Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zehntes Kapitel

Der Kaiser war am Vorabend der Exekution nach Zarskoje-Ssjelo gefahren, oder wie manche sagten: ›geflohen‹. Jede Viertelstunde schickte man zu ihm direkt von der Richtstätte einen Feldjäger mit einem Bericht. Der letzte überbrachte folgende Meldung von Kutusow:

»Die Exekution ist in vorschriftmäßiger Ordnung verlaufen, und die Ruhe wurde weder von den Truppen noch von den Zuschauern, deren es nur wenige gab, gestört. Infolge der mangelhaften Erfahrungen unserer Henker und der Unfähigkeit, einen Galgen zu bauen, waren drei Delinquenten, und zwar: Rylejew, Kachowskij und Murawjow beim ersten Mal abgestürzt; sie wurden aber gleich darauf wieder aufgeknüpft und erlitten den wohlverdienten Tod. Was ich Eurer Kaiserlichen Majestät untertänigst melde.«

Am gleichen Tage schrieb der Chef des Generalstabs, General Dibitsch, an den Kaiser:

»Ein Feldjäger überbringt Eurer Majestät den Bericht des Generals Kutusow über die Vollstreckung des Urteils an den Schurken. Die Truppen benahmen sich mit Würde, die Verbrecher aber zeigten die gleiche niedrige Gesinnung, die wir an ihnen schon gleich am Anfang sahen.«

»Ich danke Gott, daß alles glücklich abgelaufen ist«, antwortete der Kaiser Dibitsch. »Ich wußte gut, daß die Helden vom Vierzehnten bei dieser Gelegenheit nicht mehr Mut zeigen würden, als nötig. Ich rate Ihnen, mein Lieber, am heutigen Tage die größte Vorsicht zu beobachten.«

Am 14. Juli wurde auf dem Senatsplatz ein Dankgottesdienst abgehalten. Die Feldkirche stand, von Truppen umgeben, vor dem Denkmal Peters des Großen, an der gleichen Stelle, an der am 14. Dezember das Karree der Aufrührer gestanden hatte. Der Metropolit schritt mit der Geistlichkeit die Reihen der Truppen ab und besprengte sie mit Weihwasser.

Das letzte Responsorium, bei dem alle niederknieten, lautete:

»Auch bitten wir unseren Herrn und Heiland, das Bekenntnis und den Dank seiner unwürdigen Knechte zu empfangen für den Schutz, den er uns vor Aufruhr und den Anschlägen auf die rechtgläubige Kirche, den Altar und das russische Reich gewährt hat.«

 

›Ist ihre Hinrichtung die Hinrichtung Rußlands? Nein, sie ist eine Ohrfeige. Macht nichts, sie werden es schon herunterschlucken. Kachowskij hat Recht: ein gemeines Land, ein gemeines Volk. Rußland wird zugrunde gehen . . . Vielleicht ist auch gar nichts da, was zugrunde gehen kann: Es gibt ja gar kein Rußland und hat keines gegeben.‹

So dachte sich Golizyn in seiner neuen Zelle im Newa-Wall, in die man ihn nach der Exekution vom 13. Juli verbracht hatte. Er wußte schon, daß die Todesstrafe vollstreckt worden war – der Feuerwerker Schibajew hatte ihm einige Worte zugeraunt; sonst wußte er aber nichts. In den ersten Tagen nach der Hinrichtung wurden die Arrestanten ebenso streng gehalten wie in den ersten Tagen nach der Verhaftung. Man ließ sie aus den Zellen nicht mehr heraus; die Gespräche und das Klopfen hatten aufgehört; die Wachposten waren wieder stumm und gaben auf alle Fragen nur eine Antwort: »Ich weiß nichts.«

Am Tage der Hinrichtung steckte Poduschkin Golizyn heimlich einen Brief von Marinjka zu. Die Tochter des Platz-Majors Adelaida Jegorowna hatte ihren Vater nach langen Bitten dazu bewogen. Der Brief war nicht erbrochen.

