Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Allein sein Aufenthalt in Hannover wurde ihm von nun an womöglich noch verhaßter – und der Wandergeist hatte sich seiner nun ganz bemächtigt – dies war aber auch der Fall bei mehrern von den jungen Leuten, welche mit Komödie gespielt hatten. – Einer namens Timäus, der vorher ein äußerst stiller, fleißiger und ordentlicher Mensch war, entdeckte Reisern im Vertrauen seine Unzufriedenheit mit seinem künftigen Stande eines Theologen, wozu er bestimmt war, und unterredete sich mit ihm über die Glückseligkeit, welche der Schauspielerstand gewährte, wobei er gegen die Vorurteile deklamierte, die diesen ehrenvollen Stand noch immer unverdienterweise herabsetzten. –

Dies Gespräch hielten beide auf einem Spaziergange nach einem kleinen Dorfe vor Hannover; und sie hatten sich so in ihrer Unterredung vertieft, daß sie von der Nacht überfallen und in dem Dorfe zu bleiben genötigt wurden. – Dies ungewöhnliche Übernachten an einem fremden Orte setzte beiden noch mehr romanhafte Ideen in den Kopf – es deuchte ihnen schon, als ob sie auf Abenteuer ausgingen und Glück und Unglück miteinander teilten. – Der kühne Vorsatz dieser beiden Abenteurer, sich über alle Vorurteile der Welt hinwegzusetzen und ihrer Neigung oder ihrem Beruf, wie sie es nannten, zu folgen, blieb denn auch nicht unausgeführt. – Reiser machte den Anfang, und Timäus folgte ihm bald, wurde aber noch glücklich wieder zurückgebracht. –

Reiser machte indes, ehe er seinen Vorsatz ausführte, noch eine nächtliche Wanderung mit Iffland, der ihn des Abends um eilf Uhr mit noch einem von der dramatischen Gesellschaft besuchte und ihn zu einem Spaziergange nach dem Deister, einem Berge, der drei Meilen von Hannover entfernt ist, einlud. – Reiser, dem dergleichen nächtliche Wanderungen nun schon anfingen eine gewohnte Sache zu werden, war sogleich entschlossen – es war eine warme mondhelle Sommernacht. – Die Unterhaltung unterwegens war ganz poetisch, zuweilen etwas affektiert und dann wieder wahr, nachdem es fiel. – Wo sie durch ein Dorf kamen, duftete ihnen der frische Heugeruch entgegen. – Und diese Nachtwanderung war wirklich eine der angenehmsten, die man sich nur denken kann, so daß sie recht vom Zufall veranstaltet zu sein schien, um Reisers Phantasie noch mehr zu erhitzen und seiner einmal angefachten Lust zum Wandern das völlige Übergewicht über die Vernunft zu geben. –

Die drei Abenteurer erreichten noch vor Tagesanbruch ein Dorf, das dicht am Fuß des Berges lag, wo sie einkehrten und noch einige Stunden schliefen. – Da sie aber am andern Morgen früh aufstanden, so waren alle die schönen Bilderchen aus der Zauberlaterne verschwunden; die kahle Wirklichkeit mit allen ihren unvermeidlichen Unannehmlichkeiten stand wieder vor ihrer Seele da – sie saßen über eine Stunde einander gegenüber und jähnten sich an. – Wenn irgendetwas Reisern von seiner Phantasie noch hätte heilen können, so wäre es dieser Morgen nach solch einer Nacht gewesen – es war ihnen nun leid geworden, den Berg zu besteigen, sie fühlten sich müde und matt und nahmen den nächsten Weg wieder nach der Stadt zurück, der ihnen wegen der brennenden Sonnenhitze ziemlich beschwerlich wurde – allein sie fingen unterwegs an, Reime zu extemporieren, womit sie sich die Einförmigkeit des Gehens einigermaßen erleichterten. –

