Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Diese Veranlassung ereignete sich an einem trüben und regnigten Sonntagnachmittage – wo er im Chore sang – er hatte erst mit Winter gesprochen, und dieser erkundigte sich unter andern nach seiner Lektüre und wunderte sich, daß er ihn beständig lesend getroffen habe. – Reiser antwortete ihm, das sei ja noch das einzige, wodurch er sich wegen der Verachtung, der er so allgemein in der Schule und im Chore ausgesetzt wäre, einigermaßen schadlos halten könnte. –

Durch dies Gespräch mit Winter, da er in kurzem seine Situation überdachte, war sein Herz einmal lebhaften Eindrücken geöffnet worden – und nun fügte es sich gerade, daß eben der Verclas, mit dem er einst nebst G... den sterbenden Sokrates aufgeführt hatte, ihn zum Gegenstande seines groben Witzes machte und durch allerlei Anspielungen ihn bei seinen Mitschülern wieder lächerlich zu machen suchte, die denn auch bald mit einstimmten, so daß Reiser fast eine halbe Stunde lang das Ziel ihrer witzigen Einfälle war. –

Er sagte auf alles dies kein Wort und kränkte sich, indem er einsam vor sich wegging, innerlich darüber; und ob er sich gleich bemühte, seine Kränkung in Verachtung zu verwandeln, so wollte es ihm doch nicht recht damit gelingen; bis er sich endlich unvermerkt in eine bittere menschenfeindliche Laune hineinphantasierte, die durch nichts als das Andenken an seinen Philipp Reiser wieder gemildert wurde. – Da nun auch der Vorsatz, seine Empfindungen und Gedanken an ihn niederzuschreiben, herrschend geworden war, so behielt derselbe auch diesmal selbst über seinen Verdruß und seine Kränkung zuletzt die Oberhand; er suchte sich das Kränkende, was er empfunden hatte und noch empfand, in Worte einzukleiden, um es seiner Einbildungskraft desto lebhafter vorstellen zu können. – Und ehe das Chorsingen noch geendigt war, war auch schon der Aufsatz, den er zu Hause niederschreiben wollte, unter allen Geräusch und Spott und Hohngelächter, das ihn umgab, völlig vollendet – und die Freude darüber erhob ihn gewissermaßen über sich selbst und seinen eigenen Kummer. – Sobald er zu Hause kam, schrieb er mit einer sonderbaren gemischten wehmütigen Empfindung, voll Schmerz über seinen Zustand und voll Freude, daß es ihm gelungen war, durch die Sprache ein lebhaftes Bild von seinem Zustande zu entwerfen, folgende Worte nieder:
 

An Reiser!

Wie traurig ist doch das Dasein der Menschen – und dieses nichtige Dasein machen wir uns noch selbst einander unerträglich, statt daß wir durch vertrauliche Geselligkeit uns in dieser Wüste des Lebens einander unsre Last erleichtern sollten. – –

Ist es nicht genug, daß wir im beständigen Wahn und Irrtum wie in einem bezauberten Lande herumirren?

Müssen uns auch noch Ungeheuer anschreien? – Muß auch noch ein boshafter Satyr uns mit seinem Hohngelächter die Seele durchbohren?

Wie öde, wie traurig ist hier alles um mich her! – Und ich muß verlassen und einsam hier herumirren – keine Stütze, kein Führer! –

Wohl mir! einen Haufen erblick ich dort; Menschen, mir gleich, auch diese Wüste durchirrend. –

›O nehmt mich auf, Freunde, nehmt mich auf, daß ich mit euch diese Wüste durchziehe; und sie wird mir zur grünenden Aue werden!‹

Sie nehmen mich auf – wohl mir! – –

Weh mir! – was seh ich? – Sind das noch die Menschen, meine Brüder? –

Ach, ihre Larve fällt ab – und Teufel sinds – und zur Hölle wird mir nun die Wüste. –

Ich fliehe, und ihr Hohngelächter heulet mir nach – –

›So habt ihr mich betrogen, menschliche Larven? – Ha, keine Larve soll mich wieder betrügen! – Nun sei mir willkommen, Nacht, und du Einsamkeit, und du, schwärzeste Melancholei. – Alle ihr lachenden Scherze und alle ihr tobenden Freuden, Larven des Todes, seid auf ewig von mir verbannt!‹ –

So ging ich und dachte, und finsterer Gram erfüllte meine Seele. –

Als plötzlich ein Jüngling vor mir stand – den Freund verkündigte sein Blick – Empfindung sprach sein sanftes Auge – schleunig wollt ich entfliehn – aber er faßte so vertraulich meine Hand – und ich blieb stehn – er umarmte mich, ich ihn – unsre Seelen flossen zusammen. –

