Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Siebentes Kapitel

»Wenn ich in die Kasematte Sergej Iwanowitschs komme, empfinde ich die gleiche Andacht, wie wenn ich beim Gottesdienst vor den Altar trete.« An diese Worte des P. Myslowskij mußte Golizyn denken, als er die Aufzeichnungen Murawjows, sein ›Vermächtnis an Rußland‹ gelesen hatte.

Das Fenster seiner Zelle stand offen. Die Festungsbehörde hatte erlaubt, in diesen unerträglich heißen Julitagen die Fenster offen zu halten: Sonst müßten die Arrestanten ersticken. Durch die nächtliche Stille klang vom Kronwerk das Klopfen einer Axt und eines Hammers herüber. Solange Golizyn las, hörte er das Klopfen nicht, als er aber zu Ende war, horchte er auf.

»Tuck – tuck – tuck.« Stille und dann wieder: »Tuck – tuck – tuck.« – Was machen sie wohl? fragte er sich.

Schon am Morgen hatte er auf dem Wall Zimmerleute bemerkt, die etwas bauten; sie hoben bald zwei schwarze Pfosten in die Höhe und ließen sie bald wieder sinken. Ein berittener Generaladjutant mit weißem Federbusch auf dem Hut beobachtete durch ein Lorgnon die Arbeit der Zimmerleute. Dann gingen alle weg.

Und nun wieder dieses: »Tuck – tuck – tuck.« Golizyn trat ans Fenster und sah hinaus. Die Julinacht war hell, aber die Luft wie an allen diesen Tagen von Rauch und Dunst erfüllt. Auf dem Wall bewegten sich im Nebel Schatten: Sie hoben zwei schwarze Pfosten in die Höhe und ließen sie wieder sinken. – ›Was machen sie? Was machen sie?‹ fragte sich Golizyn.

Aus der Nachbarzelle tönte aber Geflüster: Murawjow sprach durch eine Spalte in der Wand mit Bestuschew: Er bereitete ihn auf den Tod vor.

Golizyn legte sich aufs Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Er dachte an sein gestriges Gespräch mit P. Pjotr von den fünf zum Tode Verurteilten. »Erschrecken Sie nicht vor dem, was ich Ihnen sagen werde«, hatte Myslowskij gesagt. »Man wird sie zum Galgen führen, aber im letzten Augenblick wird ein Bote vom Zaren mit der Begnadigung geritten kommen.« – »Die Konfirmation ist ja schon unterschrieben«, erwiderte Golizyn. – »Die Konfirmation ist bloß eine Dekoration!« flüsterte P. Pjotr geheimnisvoll.

Golizyn erinnerte sich auch der anderen Gerüchte über die Begnadigung.

Alle Gefängnisbeamten waren überzeugt, daß die Todesstrafe nicht vollzogen werden würde. »Man wird alle begnadigen«, sagte der Platz-Major Poduschkin, »die Todesstrafe ist in Rußland gesetzlich abgeschafft; kann denn der Kaiser das Gesetz verletzen?« – »Man wird sie begnadigen«, sagten auch die Wachtposten: »Der Kaiser selbst ist am Vierzehnten schuld; warum soll er die andern hinrichten lassen?«

Die Kaiserin-Witwe Maria Fjodorowna erhielt, wie man sich erzählte, vom Kaiser einen Brief, in dem er sie beruhigte und sagte, daß kein Blut vergossen werden würde. Die Kaiserin Alexandra Fjodorowna hatte ihren Mann auf den Knien um Gnade für die Verurteilten angefleht. »Ich werde Rußland und Europa in Erstaunen setzen«, hatte der Kaiser zu Herzog Wellington gesagt.

Auf das vom Obersten Gericht gefällte Urteil hatte der Kaiser erklärt, daß er »nicht nur dem Vierteilen, als einer grausamen Strafe, sondern auch dem Erschießen, als einer Strafe, die nur für militärische Vergehen vorgesehen sei, und sogar dem einfachen Köpfen, mit einem Worte jeder Strafe, die mit Blutvergießen verbunden sei, seine Zustimmung versagen werde.« Die Richter beschlossen daraufhin: »Erhängen!« Die Hinrichtung durch den Strang sei ja kein Blutvergießen. Vielleicht hatten sie sich geirrt: nicht erhängen, sondern begnadigen?