»Lieber Freund, ich schrieb dir so lange nicht, weil ich nicht den Mut hatte und dir die schreckliche Nachricht nicht durch einen Fremden mitteilen wollte. Am 29. Juni starb meine Mama. Obwohl sie schon seit Januar kränkelte, hatte ich ein so schnelles Ende nicht erwartet. Ich kann den quälenden Gedanken nicht los werden, daß ich, wenn auch ohne Willen, dieses Unglück verschuldet habe. Es gibt keinen größeren Schmerz, als die zu späte Reue, daß wir einen, der nicht mehr ist, nicht genügend geliebt haben. Aber ich will davon nicht schreiben, du wirst es selbst verstehen. Nun bin ich ganz allein in der Welt, denn Foma Fomitsch, der mich zwar wie eine Tochter liebt und bereit ist, für mich sein Leben hinzugeben, ist bei seinem Alter nur eine schwache Stütze für mich; (der Ärmste ist nach dem Tode der Großmutter auf einmal alt geworden und wie ein kleines Kind). Ängstige dich aber nicht um mich, mein Freund. Jetzt weiß ich, daß der Mensch, wenn es nötig ist, in sich solche Kräfte findet, die er vorher gar nicht geahnt hat. Ich habe die feste Hoffnung auf die Gnade Gottes und auf den Schutz der Himmelskönigin, unserer Fürbitterin, der Unwankbaren Mauer, der Mutter aller Trauernden niemals aufgegeben und werde sie niemals aufgeben. Jetzt erst habe ich erfahren, wie mächtig Ihr heiliger Schutz ist. Jeden Tag bete ich zu Ihr unter Tränen für dich und für euch alle Unglücklichen. Ich wollte noch viel darüber schreiben, aber ich kann es nicht. Verzeih, daß ich so schlecht schreibe. Ich habe schreckliche Tage durchlebt, als ich die Nachricht erhielt, daß die zweite Kategorie, zu der du gehörst, zum Tode verurteilt ist. Ich wußte übrigens, daß ich dich nicht überleben würde, und dies allein gab mir die Kraft. Stelle dir vor, wie ich mich freute, als ich die Nachricht erhielt, daß die Todesstrafe durch Verbannung nach Sibirien ersetzt worden ist, und die noch größere Freude darüber, daß wir Frauen die Erlaubnis bekommen, unseren Männern in die Verbannung zu folgen. Alle diese Tage hatte ich mich der Fürstin Jekaterina Iwanowna Trubezkaja – welch eine prächtige Frau! – darum bemüht, und jetzt haben wir fast die sichere Gewißheit, daß wir die Erlaubnis erhalten. Ich will nichts, als nur bei dir sein und dein Unglück mit dir tragen. Nun weiß ich wieder nicht, wie es zu sagen. Weißt du noch, wie du, als du krank warst, im Fieber immer sagtest: Marinjka, Mamachen . . .«

Er konnte nicht weiterlesen; der Brief fiel ihm aus der Hand. ›Warum dieser Brief an diesem Tage?‹ fragte er sich. Er wußte selbst nicht, welches Gefühl in ihm stärker war: Die Freude oder der Ekel vor dieser Freude. Er erinnerte sich des schrecklichsten aller seiner Gedanken, vor dem er damals im Alexej-Ravelin fast verrückt geworden war: Die Liebe ist eine Gemeinheit; die Liebe zu einem Lebenden, die Freude eines Lebenden ist Verrat an den Toten; es gibt keine Liebe, es gibt keine Freude, es gibt nichts, außer Gemeinheit und Tod – Tod der Edlen, Gemeinheit der Lebenden.

Am anderen Tag, dem 14. Juli, kam zu ihm gegen Abend P. Pjotr. Wie damals am Palmsonntag, als Golizyn sich weigerte, das Abendmahl zu empfangen, hielt er wieder den Kelch in der Hand; daran, wie er ihn hielt, konnte Golizyn erkennen, daß der Kelch leer war.

