Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Ach, die glänzenden Aussichten, die sich Reiser von dem Glück, das auf ihn wartete, gemacht hatte, verdunkelten sich nachher sehr wieder. Indes dauerte doch der erste angenehme Taumel, in welchen ihn die tätige Vorsorge und die Teilnehmung so vieler Menschen an seinem Schicksale versetzt hatte, noch eine Weile fort. –

Das große Feld der Wissenschaften lag vor ihm – sein künftiger Fleiß, die nützlichste Anwendung jeder Stunde bei seinem künftigen Studieren war den ganzen Tag über sein einziger Gedanke, und die Wonne, die er darin finden, und die erstaunlichen Fortschritte, die er nun tun und sich Ruhm und Beifall dadurch erwerben würde: mit diesen süßen Vorstellungen stand er auf und ging damit zu Bette – aber er wußte nicht, daß ihm das Drückende und Erniedrigende seiner äußern Lage dies Vergnügen so sehr verbittern würde. Anständig genährt und gekleidet zu sein gehört schlechterdings dazu, wenn ein junger Mensch zum Fleiß im Studieren Mut behalten soll. Beides war bei Reisern der Fall nicht. Man wollte für ihn sparen und ließ ihn während der Zeit wirklich darben.

Seine Eltern reisten nun auch weg, und er zog mit seinen wenigen Habseligkeiten bei dem Hoboisten Filter ein, dessen Frau insbesondre sich schon von seiner Kindheit an seiner mit angenommen hatte. – Es herrschte bei diesen Leuten, die keine Kinder hatten, die größte Ordnung in der Einrichtung ihrer Lebensart, welche vielleicht nur irgendwo stattfinden kann. Da war nichts, keine Bürste und keine Schere, was nicht seit Jahren seinen bestimmten angewiesenen Platz gehabt hätte. Da war kein Morgen, der anbrach, wo nicht um acht Uhr Kaffee getrunken und um neun Uhr der Morgensegen gelesen worden wäre, welches allemal kniend geschahe, indes die Frau Filter aus dem Benjamin Schmolke vorlas, wobei denn Reiser auch mit knien mußte. Des Abends nach neun Uhr wurde auf eben die Art, indem jeder vor seinem Stuhle kniete, auch der Abendsegen aus dem Schmolke gelesen und dann zu Bette gegangen. Dies war die unverbrüchliche Ordnung, welche von diesen Leuten schon seit beinahe zwanzig Jahren, wo sie auch beständig auf derselben Stube gewohnt hatten, war beobachtet worden. Und sie waren gewiß dabei sehr glücklich, aber sie durften auch schlechterdings durch nichts darin gestört werden, wenn nicht zugleich ihre innre Zufriedenheit, die größtenteils auf diese unverbrüchliche Ordnung gebaut war, mit darunter leiden sollte. Dies hatten sie nicht recht erwogen, da sie sich entschlossen, ihre Stubengesellschaft mit jemanden zu vermehren, der sich unmöglich auf einmal in ihre seit zwanzig Jahren etablierte Ordnung, die ihnen schon zur andern Natur geworden war, gänzlich fügen konnte.

Es konnte also nicht fehlen, daß es ihnen bald zu gereuen anfing, daß sie sich selbst eine Last aufgebürdet hatten, die ihnen schwerer wurde, als sie glaubten. Weil sie nur eine Stube und eine Kammer hatten, so mußte Reiser in der Wohnstube schlafen, welches ihnen nun alle Morgen, sooft sie hereintraten, einen unvermuteten Anblick von Unordnung machte, dessen sie nicht gewohnt waren, und der sie wirklich in ihrer Zufriedenheit störte. – Anton merkte dies bald, und der Gedanke, lästig zu sein, war ihm so ängstigend und peinlich, daß er sich oft kaum zu husten getrauete, wenn er an den Blicken seiner Wohltäter sahe, daß er ihnen im Grunde zur Last war. – Denn er mußte doch seine wenigen Sachen nun irgendwo hinlegen, und wo er sie hinlegte, da störten sie gewissermaßen die Ordnung, weil jeder Fleck hier nun schon einmal bestimmt war. – Und doch war es ihm nun unmöglich, sich aus dieser peinlichen Lage wieder herauszuwickeln. – Dies alles zusammengenommen versetzte ihn oft stundenlang in eine unbeschreibliche Wehmut, die er sich damals selber nicht zu erklären wußte und sie anfänglich bloß der Ungewohnheit seines neuen Aufenthaltes zuschrieb.

