit dem törichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht möglich würde, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Tieres hineinzudenken – es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Tiere zu wissen – und zuweilen vergaß er sich bei dem anhaltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseins eines solchen Wesens empfunden zu haben. – Kurz, wie ihm sein würde, wenn er z. B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein anderes Tier wäre – das beschäftigte von Kindheit auf schon oft seine Gedanken. – Und da er sich nun den Unterschied zwischen Körper und Geist gedacht hatte, so war ihm nichts wichtiger, als zugleich irgendeinen wesentlichen Unterschied zwischen sich und dem Tiere aufzufinden, weil er sich sonst nicht überreden konnte, daß das Tier, welches ihm in seinem Körperbau so ähnlich war, nicht ebenso wie er einen Geist haben sollte. –

Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? – Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren und nur durch die Bewegung einiger Teile dieser Scheidewand einander wieder mitgeteilt wurden, schienen ihm nach dem Tode der Menschen in eins zusammenzufließen – da war nichts mehr, das sie absonderte und voneinander trennte – er dachte sich den übrig gebliebenen und in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. –

Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wären, und weil die Zahl ins Unendliche fortzugehen schien, das Einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde.

Diese Unbedeutsamkeit, dies Verlieren unter der Menge war es vorzüglich, was ihm oft sein Dasein lästig machte.

Nun ging er einmal eines Abends traurig und mißmutig auf der Straße umher – es war schon in der Dämmerung, aber doch nicht so dunkel, daß er nicht von einigen Leuten hätte gesehen werden können, deren Anblick ihm unerträglich war, weil er ihnen ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung zu sein glaubte. –

Es war eine naßkalte Luft und regnete und schneiete durcheinander – seine ganze Kleidung war durchnetzt – plötzlich entstand in ihm das Gefühl, daß er sich selbst nicht entfliehen konnte.

Und mit diesem Gedanken war es, als ob ein Berg auf ihm lag – er strebte sich mit Gewalt darunter emporzuarbeiten, aber es war, als ob die Last seines Daseins ihn darnieder drückte.

Daß er einen Tag wie alle Tage mit sich aufstehen, mit sich schlafen gehen – bei jedem Schritte sein verhaßtes Selbst mit sich fortschleppen mußte. –

Sein Selbstbewußtsein mit dem Gefühl von Verächtlichkeit und Weggeworfenheit wurde ihm ebenso lästig wie sein Körper mit dem Gefühl von Nässe und Kälte; und er hätte diesen in dem Augenblick ebenso willig und gerne wie seine durchnetzten Kleider abgelegt – hätte ihm damals ein gewünschter Tod aus irgendeinem Winkel entgegengelächelt. –

Daß er nun unabänderlich er selbst sein mußte und kein anderer sein konnte; daß er in sich selbst eingeengt und eingebannt war – das brachte ihn nach und nach zu einem Grade der Verzweiflung, der ihn an das Ufer des Flusses führte, welcher durch einen Teil der Stadt ging, wo dasselbe mit keinem Geländer versehen war. –

Hier stand er zwischen dem schrecklichsten Lebensüberdruß und der instinktmäßigen unerklärlichen Begierde fortzuatmen, kämpfend, eine halbe Stunde lang, bis er endlich ermattet auf einem umgehauenen Baumstamm niedersank, der nicht weit vom Ufer lag. Hier ließ er sich noch eine Weile gleichsam der Natur zum Trotz vom Regen durchnetzen, bis das Gefühl einer fieberhaften Kälte und das Klappern seiner Zähne ihn wieder zu sich selbst brachte und ihm zufälligerweise einfiel, daß er den Abend bei seinem Wirt, dem Fleischer, frische Wurst zu essen bekommen würde – und daß die Stube sehr warm geheizt sein würde. – Diese ganz sinnlichen und tierischen Vorstellungen frischten die Lebenslust in ihm aufs neue wieder an – er vergaß sich, so wie er sich nach der Hinrichtung der Missetäter vergessen hatte, ganz als Mensch und kehrte in seinen Gesinnungen und Empfindungen als Tier wieder heim. –

Als Tier wünschte er fortzuleben; als Mensch war ihm jeder Augenblick der Fortdauer seines Daseins unerträglich gewesen.


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