Karl Philipp Moritz
Anton Reiser
Karl Philipp Moritz

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Manchmal quälte er sich stundenlang, zu versuchen, ob es möglich sei, ohne Worte zu denken. – Und dann stieß ihm der Begriff vom Dasein als die Grenze alles menschlichen Denkens auf – da wurde ihm alles dunkel und öde – da blickte er zuweilen auf die kurze Dauer seiner Existenz, und der Gedanke oder vielmehr Ungedanke vom Nichtsein erschütterte seine Seele – es war ihm unerklärlich, daß er jetzt wirklich sei und doch einmal nicht gewesen sein sollte – so irrte er ohne Stütze und ohne Führer in den Tiefen der Metaphysik umher. –

Manchmal, wenn er itzt im Chore sang und, statt daß seine Mitschüler sich miteinander unterredeten, einsam vor sich wegging und diese dann hinter ihm sagten: da geht der Melancholikus! so dachte er über die Natur des Schalles nach und suchte zu erforschen, was sich dabei mit Worten nicht ausdrücken ließ. – Dies trat nun in die Stelle seiner vorigen romantischen Träume, womit er sich sonst so manche trübe Stunde verphantasiert hatte, wenn er an einem traurigen Wintertage in Schnee und Regen im Chore sang. –

Er liehe sich nun von dem Bücherantiquarius Wolfs Metaphysik und las auch die nach der einmal angefangenen Weise durch – und wenn er nun zu dem Schuster Schantz kam, so war der Stoff zu ihren philosophischen Gesprächen weit reichhaltiger wie vorher – und sie kamen von selbst auf alle die verschiedenen Systeme, welche von den Weltweisen der alten und neuern Zeiten vorgetragen und immer von einer unzähligen Menge nachgebetet sind.

Während der Zeit war nun auch der Direktor Ballhorn, von dessen Freundschaft Reiser so viel gehofft hatte und so sehr in seiner Hoffnung getäuscht war, nach einer kleinen Stadt nicht weit von Hannover als Superintendent befördert worden und ein andrer namens Schumann an dessen Stelle gekommen. –

Diese Veränderung interessierte Reisern eben nicht sehr, der damals an nichts als an seine Metaphysik dachte. – Der neue Direktor war ein alter Mann, welcher aber Kenntnisse und viel Geschmack besaß und von Pedanterei, welches bei alten Schulmännern ein so seltener Fall ist, ziemlich frei war.

Während dieser Veränderung fielen eine große Menge Schulstunden ohnedem aus. – Reisers Versäumnis wurde also eben so merklich nicht. – Und wenn nun ja eine Versäumnis von öffentlichen Schulstunden gut genutzt worden ist, so war es die seinige – in welcher er in Zeit von ein paar Monaten mehr tat und sein Verstand mit weit mehr Begriffen als seine ganzen akademischen Jahre hindurch bereichert wurde. –

Nie hörte er wenigstens den ganzen Kursus der Philosophie so ausführlich wieder vortragen, als er ihn damals für sich durchdacht hatte – auch die übrigen Wissenschaften, als Dogmatik, Geschichte usw., hörte er nie auf der Universität so ausführlich wieder, als er sie zum Teil in Hannover auf der Schule gehört hatte.

Er hatte in seiner Jugend keinen Unterricht als im Rechnen und Schreiben genossen, welcher itzt fast gänzlich für ihn verloren ging, weil er das Rechnen nicht zu üben Gelegenheit hatte und seine Hand durch das Nachschreiben verdarb. – Nun fügte es sich, daß er einige Information im Schreiben bekam, die ihm zwar wenig oder gar nichts einbrachte, wobei er aber doch merklich seine Hand übte; da er nun wieder anfing, die Schularbeiten mitzumachen, und dem Rektor seine Exerzitien brachte, so wunderte sich dieser sehr über die Verbesserung seiner Hand und gab ihm sogleich etwas abzuschreiben, welches aber dort im Hause geschehen mußte, so daß er auf diese Weise wieder Zutritt zu dem Rektor erhielt; welches ihn denn auch mit einiger Hoffnung, sich wieder in Kredit zu setzen, belebte, die aber bald niedergeschlagen wurde, da sein Vater einmal nach Hannover herüberkam und der Pastor Marquard demselben keinen andern Trost gab, als daß sein Sohn ein Schl...l sei, aus dem nie etwas werden würde. –

Da sein Vater wieder wegreiste, begleitete er ihn bis vors Tor hinaus, und hier war es, wo ihm derselbe die tröstlichen Worte des Pastor Marquard hinterbrachte und ihm dabei die bittersten Vorwürfe machte, daß er die Wohltaten, welche man ihm erwiesen, so schlecht erkennte, wobei er ihn zugleich auf den Rock, den er trug, verwies und ihm diesen als ein unverdientes Geschenk von seinen Wohltätern schilderte. – Dies letztere brachte Reisern auf; denn der Rock, welcher von groben grauen Tuch war, das ihm ein völliges Bedientenansehen gab, war ihm immer verhaßt gewesen, und er ließ sich daher gegen seinen Vater verlauten, daß ein solcher Bedientenrock, den er zu seinem Ärger tragen müsse, eben kein großes Gefühl von Dankbarkeit bei ihm erwecken könne. –