Allein es war nichts als der demütigende Gedanke des Lästigseins, der ihn so danieder druckte. Hatte er gleich bei seinen Eltern und bei dem Hutmacher Lobenstein auch nicht viel Freude gehabt, so hatte er doch ein gewisses Recht da zu sein. Bei jenen, weil es seine Eltern waren, und bei diesem, weil er arbeitete. – Hier aber war der Stuhl, worauf er saß, eine Wohltat. – Möchten dies doch alle diejenigen erwägen, welche irgend jemanden Wohltaten erzeigen wollen, und sich vorher recht prüfen, ob sie sich auch so dabei nehmen werden, daß ihre gutgemeinte Entschließung dem Bedürftigen nie zur Qual gereiche.

Das Jahr, welches Reiser in dieser Lage zubrachte, war, obgleich jeder ihn glücklich pries, in einzelnen Stunden und Augenblicken eines der qualvollsten seines Lebens.

Reiser hätte sich vielleicht seinen Zustand angenehmer machen können, hätte er das nur gehabt, was man bei manchen jungen Leuten ein insinuantes Wesen nennt. Allein zu einem solchen insinuanten Wesen gehört ein gewisses Selbstzutrauen, das ihm von Kindheit auf war benommen worden; um sich gefällig zu machen, muß man vorher den Gedanken haben, daß man auch gefallen könne. – Reisers Selbstzutrauen mußte erst durch zuvorkommende Güte geweckt werden, ehe er es wagte, sich beliebt zu machen. – Und wo er nur einen Schein von Unzufriedenheit andrer mit ihm bemerkte, da war er sehr geneigt, an der Möglichkeit zu verzweifeln, jemals ein Gegenstand ihrer Liebe oder ihrer Achtung zu werden. Darum gehörte gewiß ein großer Grad von Anstrengung bei ihm dazu, sich selber Personen als einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit vorzustellen, von denen er noch nicht wußte, wie sie seine Zudringlichkeit aufnehmen würden.

Seine Base prophezeite ihm sehr oft, wie ihm der Mangel jenes insinuanten Wesens an seinem Fortkommen in der Welt schaden würde. Sie lehrte ihn, wie er mit der Frau Filter sprechen und ihr sagen solle: »Liebe Frau Filter, sein Sie nun meine Mutter, da ich ohne Vater und Mutter bin, ich will Sie auch so lieb haben wie eine Mutter.« – Allein wenn Reiser dergleichen sagen wollte, so wars, als ob ihm die Worte im Munde erstarben; es würde höchst ungeschickt herausgekommen sein, wenn er so etwas hätte sagen wollen. – Dergleichen zärtliche Ausdrücke waren nie durch zuvorkommendes, gütiges Betragen irgendeines Menschen gegen ihn aus seinem Munde hervorgelockt worden; seine Zunge hatte keine Geschmeidigkeit dazu. – Er konnte den Rat seiner Base unmöglich befolgen. Wenn sein Herz voll war, so suchte er schon Ausdrücke, wo er sie auch fand. Aber die Sprache der feinen Lebensart hatte er freilich nie reden gelernet. – Was man insinuantes Wesen nennt, wäre auch bei ihm die kriechendste Schmeichelei gewesen.

Indes war nun die Zeit herangekommen, wo Reiser konfirmiert werden und in der Kirche öffentlich sein Glaubensbekenntnis ablegen sollte – eine große Nahrung für seine Eitelkeit – er dachte sich die versammelten Menschen, sich als den ersten unter seinen Mitschülern, der alle Aufmerksamkeit bei seinen Antworten vorzüglich auf sich ziehen würde, durch Stimme, Bewegung und Miene. – Der Tag erschien, und Reiser erwachte, wie ein römischer Feldherr erwacht sein mag, dem an dem Tage ein Triumph bevorstand. – Er wurde bei seinem Vetter, dem Perückenmacher, hoch frisiert und trug einen bläulichen Rock und schwarze Unterkleider, eine Tracht, die der geistlichen gewissermaßen sich schon am meisten näherte.