Und um uns wards Elysium. –
 

Reiser hätte wirklich kein wahreres Bild als dieses von seinem damaligen Zustande entwerfen können – in allem, was er sagte, war nichts Übertriebenes – denn die Menschen, mit denen er zunächst durchs Leben ging, wurden wirklich für ihn quälende Geister – und zu den anschreienden Ungeheuern gehörte vorzüglich Verclas, dessen grober und doch boshafter Witz Reisern den Sonntagnachmittag bis tief in die Seele gekränkt hatte, da dieser Verclas doch sonst immer von ihm ein Freund hatte sein wollen – wenigstens war er und der Landesverwiesene G... noch die einzigen, die nach der Aufführung der Komödie mit Reisern umgingen, weil sie mit ihm ein gleiches Schicksal des Hasses und der Verachtung aller ihrer Mitschüler teilten – und selbst dieser Verclas stellte sich nun mit auf die Seite derer, welchen Reiser ein Gegenstand des Spottes war – und veranlaßte diesen Spott sogar durch seine groben Witzeleien, womit er sich auf Reisers Kosten lustig machte. – Dies alles vereinigte sich nun, ihn in die menschenfeindliche Laune zu versetzen, worin er den vorhergehenden Aufsatz entwarf. – Durch das Andenken an Philipp Reisern, und weil doch auch der Sohn des Kantors, sein ehemaliger Feind, anfing, sein Freund zu werden, milderte dies schon seine bittere Laune so weit, daß er am Schluß seines Aufsatzes einlenkte und den sanften Empfindungen wieder Gehör gab. –

Auf diese Weise hatte er nun in seinem Tagebuche schon verschiedene kleine Aufsätze an seinen Freund entworfen, als der Frühling wieder herankam und zu Ostern die gewöhnliche öffentliche Schulprüfung gehalten wurde, wobei er denn auch erschien. –

Aber wie sehr wurde sein Mut niedergeschlagen, da er sich gegen die übrigen betrachtete und sich gerade unter allen am schlechtesten gekleidet sahe – er saß da wie verloren; auf ihn wurde gar keine Rücksicht genommen – keine einzige Frage an ihn getan. –

Den Vormittag hielt er es aus – aber als er den Nachmittag wieder hinging und sich aufs neue unter dem ihn umgebenden Haufen wie verloren sahe – konnte er es nicht länger aushalten – er ging wieder fort, ehe noch die Prüfung anging. –

Und nun eilte er gerade zum Tore hinaus – es war ein trüber neblichter Himmel – und ging auf ein kleines Wäldchen zu, das nicht weit von Hannover liegt. –

Sobald er aus dem Gewühle der Stadt war und die Türme von Hannover hinter sich sah, bemächtigten sich seiner tausend abwechselnde Empfindungen. – Alles stellte sich ihm auf einmal aus einem andern Gesichtspunkte dar – er fühlte sich aus alle den kleinlichen Verhältnissen, die ihn in jener Stadt mit den vier Türmen einengten, quälten und drückten, auf einmal in die große offene Natur versetzt und atmete wieder freier – sein Stolz und Selbstgefühl strebte empor – sein Blick schärfte sich auf das, was hinter ihm lag, und faßte es in einem kleinen Umfange zusammen. –

Er sahe da die Priester mit ihren schwarzen Mänteln und Kragen die Treppe hinaufsteigen und seine Mitschüler versammlet und Prämien unter sie austeilen, und dann wie ein jeder wieder nach Hause ging und sich alles so im Zirkel drehte – und in dem Umfange der Stadt, die nun hinter ihm lag, und von der er sich immer weiter entfernte, alles das sich durchkreuzende Gewimmel. – Alles schien ihm da so dicht, so klein ineinander zu laufen, wie der zusammengedrängte Haufen Häuser, den er noch in der Ferne sahe – und nun dachte er sich hier auf dem freien Felde die Stille, und daß ihn niemand bemerkte, niemand ihm eine hämische Miene machte – und dort das lärmende Gewühl, das Rasseln der Wagen, denen er aus dem Wege gehn mußte, die Blicke der Menschen, die er scheute – das alles malte sich in seiner Einbildungskraft im kleinen und erweckte ein wunderbares Gefühl in ihm, wie am Abend der Tag sich von der Dämmerung scheidet und die eine Hälfte des Himmels noch vom Abendrot erhellt ist, indes die andere schon im Dunkel ruht. –

Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte – denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. –

Aber dann kehrte wieder das wehmütige Gefühl zurück: wo sollte er nun in dieser großen öden Welt festen Fuß fassen, da er sich aus allen Verhältnissen herausgedrängt sahe? – Da wo auf einem kleinen Fleck der Erde die menschlichen Schicksale zusammenlaufen, war es nichts, gar nichts! –

Ihm fiel ein, daß verdrängt zu werden von Kindheit an sein Schicksal gewesen war – wenn er bei irgend etwas zusehen wollte, wobei es darauf ankam, sich hinzuzudrängen, so war jeder andere dreister wie er und drängte sich ihm vor – er glaubte, es sollte etwa einmal eine Lücke entstehen, wo er, ohne jemanden vor sich hinwegzudrängen, sich in die Reihe mit einfügen könnte – aber es entstand keine solche Lücke – und er zog sich von selbst zurück und sahe nun in der Ferne dem Gedränge zu, indem er einsam dastand. –


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