Vergebens zog sich Golizyn die Decke über den Kopf. »Tuck – tuck – tuck.« Stille und dann wieder: »Tuck – tuck – tuck.«

›Wer richtet hin? Der Zar oder Rußland, das Tier oder das Reich des Tieres?‹ fragte er sich plötzlich und sprang entsetzt auf. Dort auf dem Wall ragen und sinken zwei schwarze Pfosten, und auf ihnen schwankt das Schicksal Rußlands wie auf einer schrecklichen Waage. – Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigest, die zu dir gesandt sind! Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und aller Orten ängsten. Und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.‹

Golizyn sank in die Knie und vereinigte sein Flüstern mit dem, das durch die Wand zu ihm drang:

»Rußland geht zugrunde, Rußland geht zugrunde! Gott, rette Rußland!«

 

P. Pjotr reichte Rylejew das Heilige Abendmahl und erteilte ihm die Absolution. Als er seine Zelle verlassen hatte, zog Rylejew die Uhr aus der Tasche: neunzehn Minuten auf eins. Er wußte, daß man ihn um drei holen würde. Also blieben ihm noch zwei Stunden und einundvierzig Minuten. Er legte die Uhr auf den Tisch und verfolgte die Bewegung des Zeigers: neunzehn, zwanzig, einundzwanzig Minuten. Nun, ist es schrecklich? Nein, es ist nicht schrecklich, es ist nur sonderbar. Es erinnerte an einen Zustand, von dem er einmal in einem astronomischen Buch gelesen hatte: Wäre der Mensch auf einen kleineren Planeten geraten, so könnte er leicht die fürchterlichsten Lasten heben und die schwersten Steine wie leichte Bälle von sich schleudern.

Oder es glich auch dem ›magnetischen Zustande‹ (er hatte sich einmal für den Mesmerismus interessiert und auch das in einem Buche gelesen): Wenn man einer Somnambule eine Nadel in den Körper bohrt, so fühlt sie es nicht. Ebenso bohrte auch er eine Nadel nach der anderen in seine Seele und probierte, ob er nicht doch Schmerz empfinden würde.

Die Furcht wirkte nicht; vielleicht wird er den Haß fühlen? Er dachte an seinen Haß auf den Kaiser. – Er hat mich betrogen, verführt, erniedrigt, gequält, geschändet und nun tötet er mich. – Aber er fühlte auch keinen Haß. Er begriff, daß ihn zu hassen dasselbe sei, wie mit der Faust auf die Wand zu hauen, an der man sich angeschlagen hat.

Und die Scham? Früher brannte ihn die Scham wie glühendes Eisen, wenn er sich erinnerte, wie Kachowskij ihn bei der Konfrontation ins Gesicht geschlagen und angeschrien hatte: »Schurke!« Aber auch die Scham brannte nicht, sie war erloschen, wie glühendes Eisen im Wasser. Mag Kachowskij es niemals erfahren, mag es kein Mensch erfahren, daß er, Rylejew, kein Schurke ist – ihm genügt, daß er es selbst weiß.

Er suchte noch die letzte, spitzeste Nadel – Mitleid. Er dachte an Natascha. Er blätterte in ihren Briefen und las:

»Ach, mein lieber Freund, ich weiß nicht, wie mir ist. Zwischen Angst und Hoffnung warte ich auf den entscheidenden Augenblick. Versetze dich nur in meine Lage: ganz allein auf der Welt mit einem unschuldigen Waisenkind! Wir haben ja dich allein gehabt, und du warst unser einziges Glück. Ich bete zu Gott, er möchte mich mit der Nachricht trösten, daß du unschuldig bist. Ich kenne deine Seele: Du hast nie etwas Böses gewollt, hast immer nur Gutes getan. Ich beschwöre dich, verzage nicht und hoffe auf die Güte Gottes und auf das Mitleid unseres engelgleichen Kaisers. Leb wohl, mein unglücklicher Märtyrer. Gottes Güte sei mit dir. Das Leibchen und die zwei Nachtmützen werde ich dir mit der Wäsche schicken. Nastenjka geht es gut. Sie glaubt, du seist in Moskau. Ich sage ihr, daß wir bald zu Papa reisen. Sie ist sehr froh und ungeduldig und fragt, ob wir bald reisen.«