Reiser blieb demohngeachtet völlig entschlossen zu wandern, möchte auch sein Schicksal sein, was da wollte – er zog alles, was ihm begegnen konnte, dennoch der traurigen Einförmigkeit und dem nicht halb und nicht ganz glücklich sein in Hannover vor. –

Alle seine Gedanken gingen nun einmal ins Weite. – Er sahe überdem kein Mittel vor sich, seine Schulden zu tilgen, ohne sie dem Pastor Marquard aufs neue zu entdecken, dessen Achtung und Freundschaft er dann völlig zu verlieren gewärtigen mußte. – Auch die verschiedenen Demütigungen, die er seit kurzem wieder hatte ertragen müssen, waren ihm noch im frischen Andenken und machten ihm den Aufenthalt in Hannover sowohl als die Gegenden umher verhaßt. –

Er wußte seinem einzigen Vertrauten, Philipp Reisern, seine Lage auch so mißlich vorzustellen, daß dieser endlich selbst seinen Entschluß, Hannover zu verlassen, billigte und ihm die Reiseroute nach Erfurt, so wie er den Weg selbst von dorther bis Hannover zu Fuße gemacht hatte, vorschrieb. – Von da wollte denn Anton Reiser nach Weimar gehen, um bei der Seilerschen oder vielmehr Ekhofischen Schauspielergesellschaft als Mitglied angenommen zu werden – und von da aus wollte er denn, wenn ihm dies gelänge, seine Schulden in Hannover bezahlen und seinen guten Ruf wieder herzustellen suchen, indem er dort gleichsam wieder aufstände, nachdem er hier bürgerlich gestorben wäre. – Dies letzte war ihm insbesondre eine der angenehmsten Vorstellungen, womit er sich trug. –

Er brachte nun Philipp Reisern seine wenigen Bücher und Papiere und gab sie ihm in Verwahrung – seine Kleider hatte er zum Teil versetzt, um die Kosten zur Komödie zu bestreiten – und seine übrigen wenigen Sachen ließ er seinem Wirt zur Schadloshaltung für die Miete. – Diesem sagte er, daß sein Vater sehr krank geworden sei und daß er, um diesen zu besuchen, auf eine Woche verreisen würde, wenn etwa jemand nach ihm fragen sollte. –

Und nun war er so weit in Richtigkeit bis auf die Barschaft, womit er eine Reise von mehr als vierzig Meilen antreten sollte. – Diese bestand denn, nach allem, was er hatte auftreiben können, aus einem einzigen Dukaten, womit er Mut genug hatte, sich auf den Weg zu machen, ohngeachtet Philipp Reiser ihm die Unbesonnenheit dieses Unternehmens genug vorstellte. – Aber mit Gelde konnte ihn dieser aus dem sehr wichtigen Grunde nicht unterstützen, weil es ihm selbst gemeiniglich und gerade jetzt gänzlich daran fehlte. –

Anton Reiser konnte also nun im eigentlichen Verstande von sich sagen, daß er alle das Seinige mit sich trug. – Das gute Kleid, worin er die Rede auf der Königin Geburtstag gehalten hatte, nebst einem Überrock war seine ganze Garderobe – dabei trug er einen vergoldeten Galanteriedegen an der Seite und Schuh und seidene Strümpfe. – Ein reines Oberhemde nebst noch ein paar seidenen Strümpfen, Homers Odyssee in Duodez mit der lateinischen Version und der lateinische Anschlagbogen von der Redeübung an der Königin Geburtstage, worauf sein Name gedruckt stand, war alles, was er in der Tasche bei sich trug. –

Es war in der Mitte des Winters, an einem Sonntagmorgen, den er noch bei Philipp Reisern zubrachte, wo er sich völlig reisefertig machte, um den Nachmittag seine Wanderschaft anzutreten und, weil die Tage schon lang waren, noch drei Meilen bis zu der nächsten Stadt auf seiner Tour zurückzulegen. –