Aber so wie der Triumph des größten Feldherrn zuweilen durch unerwartete Demütigungen verbittert wurde, daß er ihn nur halb genießen konnte, so ging es auch Reisern an diesem Tage seines Ruhms und seines Glanzes. – Seine Freitische nahmen mit diesem Tage ihren Anfang. – Er hatte den ersten des Mittags bei dem Garnisonküster und den andern des Abends bei dem armen Schuster – und obgleich der Garnisonküster ein Mann war, der das großmütigste Herz besaß und Reisern seinen Lebenslauf erzählte, wie er auch erst als ein armer Schüler ins Chor gegangen sei, aber schon in seinem siebzehnten Jahre den blauen Mantel mit dem schwarzen vertauscht habe – so war doch die Frau desselben der Neid und die Mißgunst selber, und jeder ihrer Blicke vergiftete Reisern den Bissen, den er in den Mund steckte. Sie ließ es sich zwar am ersten Tag nicht so sehr wie nachher, aber doch stark genug merken, daß Reiser niedergeschlagenen Herzens, ohne selbst recht zu wissen, worüber, zur Kirche ging und die Freude, die er sich an diesem sehnlich gewünschten Tage versprochen hatte, nur halb empfand. – Er sollte nun hingehn, um sein Glaubensbekenntnis auf gewisse Weise zu beschwören. –

Dies dachte er sich, und ihm fiel dabei ein, daß sein Vater vor einiger Zeit zu Hause erzählt hatte, wie er wegen seines Dienstes vereidet worden war, daß er nichts weniger als gleichgültig dabei gewesen sei – und Reiser schien sich, da er zur Kirche ging, gegen den Eid, den er ablegen sollte, gleichgültig zu sein. – Aus dem Unterricht, den er in der Religion bekommen, hatte er sehr hohe Begriffe vom Eide und hielt diese Gleichgültigkeit an sich für höchst strafbar. Er zwang sich also, nicht gleichgültig, sondern gerührt und ernsthaft zu sein bei diesem wichtigen Schritte und war mit sich selber unzufrieden, daß er nicht noch weit gerührter war; aber die Blicke der Frau des Garnisonküsters waren es, welche alle sanfte und angenehme Empfindungen aus seinem Herzen weggescheucht hatten.

Er konnte sich doch nicht recht freuen, weil niemand war, der an seiner Freude recht nahen Anteil nahm, weil er dachte, daß er auch selbst an diesem Tage an fremden Tischen essen mußte. Da er indes in die Kirche kam und nun vor den Altar trat und obenan in der Reihe stand, so erwärmete das alles zwar wieder seine Phantasie – aber es war doch lange das nicht, was er sich versprochen hatte. – Und gerade das Wichtigste und Feierlichste, die Ablegung des Glaubensbekenntnisses, welches einer im Namen der übrigen tun mußte, kam nicht an ihn, und er hatte sich doch schon viele Tage vorher auf Miene, Bewegung und Ton geübt, womit er es ablegen wollte.

Er dachte, der Pastor Marquard würde ihn etwa den Nachmittag zu sich kommen lassen, aber er ließ ihn nicht zu sich kommen – und während daß seine Mitschüler nun zu Hause gingen und der zärtlichen Bewillkommnung ihrer Eltern entgegen sahen, ging Reiser einsam und verlassen auf der Straße umher, wo ihm der Direktor des Lyzeums begegnete, der ihn anredete und fragte, ob er nicht Reiserus hieße – und als Reiser mit Ja antwortete, ihm freundlich die Hand druckte und sagte, er habe schon durch den Pastor Marquard viel Gutes von ihm gehört und würde bald näher mit ihm bekannt werden.

Welche unerwartete Aufmunterung für ihn, daß dieser Mann, den er schon oft mit tiefer Ehrfurcht betrachtet hatte, ihn auf der Straße anzureden würdigte und ihn Reiserus nannte.


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