Er bemühte sich, Golizyn nicht in die Augen zu sehen; er machte einen verlegenen und unglücklichen Eindruck, Golizyn fühlte aber mit ihm kein Mitleid wie Rylejew. Er sah ihn lange boshaft unter seiner Brille an und sagte mit spöttischem Lächeln:

»Nun, P. Pjotr, ist der Bote gekommen? Ist die Konfirmation eine Dekoration?«

P. Pjotr wollte gleichfalls lächeln, aber sein Gesicht verzerrte sich. Er setzte sich auf einen Stuhl, führte den Kelch an den Mund, ergriff seinen Rand mit den Zähnen und fing an zu schluchzen, erst leise, dann immer lauter und lauter; dann stellte er den Kelch auf den Tisch, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.

›So ein altes Weib!‹ dachte sich Golizyn und sah ihn noch immer stumm und gehässig an.

»Nun, wollen Sie mir alles erzählen!« sagte er, als jener sich etwas beruhigt hatte.

»Ich kann nicht, mein Freund. Später einmal, jetzt kann ich nicht.«

»Zum Galgen führen haben Sie gekonnt, erzählen können Sie aber nicht? Erzählen Sie sofort!« schrie ihn Golizyn streng an.

P. Pjotr sah ihn erschrocken an, trocknete sich die Augen mit dem Tuch und begann zu erzählen, erst ungern, dann immer leidenschaftlicher; offenbar verschaffte ihm dies einen bitteren Genuß.

Als er davon sprach, wie die drei abgestürzt waren und wieder aufgehängt wurden, erbleichte er, bedeckte das Gesicht wieder mit den Händen und fing zu weinen an. Aber Golizyn lachte.

»Ist das ein nettes Land, Rußland! Sie verstehen nicht mal einen Menschen aufzuhängen. Gemein! Gemein! Gemein!«

P. Pjotr hörte plötzlich zu weinen auf, nahm die Hände vom Gesicht und sah Golizyn schüchtern an.

»Wer ist gemein?«

»Rußland.«

»Sie sprechen so schrecklich, Fürst.«

»Wieso? Fühlen Sie sich für das Vaterland beleidigt? Macht nichts. Sie werden es schon hinunterschlucken.«

Beide schwiegen.

Das Fenster der Zelle ging auf die Newa, nach dem Westen. Die Sonne sank ebenso rot, doch weniger trüb als an allen diesen Tagen: Der Dunst hatte sich ein wenig verzogen. In der Ferne, jenseits der Newa, glühten die Fenster des Winterpalais in roten Flammen, als ob innen eine Feuersbrunst wäre. Das rote Licht erfüllte auch die Zelle. Während seiner Erzählung hatte P. Pjotr den Kelch vom Tisch genommen und hielt ihn noch immer in der Hand. Der goldene Kelch leuchtete im roten Strahl blendend wie eine zweite Sonne.

Golizyn sah ihn an, erhob sich, ging auf P. Pjotr zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte noch immer streng:

»Verstehen Sie jetzt, warum ich das Abendmahl nicht empfangen wollte? Verstehen Sie es jetzt?«

»Ich verstehe es«, flüsterte P. Pjotr und blickte ihn an. – Golizyn sah trotz der roten Beleuchtung, daß sein Gesicht leichenblaß war.

Beide schwiegen.

»Wo hat man sie beerdigt?« fragte Golizyn.

»Ich weiß nicht«, antwortete P. Pjotr. »Niemand weiß es. Die einen sagen: gleich neben dem Galgen in einer Grube mit ungelöschtem Kalk; die anderen: auf der Insel Golodai, wo die Viehkadaver eingescharrt werden; andere wieder sagen, man hätte sie in Bastdecken eingenäht, mit Steinen beschwert, in einem Boot ins Meer gefahren und ins Wasser geworfen.«