Es war heitrer Sonnenschein – die Leute gingen in ihrem Sonntagsschmuck auf der Straße und zum Teil vor das Tor spazieren, um am Abend in ihre Häuser wieder zurückzukehren, und Reiser sollte nun an diesem Tage auf immer aus Hannover scheiden – dies machte ihm eine sonderbare Empfindung, die weder Schmerz noch Wehmut, sondern mehr eine Art von Betäubung war. – Der Abschied aus Hannover preßte ihm keine Träne aus, sondern er war dabei fast so kalt und unbewegt, als ob er durch eine fremde Stadt gereist wäre, der er nun wieder den Rücken zukehren mußte, um weiterzugehen. – Selbst der Abschied von Philipp Reisern war mehr kalt als zärtlich. – Philipp Reiser machte sich viel mit einer neuen Kokarde an seinem Hute zu schaffen und unterhielt dabei seinen scheidenden Freund noch in der letzten Stunde, die sie zusammen zubrachten, von seinem verliebten Romane, den er damals gerade spielte, gleichsam, als wenn Anton Reiser den Verfolg davon hätte abwarten können. – Kurz, die ganze Unterhaltung war so, als ob sie am andern Tage wieder zusammenkommen und alles denn nach der alten Weise fortgehen würde. – Was aber Anton Reisern am meisten ärgerte, war das Putzen der Hutkokarde, womit sich sein einziger Freund in der letzten Abschiedsstunde noch so eifrig beschäftigen konnte. – Diese Hutkokarde schwebte ihm noch lange nachher vor Augen und machte ihm allemal eine verdrießliche Rückerinnerung, sooft er daran dachte. – Auch wurde ihm der Abschied aus Hannover von seinem einzigen Freunde durch dies Putzen der Hutkokarde sehr erleichtert. – Philipp Reiser meinte es aber demohngeachtet gut mit ihm, nur hatte diesmal seine kleine Eitelkeit und seine verliebten Schwärmereien über die freundschaftliche Teilnehmung die Oberhand behalten, und seine Hutkokarde, worin er vielleicht seiner Schönen gefallen wollte, war ihm auch ein sehr wichtiger Gegenstand geworden, wofür nun Anton Reiser freilich keinen Sinn hatte. –

›So kalt, so starr an der ehernen Pforte des Todes anzuklopfen.‹

Diese Worte aus Werthers Leiden hatten Anton Reisern diesen ganzen Morgen im Sinne gelegen, und da ihm Philipp Reiser den großen Torweg öffnen wollte, durch den nun doch der eigentliche Trennungspunkt bewirkt wurde, weil Philipp Reiser, um nicht Verdacht zu erwecken, als ob derselbe um seine Abreise wüßte, ihn mit Fleiß nicht begleiten sollte, so blieb er noch eine Weile inwendig stehen, sahe Philipp Reisern starr an, und in dem Augenblick war es ihm, als klopfte er so kalt und starr an der ehernen Pforte des Todes an. – Er gab Philipp Reisern, der ihm kein Wort sagen konnte, die Hand, zog darauf den Torweg hinter sich zu und eilte, um die nächste Ecke zu kommen, damit sein nun von ihm geschiedener Freund ihm nicht etwa nachsehen möchte. –

Darauf ging er schnell über den Wall nach dem Ägidien-Tore zu und sahe noch einmal seitwärts nach seiner ehemaligen Wohnung im Hause des Rektors, die er vom Walle aus bemerken konnte. – Es war des Nachmittags um zwei Uhr, und man läutete zur Kirche – er verdoppelte seine Schritte, je näher er dem Tore kam. – Es war ihm, als ob das Grab noch einmal hinter ihm seinen Schlund eröffnete. – Da er aber nun die Stadt mit ihren grünbepflanzten Wällen im Rücken hatte und die Häuser, wie er zurückblickte, sich immer dichter zusammendrängten, so wurde ihm leichter und immer leichter, bis endlich die vier Türme, welche den bisherigen Schauplatz aller seiner Kränkungen und Bekümmernisse bezeichneten, ihm aus dem Gesichte schwanden. –



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