Darüber geriet sein Vater, dem die Grundsätze von der Demütigung und Ertötung alles Stolzes und Eigendünkels aus den Schriften der Madam Guion heilig waren, in eine Art von Wut – drehte sich schnell von ihm und gab ihm seinen Fluch auf den Weg. – Reiser wurde ebenfalls hiedurch in einen Zustand versetzt, worin er sich noch nie befunden hatte, alles, was er bisher von seinem widrigen Schicksal gelitten und geduldet hatte, und daß nun auch sein Vater sogar ihn von sich stieß und ihm seinen Fluch gab, fuhr ihm auf einmal durch die Seele.

Er stieß, indem er nach der Stadt zurückging, laute Gotteslästerungen aus und war der Verzweiflung nahe – er wünschte sich wirklich vom Erdboden verschlungen zu sein – und der Fluch seines Vaters schien ihn im Ernst zu verfolgen.

Dies hemmte wieder auf eine Weile alle seine guten Vorsätze und seinen bisher freiwillig ununterbrochenen Fleiß.

Der Sommer ging nun zu Ende – und ein anhaltender körperlicher Schmerz fing nun öfter wieder an, seinen Geist niederzudrücken. Er hatte von dieser Zeit an unaufhörliches Kopfweh, welches ein ganzes Jahr anhielt, so daß fast kein Tag und keine Stunde dazwischen ausfiel, wo er sich von diesem fortdaurenden Schmerz befreit gefühlt hätte. –

Der Schneider, bei dem er nun ein Jahr gewohnt hatte, sagte ihm auch das Logis auf, und er zog in einer abgelegenen Straße bei einem Fleischer ins Haus, wo noch einige Schüler nebst ein paar gemeinen Soldaten im Quartier lagen. –

Er mußte sich hier auch mit unten in der Stube aufhalten, und seine Einrichtung mit dem Klavier und dem Bücherbrette darunter blieb wie vorher – statt des Bodens aber erhielt er oben ein kleines Kämmerchen, wo er mit noch einem Chorschüler schlief, und im Sommer, wenn es warm war, jeder für sich allein sein konnte.

Der Umgang mit seinem Wirt, dem Fleischer, mit den beiden Soldaten, die dort im Quartier lagen, und ein paar lüderlichen Chorschülern, die noch nebst ihm da wohnten, konnte zur Bildung und Verfeinerung seiner Sitten eben nicht viel beitragen. –

Alles versammlete sich im Winter des Abends in der Stube, und weil er bei dem Geräusch und Lärmen doch nicht arbeiten konnte, so mischte er sich lieber mit unter den Haufen und amüsierte sich mit den Leuten, die nun einmal den nächsten Kreis um ihn her ausmachten, so gut er konnte.

Ohngeachtet seiner immerwährenden Kopfschmerzen arbeitete er doch auch, sooft er nur ein wenig in Ruhe sein konnte, für sich und lernte auf die Weise in Zeit von einigen Wochen Französisch, indem er sich einen lateinischen Terenz mit der französischen Übersetzung liehe und sich täglich ununterbrochen selbst eine Lektion gab; er kam dadurch wenigstens so weit, daß er von der Zeit an jedes französische Buch ziemlich verstehen konnte.

Da sich indes sein äußerer Zustand nicht verbesserte und überdem noch körperlicher Schmerz ihn unaufhörlich drückte, so versetzte ihn dies in eine Seelenstimmung, wo ihm Youngs Nachtgedanken, die er damals zufälligerweise erhielt, eine höchst willkommene Lektüre waren – es deuchte ihm, als fände er hier alle seine vorigen Vorstellungen von der Nichtigkeit des Lebens und der Eitelkeit aller menschlichen Dinge wieder. – Er konnte sich nicht satt in diesem Buche lesen und lernte die Gedanken und Empfindungen, welche darin herrschen, beinahe auswendig.

Die einzige Linderung bei seinen Kopfschmerzen war, wenn er ausgestreckt rücklings auf dem Bette liegen konnte – in dieser Stellung blieb er denn oft ganze Tage lang und las – dies war der einzige ihm übriggebliebene Genuß des Lebens, an dem er sich noch festhielt, da sonst die tötendste Langeweile ihm das elende Leben, was er noch fortschleppte, unerträglich gemacht haben würde. –

Um sich nun zuweilen dem Geräusch, das ihn umgab, zu entziehen, scheute er manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde und er sicher war, daß er von niemanden gesehen, noch von irgendeinem Menschen würde angeredet werden, einen Spaziergang auf dem Walle um die Stadt; und bei diesen Spaziergängen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. –


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