»Eine Totenmesse habe ich für sie aber doch gelesen!« fuhr er nach einer Pause mit einem einfältigen und schlauen Lächeln fort. »Heute war eine Parade auf dem Senatsplatz mit einem Dankgottesdienst anläßlich der Niederwerfung des Aufstandes. Man besprengte den Platz und die Truppen mit Weihwasser, um sie vom Blut zu reinigen – sie fürchten immer das Blut, aber sie werden es wohl auch mit Weihwasser nicht abwaschen können. Der Metropolit selbst hielt mit der ganzen Heiligkeit den Gottesdienst ab. Ich ging aber nicht hin. Meine Frau sagte: ›Du nimmst dir gar zu viel heraus, P. Pjotr! Paß auf, daß du vom Bischof keine Nase kriegst.‹ – ›Und wenn ich auch eine kriege!‹ sagte ich ihr. Ich ließ das Kasansche Gnadenbild von den anderen Popen auf den Platz fahren, ging aber selbst nicht hin, sondern legte einen schwarzen Ornat an und las eine Totenmesse für die fünf jüngst verschiedenen Knechte Gottes. ›Laß bei deinen Heiligen ruhen, Herr, die Seelen Deiner Knechte: Ssergej, Michail, Pjotr, Kondratij an der Stätte, wo die Gerechten ruhen. Nimm sie, Herr, in Deinen Frieden auf . . .‹ Was soll man da noch reden: Er wird sie aufnehmen, wird sie ganz gewiß aufnehmen!«

Plötzlich richtete er sich in seiner ganzen Größe auf und rief feierlich:

»Ich bezeuge es beim lebendigen Gott: Wie Heilige sind sie gestorben. Wie fertige reife Trauben fielen sie auf die Erde, aber nicht die Erde nahm sie auf, sondern der himmlische Vater. Sie haben Märtyrerkronen errungen, und diese Kronen werden ihnen in alle Ewigkeit nicht genommen werden. Ehre sei Gott dem Herrn! Amen!«

Golizyn kniete wie damals am Palmsonntag nieder und sagte:

»Segnen Sie mich, P. Pjotr.«

Jener hob die Hand.

»Nein, mit dem Kelch.«

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes«, segnete ihn P. Pjotr, mit dem Kelche seine Stirn, Brust und Schultern berührend; dann ließ er ihn den Kelch küssen. Als Golizyn ihn mit den Lippen berührte, fiel ein blutroter Sonnenstrahl auf den goldenen Grund, und der Kelch schien sich mit Blut zu füllen.

P. Pjotr umarmte ihn stumm und wollte gehen.

»Warten Sie«, sagte Golizyn. Er knöpfte den Hemdkragen auf, holte aus dem Busen ein Päckchen Papiere und reichte es dem Geistlichen. – »Was ist das?« fragte P. Pjotr.

»Die Aufzeichnungen Murawjows, sein ›Vermächtnis an Rußland‹. Er wollte, daß ich es Ihnen übergebe. Werden Sie es aufheben?«

»Ja.«

Er umarmte ihn noch einmal und verließ die Zelle.

Golizyn saß lange unbeweglich, ohne zu fühlen, wie die Tränen ihm das Gesicht hinunterliefen, und sah auf die untergehende Sonne – auf den himmlischen, mit Blut gefüllten Kelch. Dann senkte er die Augen und erblickte auf dem Tische Marinjkas Brief. Nun wußte er schon, warum ein solcher Brief an einem solchen Tag gekommen war.

Er gedachte der Worte Murawjows: »Küssen Sie von mir Marinjka!« Er nahm den Brief in die Hand, küßte ihn und flüsterte:

»Marinjka . . . Mamachen!«

Er erinnerte sich, wie er nach der Zusammenkunft mit ihr im Gärtchen des Alexej-Ravelins die Erde geküßt hatte: »Erde, Erde, Allerreinste Mutter!« Und wie auch Murawjow in der letzten Minute vor der Hinrichtung die Erde geküßt hatte. Er erinnerte sich der letzten Worte, die ihm Murawjow durch den Spalt in der Wand zugeflüstert hatte: »Rußland wird nicht zugrunde gehen – Christus wird es retten und noch jemand.« Damals wußte er nicht, wer – nun wußte er es.

Eine Freude, die einem Schrecken glich, durchzuckte sein Herz wie ein Blitz:

»Die Mutter wird Rußland retten.«

 


 


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