Karl Philipp Moritz
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Karl Philipp Moritz

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Hartknopf lernt den Grobschmied Kersting kennen

– der kam links von einem benachbarten Flecken auf einem schmalen Weg über das Torfmoor hingewandert, als die Sonne sich schon zum Untergange neigte – da gesellte er sich zu dem Prediger Hartknopf, dessen erste Predigt in Ribbeckenau er in einem dunklen Winkel in der Kirche mit lauschendem Ohre vernommen hatte.

Denn er mochte sich der Gemeinde nicht zeigen, weil er eine zu seltene Erscheinung in dieser Kirche war, deren Schwelle bei Lebzeiten des verstorbenen Pfarrers sein Fuß niemals wieder betrat, nachdem er sich einmal an Gestalt und Gebärde des Redenden geärgert hatte.

Bei dem ersten Abendgruße aber fand Hartknopf seinen Mann an diesem geraden und unbiegsamen Wanderer durch das Leben, der mit festem Tritt den Boden zeichnete, der ihn trug, mit freiem Auge in die Weite um sich her blickte und mit wohlwollendem Anstande Hartknopf seine Rechte bot.

Dieser Grobschmied Kersting war ein stiller Einwohner in Hartknopfs Pfarrdorfe; allein er war wegen seiner Geschicklichkeit in Pferdekuren in der ganzen umliegenden Gegend berühmt. Daß er aber auch Menschenkuren durch die Zaubermittel einer wohlabgewogenen, aus dem Innersten des Herzens strömenden Beredsamkeit verrichtete, darum rühmte ihn niemand, denn niemand wußte es, der gebessert von ihm ging, durch wessen Rat er gebessert ging – weil Kersting den Menschenarzt unter dem Pferdearzt und Grobschmied so fein zu verstecken wußte, daß ihn unter dieser groben Hülle niemand ahnte.

Ich lernte diesen merkwürdigen Mann, welchen ich, da ich Hartknopf besuchte, in Ribbeckenau nicht vorfand, erst viele Jahre nachher auf einer Reise von Hannover nach Braunschweig auf dem Postwagen kennen, nachdem er schon lange in einer ganz anderen Lage gewesen war, und doch noch immer Vergnügen daran fand, unter dem Titel eines Grobschmieds seinen Rang und Wert unter den Menschen vor neugierigen Augen zu verbergen. Denn, so wie viele die Sucht haben, mehr zu scheinen, als sie sind, so hatte er den Fehler weniger scheinen zu wollen als er war.

O wie fühlte ich damals mein Herz erweitert, als ich diesen simplen Mann, der sich beim Ausfahren aus dem Stadttor als Grobschmied angegeben hatte, auf dem Postwagen hinter mir sitzend, mit seinem zehnjährigen Sohn Worte der Weisheit, eine seltene Sprache reden hörte, die nur hier und da aus einem Munde noch widerhallt, damit sie im Gedächtnis der Menschen nicht ganz verlösche. –

Seine Worte hoben allmählich die Scheidewand weg, die durch Alter, Sitten, Stand und Sprache Menschen von Menschen sondert. –

Die Menschen fanden sich und kannten sich wieder vom Anfang bis zum Niedergang und wunderten sich, so lange sich verkannt zu haben. Der hohe Gedanke der immerwährenden, sich stets selbst verjüngenden Menschheit durchbebte die Seelen.

Wir hatten die Wälle und Türme von Braunschweig schon im Angesicht. Wir alle waren einige Minuten still; der Knabe schmiegte sich gerührt an seinen Vater; und ein armer polnischer Jude, welcher mitfuhr, hob in hebräischer Sprache den Psalm an herzusagen.

»Wenn die Hilfe aus Zion kommen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden.«

»Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.«

»Da wird man sagen unter den Heiden: Der Herr hat Großes an ihnen getan.«

»Der Herr hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich«

»Herr, wende unser Gefängnis, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest.«

»Die mit Freuden säen, werden mit Freuden ernten.«

»Sie gehen hin und weinen, und tragen edlen Samen, und kommen mit Freuden, und bringen ihre Garben. »

Der Jude dachte nicht daran, ob ihn jemand verstand oder nicht, da er den Psalm hersagte, und alles war aufmerksam und still im sympathetischen Mitgefühl der Menschheit, die sich sehnt, dem Druck entnommen zu sein, der auf ihr liegt, und in ihrer angestammten Größe wieder zu schimmern.

Der Grobschmied Kersting stieg vor dem Tor vom Wagen herab und ließ uns in einem angenehmen Staunen zurück über den wunderbaren Mann, den wir in unserer Mitte gehabt hatten. –

Nie werde ich seine Gestalt und die Würde und Wahrheit in seinem Blick vergessen, womit er die Gemüter beherrschte. Denn damals ruhte auch Hartknopfs Geist auf ihm, mit dem er nun bei Sonnenuntergang auf Ribbeckenau zuwanderte, und zum ersten Mal die süßen Worte der Erkennung vom Anbeginn verwandter Seelen mit ihm wechselte.

Diese Erkennungsworte lösen sich immer wieder in einem einzigen hohen Begriff auf, der heißt:

Humanitas.


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