Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Allein wie er sich schon so oft aus seiner wirklichen Welt in die Bücherwelt gerettet hatte, wenn es aufs äußerste kam, so fügte es sich auch diesmal, daß er sich gerade vom Bücherantiquarius die Wielandsche Übersetzung von Shakespeare liehe – und welch eine neue Welt eröffnete sich nun auf einmal wieder für seine Denk- und Empfindungskraft! –

Hier war mehr als alles, was er bisher gedacht, gelesen und empfunden hatte. – Er las Macbeth, Hamlet, Lear und fühlte seinen Geist unwiderstehlich mit emporgerissen – jede Stunde seines Lebens, wo er den Shakespeare las, ward ihm unschätzbar. – Im Shakespeare lebte, dachte und träumte er nun, wo er ging und stund – und seine größte Begierde war, das alles, was er beim Lesen desselben empfand, mitzuteilen – und der nächste, dem er es mitteilen konnte, und welcher Gefühl dafür hatte, war sein Freund Philipp Reiser, der in einer abgelegenen Gegend der Stadt wohnte, wo er sich eine neue Werkstätte angelegt hatte und Klaviere zimmerte, – dabei sang er noch immer im Chore mit, aber nicht in dem, worin sich Anton Reiser befand. – Sie waren also durch ihre äußern Verhältnisse eine lange Zeit ohngeachtet ihrer ersten vertrauten Freundschaft voneinander getrennt worden. –

Nun aber, da Anton Reiser seinen Shakespeare unmöglich für sich allein genießen konnte, so wußte er zu keinem Bessern damit zu eilen als zu seinem romantischen Freunde. –

Diesem nun ein ganzes Stück aus dem Shakespeare vorzulesen und auf alle dessen Empfindungen und Äußerungen dabei mit Wohlgefallen zu merken, war die größte Wonne, welche Reiser in seinem Leben genossen hatte. –

Sie widmeten ganze Nächte zu dieser Lektüre, wo Philipp Reiser den Wirt machte, um Mitternacht Kaffee kochte und Holz im Ofen nachlegte – dann saßen sie beide bei einer kleinen Lampe an einem Tischchen – und Philipp Reiser hatte sich mit langem Halse herübergebeugt, sowie Anton Reiser weiter las und die schwellende Leidenschaft mit dem wachsenden Interesse der Handlung stieg. –

Diese Shakespearenächte gehören zu den angenehmsten Erinnerungen in Reisers Leben. – Aber wenn auch durch irgend etwas sein Geist gebildet wurde, so war es durch diese Lektüre, wogegen alles, was er sonst Dramatisches gelesen hatte, gänzlich in Schatten gesetzt und verdunkelt wurde. Selbst über seine äußern Verhältnisse lernte er sich auf eine edlere Art hinwegsetzen – selbst bei seiner Melancholie nahm seine Phantasie einen höhern Schwung. –

Durch den Shakespeare war er die Welt der menschlichen Leidenschaften hindurchgeführt – der enge Kreis seines idealischen Daseins hatte sich erweitert – er lebte nicht mehr so einzeln und unbedeutend, daß er sich unter der Menge verlor – denn er hatte die Empfindungen Tausender beim Lesen des Shakespeare mit durchempfunden. –

Nachdem er den Shakespeare und so, wie er ihn gelesen hatte, war er schon kein gemeiner und alltäglicher Mensch mehr – es dauerte auch nun nicht lange, so arbeitete sich sein Geist unter allen seinen äußern drückenden Verhältnissen, unter allem Spott und Verachtung, worunter er vorher erlag, empor – wie der Verfolg dieser Geschichte zeigen wird.

Die Monologen des Hamlet hefteten sein Augenmerk zuerst auf das Ganze des menschlichen Lebens – er dachte sich nicht mehr allein, wenn er sich gequält, gedrückt und eingeengt fühlte; er fing an, dies als das allgemeine Los der Menschheit zu betrachten. –

Daher wurden seine Klagen edler als vorher – die Lektüre von Youngs Nachtgedanken hatte dies zwar auch schon gewissermaßen bewirkt, aber durch den Shakespeare wurden auch Youngs Nachtgedanken verdrängt – der Shakespeare knüpfte zwischen Philipp Reisern und Anton Reisern das lose Band der Freundschaft fester. – Anton Reiser bedurfte jemanden, an den er alle seine Gedanken und Empfindungen richten konnte, und auf wen sollte wohl eher seine Wahl gefallen sein als auf denjenigen, der einmal seinen angebeteten Shakespeare mit durchempfunden hatte! –

Das Bedürfnis, seine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, brachte ihn auf den Einfall, sich wieder eine Art von Tagebuch zu machen, worin er aber nicht sowohl seine äußern geringfügigen Begebenheiten wie ehemals, sondern die innere Geschichte seines Geistes aufzeichnen und das, was er aufzeichnete, in Form eines Briefes an seinen Freund richten wollte. –

Dieser sollte denn wiederum an ihn schreiben, und dies sollte für beide eine wechselseitige Übung im Stil werden. – Diese Übung bildete Anton Reisern zuerst zum Schriftsteller; er fing an, ein unbeschreibliches Vergnügen daran zu empfinden, Gedanken, die er für sich gedacht hatte, nun in anpassende Worte einzukleiden, um sie seinem Freunde mitteilen zu können – so entstanden ihm unter den Händen eine Anzahl kleiner Aufsätze, deren er sich zum Teil auch in reifern Jahren nicht hätte schämen dürfen. –

