Karl Philipp Moritz
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Karl Philipp Moritz

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Hartknopfs Besuch bei dem Herrn von G.

Die Sonne neigte sich zum Untergang, als Hartknopf aus dem Fichtenwald trat. Das Dorf Nesselrode lag gerade vor ihm in einer fruchtbaren Ebene, und in einiger Entfernung zur Rechten das herrschaftliche Schloß, dessen Fenster im Glanze der Abendsonne schimmerten.

Der Pfad zum Schloß des Herrn von G. führte vor Nesselrode vorbei über ein schönes Ährenfeld. Der Fahrweg aber ging durch das Dorf und war mit einer Allee von Weidenbäumen bepflanzt. Da, wo nun der Fahrweg und der Fußweg dem Schloß gegenüber zusammentraten, stand Hartknopf noch eine Weile still, und schaute durch den Torweg über den Hof bis an die Stufen vor der Tür, welche braun angestrichen war, und gegen die ganz weiß abgeputzte Vorderseite des Hauses auffallend abstach.

Die braune Tür öffnete sich, und Hartknopf blickte beim Strahl der Abendsonne zuerst in dies Heiligtum, das einen Geist umschloß, der in seiner sterblichen Hülle weit über die Erde emporragte und doch in den Bezirken dieser Mauern, auf diesen einzelnen Flecken, seine bestimmte Wirksamkeit hingeheftet hatte; der gleichsam nur noch mit den Spitzen der Zehen diesen Punkt der rollenden Kugel berührte, die nun bald unter ihm weggewälzt seinem spähenden Blick in die ungemessene Ferne sich entziehen sollte.

Ein alter Diener des Herrn von G. führte Hartknopf eine Treppe hinauf in ein grün tapeziertes Zimmer, wo der Herr von G. vor dem Spiegel stand und sich den Bart eingeseift hatte, um sich zu balbieren, welches er eine Stunde vor Sonnenuntergang selbst zu tun gewohnt war. Er eilte mit dem eingeseiften Bart auf Hartknopf zu. Dieser aber bat ihn, er möchte sich nicht stören lassen, und setzte sich solange auf einen Stuhl, bis der Herr von G. sich den Bart abgenommen hatte. Dabei gab er auf seine Augen und Hände acht, wie die Schärfe des Schermessers das Kinn des Greises umwandelte, während in der ruhigen Miene ein schöner Zug nach dem anderen sich enthüllte und endlich um die Lippen das jugendliche bewillkommende Lächeln sich verbreitete, womit der Herr von G., nachdem er sich balbiert hatte, seinen langgewünschten Freund an seinen Busen drückte.

Die Empfindungen Hartknopfs und des Herrn von G. traten in einem Punkt zusammen. Beide suchten die Bewegung, welche in ihren Gemütern herrschte, erst wieder einzuwiegen, ehe sie sich einander mitteilten. Daher fand es der Herr von G. ganz natürlich, daß Hartknopf, ohne weiter etwas zu sagen, sich an das Klavier setzte, das in der Stube stand, und folgende beiden Lieder sang und spielte, welche der Herr von G. in einer freilich noch etwas unpoetischen Sprache aus dem Französischen übersetzt hatte.

Hartknopf kannte diese Lieder schon und fand sie gerade aufgeschlagen auf dem Klavier liegen; das erste war das Wiegenlied selbst, und das andere noch eine Kadenz dazu.


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