Karl Philipp Moritz
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Karl Philipp Moritz

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Das Wiegenlied

Ein Lied des hl. Johannes vom Kreuz, dem Buch
Aufsteigung des Berges Karmel vorausgesetzt.

 

        Als die Ängsten mich umgaben,
ganz entzündt in finstrer Nacht,
Ward die Lieb in mir erhaben,
Und ihr fester Bund gemacht.
O Glück! ich ging ohne Scheu
Aus der Selbstheit gänzlich aus,
Als ich fröhlich sahe stehen,
Meine Ruh- und Friedenshaus.

Ich ging durch verborgne Stege,
Sicher in der Dunkelheit,
Taumelnd, ohne Furcht im Wege,
Ungestalt und ganz verkleidt;
Ja, in Finsternis verborgen,
Schritt ich aus mir selbsten aus!
Ach! o Glück! da ohne Sorgen,
Ich in Ruhe fand mein Haus.

Keiner konnte mich erkennen,
Noch die Seligkeit der Nacht:
Mein Herz hatte in sich brennen,
Ein verborgnes Licht und Tacht.
Doch verdeckt, und ohne Schauen;
Licht und Führer heimlich bleibt:
Und in dieser Nacht und Grauen
War ich blind, und ganz betäubt.

Diese mir verborgnen Leiter
Brachten mich in Sicherheit,
Führete mich immer weiter,
Bis zum Tag der Ewigkeit,
Wo Gott selbsten Licht und Sonne,
Und das Liebes-Feuer ist,
Friede, Freude, Ruh und Wonne,
Und man alles Leid vergißt.

Nacht, die lieblich führen täte:
Du bist schöner, dunkle Nacht
Als der Glanz der Morgenröte;
Denn du hast in Eins gebracht
Braut und Bräutigam vermählet:
Dieser hat nun inniglich
Seine Braut, die er erwählet,
Überformet ganz in sich.

Mein Geliebter, ohne Schmerzen,
Still und sanft regierte
Und entschlief in meinem Herzen,
Das in Liebe grünete.
Da die Cedern und die Rosen
Sich bewegten in der Luft,
Sanfte tat ich ihm liebkosen
Unter diesem süßen Duft.

Morgenrot, dein sanftes Wehen,
Hat zerstreut mein ganzes Haar,
Kein Begehren könnt bestehen,
Denn der Freund vertrieb es gar,
Da mit klarer Hand er drücket
Meinen Hals, den er verletzt,
Alle Sinnen sind entzücket,
Und ich aus mir selbst gesetzt.

Nunmehr hab ich ganz vergessen,
Wo das Aug sonst hingericht,
Liebster, du hast mich besessen,
Auf dich leg ich mein Gesicht.
Ich hab alles gar verlassen,
Es verschwindt, es ist nicht mehr,
Ich mag nicht Gedanken fassen,
Sie sind bei dem Lilien-Heer.


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