Karl Philipp Moritz
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Karl Philipp Moritz

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Der Herr von G.

Dieser Herr von G. war ein Greis von achtzig Jahren, der Hartknopfs Vater gekannt hatte und nun den Sohn zum Prediger berief.

Er hatte schon lange seine Gattin und seine Kinder überlebt, so daß alle seine Gedanken den irdischen Sorgen entrückt waren und sich nun mit etwas Jenseitigem beschäftigten, das sie nicht fassen konnten. –

Nichts konnte sich wohl mehr entgegengesetzt erscheinen, als die Meinungen Hartknopfs und des Herrn von G. Der Herr von G. war für das Leichte, Auflodernde, Himmelanstrebende; Hartknopf für das Schwere, sich niedersenkende, in sich selbst ruhende. –

Der Herr von G. liebte die Pyramidalform; Hartknopf den Kubus. –

Und doch trafen beide immer in gewissen Punkten zusammen. Dann war es, als ob sie sich über einem Abgrund die Hände reichten. –

Der Herr von G. hatte von seiner Jugend in mystische Schriften gelesen, und seine ganze Denkart hatte dadurch gleichsam eine zugespitzte Richtung erhalten. Sie eilte immer zu früh dem Ende zu, ehe sie noch die Fülle gefaßt hatte. Das Fassende erhielt dadurch eine gewisse Einengung, worin Bäume, Pflanzen und Tiere nicht Platz finden konnten. Das Körperliche blieb ausgeschlossen, das Geistige schwebte oben. Zwischen dem, was zusammen gehört, und sich nacheinander sehnt, war eine Kluft befestigt, die der Herr von G, nicht sah, weil er selber in dieser Kluft stand. –

Hartknopf zog einen Brief des Herrn von G. aus der Tasche, den er ihm nach Erfurt geschrieben hatte, und las ihn noch in dem Fichtenwalde durch, da er sich an einen Stamm gelehnt ein paar Minuten ausruhte. Er wollte die gewohnten Züge seiner Hand erst wieder vor seinem Auge erneuern, ehe er sich den Mann persönlich ansah.

Die Buchstabenschrift des Herrn von G. flammte wie sein Geist in die Höhe – wodurch aber der Nachteil entstand, daß die untere Zeile oft in die obere eingriff und die Züge sich untereinander verwirrten.

Hartknopfs Buchstaben standen mehr senkrecht in dichtgeschlossenen Reihen aneinander, so daß auch die Wörter sich fast zu nahe aneinanderdrängten und oft eine ganze Zeile wie ein einziges Wort aussah. –

Der Brief des Herrn von G. an Hartknopf lautete also;

»Da mein bisheriger Prediger in Ribbeckenau am 8ten dieses gestorben ist, so lasse ich an meinen lieben Andreas Hartknopf in Erfurt folgende Anfrage ergehen: ob er gewillt ist, diese von mir ihm zugedachte, nunmehr erledigte Pfarrstelle zu übernehmen?

»Da ich hieran nicht zweifeln kann, so sehe ich mit Verlangen dem Augenblick entgegen, wo unsere Worte und Gedanken sich unmittelbar einander begegnen können – denn ich weiß doch, daß mein Andreas auch seine noch nie gesehenen Freunde liebt.

»Ich möchte ihm noch die Hand geben, ehe ich scheide; denn ich stehe am Rande und harre auf meine Auflösung. Der aber, den ich hier zurücklasse, wird durch harte Prüfungen vollendet werden.

»Ich lade ihn ein zur Schule des Kreuzes; denn er soll nachfolgen seinem Herrn und Meister.«


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