Die Übung war zwar einseitig, denn Philipp Reiser blieb mit seinen Aufsätzen zurück – aber Anton Reiser hatte doch nun jemanden, dem er Gefühl und Geschmack zutrauete, dessen Beifall oder Tadel ihm nicht gleichgültig war, und an den er denken konnte, sooft er etwas niederschrieb. –

Nun war es sonderbar; wenn er im Anfang etwas niederschreiben wollte, so kamen ihm immer die Worte in die Feder: ›Was ist mein Dasein, was mein Leben?‹ Diese Worte standen daher auch auf mehreren kleinen Stückchen Papiere, die er hatte beschreiben wollen und dann, wenn es nicht ging, wieder wegwarf. –

Seine dunkle Vorstellung vom Leben und Dasein, das wie ein Abgrund vor ihm lag, drängte sich immer zuerst in seiner Seele empor – er fühlte sich gedrungen, erst diesen wichtigsten Punkt seiner Zweifel und Besorgnisse zu berichtigen, ehe er irgend etwas anders zum Gegenstande seines Denkens machte. – Es war also sehr natürlich, daß ihm wider seinen Willen diese Worte immer wieder in die Feder kamen, wenn er sich bemühte, Gedanken niederzuschreiben. –

Endlich arbeitete sich denn doch der Ausdruck durch die Gedanken durch – und das erste, was ihm in ziemlich passende Worte einzukleiden gelang, war etwas Metaphysisches über Ichheit und Selbstbewußtsein. –

Denn da er nun weiter denken und Gedanken niederschreiben wollte, so lag ihm natürlicherweise nichts näher als dies: er wollte erst mit sich selbst gleichsam in Richtigkeit sein, ehe er zu etwas anderm schritte. –

Nun fing er an, den Begriff des Individuums zu verfolgen, der ihm schon seit einigen Jahren, da er zuerst etwas von Logik gehört hatte, vorzüglich wichtig geworden war – und da er nun endlich auf den höchsten Grad des Bestimmtseins von allen Seiten und des vollkommen sich selbst Gleichseins stieß – so war es ihm nach einigem Nachdenken, als ob er sich selbst entschwunden wäre – und sich erst in der Reihe seiner Erinnerungen an das Vergangene wieder suchen müßte. – Er fühlte, daß sich das Dasein nur an der Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen festhielt. –

Die wahre Existenz schien ihm nur auf das eigentliche Individuum begrenzt zu sein – und außer einem ewig unveränderlichen, alles mit einem Blick umfassenden Wesen konnte er sich kein wahres Individuum denken. –

Am Ende seiner Untersuchungen dünkte ihm sein eignes Dasein eine bloße Täuschung, eine abstrakte Idee – ein Zusammenfassen der Ähnlichkeiten, die jeder folgende Moment in seinem Leben mit dem entschwundenen hatte. – Durch diese Begriffe von seiner eignen Eingeschränktheit veredelten sich seine Begriffe von der Gottheit – er fing an, nun in diesem großen Begriffe sein eignes Dasein zu fühlen, das ihm ohnedem unter den Händen zu verschwinden, ohne Zweck, abgerissen und zerstückt zu sein schien. – –

Aus diesen Reflexionen bildete sich der erste schriftliche Aufsatz, den er entwarf, und dem er die Form eines Briefes an seinen Freund gab, mit welchem er sich über diese Materie oft zu unterreden pflegte, und der ihn wenigstens immer zu verstehen schien.

Dabei dauerten seine Kopfschmerzen immer fort – allein er gewöhnte sich zuletzt so daran, daß ihm sein Zustand ordentlich gefährlich oder unnatürlich vorkam, wenn er einen Tag einmal keine Kopfschmerzen hatte. –

Seine Zusammenkünfte mit Philipp Reisern wurden nun immer häufiger – und er erhielt unvermuteterweise zu diesem noch einen Freund; dies war der Sohn des Kantors, namens Winter, einer seiner Mitschüler, gegen dessen Miene und Gesichtsbildung er fast immer eine Art von Antipathie gehegt und sich zugleich von ihm verachtet geglaubt hatte. –

Dieser wußte von seinem Vater, daß Anton Reiser einmal Verse gemacht hatte, und weil er nun selbst für jemanden ein Gedicht auf einen Geburtstag zu machen versprochen hatte, so suchte er Reisern auf und bat ihn um die Verfertigung dieses Gedichts, das er selbst auszuarbeiten nicht Lust oder Zeit hatte. – Dies war für Reisern die erste Veranlassung, seine ganz vernachlässigte Poesie wieder hervorzusuchen. – Das kleine Gedicht gelang ihm nicht übel. – Winter besuchte ihn von der Zeit an öfter und versprach ihm einstmals, daß er ihm die Bekanntschaft eines merkwürdigen Mannes verschaffen wolle, der übrigens ganz im Dunkeln lebe und nichts weiter als ein Essigbrauer sei. – Reiser war sehr begierig auf diese Bekanntschaft – es zog sich aber noch eine ganze Weile damit hin. –

Durch die Verse, welche ihm für Winter gelungen waren, war seine schlummernde Neigung für die Poesie wieder aufgeweckt – allein seine Trägheit zog ihn zu der harmonischen Prosa zurück, wozu sich sein Ohr durch die wiederholte Lektüre der vortrefflichen Ebertschen Übersetzung von Youngs Nachgedanken gewöhnt hatte – und nun fehlte es nur an einer äußern Veranlassung, die seiner Einbildungskraft einen ungewöhnlichen Schwung zu geben vermochte. –


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