Darunter stand in Nastenjkas großer Kinderhandschrift: »Lieber Papa, ich küsse dir die Hand. Komm schneller zu mir, ich sehne mich nach dir. Wir wollen zusammen zur Großmutter fahren.«

Plötzlich fühlte er, wie ihm etwas die Augen verschleierte. Tränen? Die Nadel war durch das tote Fleisch gegangen und in das lebende eingedrungen. Tut es weh? Ja, aber nicht allzu sehr. Nun ist es schon vorbei. Er dachte sich bloß: Es ist gut, daß er auf den Abschiedsbesuch Nataschas verzichtet hatte; er hätte sie zu sehr erschreckt: Denn den Lebenden sind die Toten schrecklich; je näher sie ihnen im Leben standen, um so schrecklicher sind sie ihnen im Tode.

Es fiel ihm ein, daß er ihr etwas schreiben müsse. Er setzte sich an den Tisch, tauchte die Feder in die Tinte, wußte aber nicht, was zu schreiben. Er tat sich Zwang an und log: »Ich empfinde eine so tröstliche Ruhe, daß ich es gar nicht sagen kann. Liebste Freundin, wie heilsam ist es doch, ein Christ zu sein!«

Er lächelte. P. Pjotr hatte ihm neulich mitgeteilt, daß die Bischöfe, die zum Obersten Gericht gehörten, sich geweigert hätten, das Todesurteil zu unterschreiben: »Wie auch das Urteil ausfällt, werden wir ihm nicht widersprechen, aber in Anbetracht unseres geistlichen Standes können wir es nicht unterschreiben.« So geriet ihm auch der Brief: ›in Anbetracht‹.

Bei Durchsicht der Briefe Nataschas fand er auch die Entwürfe seiner eigenen Briefe an sie, die zum größten Teil von Geld- und Wirtschaftssachen handelten. Er sah auch diese Zettel durch.

»Man muß 700 Rubel in die Leihbank einzahlen . . . Bezahle dem jüdischen Schneider Jauchze die Schuld, wenn du erfährst, daß Kachowskij nicht bezahlen kann . . . Die Aktien liegen in meinem Schreibtisch, in der oberen Schublade links . . . Laß den Hafer und das Heu auf dem Gute verkaufen . . . Ich würde gerne den Schulzen Konon freilassen, aber es wäre doch schade: Er ist ein ehrlicher Alter, solche findet man heute nicht so leicht . . .«

Wie ein Mensch sich wundert, wenn er sein altes Bildnis sieht, so wunderte er sich auch: Bin ich es wirklich?

Plötzlich empfand er Ekel.

›Wie in der Fremde drückt das Leben,
Wann werf ich's ab, wann geht es fort?
Wer wird mir Taubenschwingen geben,
Zu fliegen auf, zu ruhen dort?
Ein stinkend Grab ist mir die Erde,
Die Seele drängt sich aus dem Leib . . .‹

Ein stinkender Hauch des Lebens wehte ihn an. Wahrscheinlich spüren nicht nur die Lebendigen den Gestank der Toten, sondern auch die Toten den der Lebendigen.

Er blickte auf das Heiligenbild: Ob er nicht beten solle? Nein, das Gebet ist zu Ende. Jetzt ist alles ein Gebet: Wenn er atmet, betet er; auch wenn er in der Schlinge erstickt, wird er beten.

Er wurde nachdenklich, aber seltsam: Er hatte dabei keine Gedanken. Er unterschied seine Gedanken nicht, wie man in einem sich schnell drehenden Rade die Speichen nicht unterscheidet. Er wiederholte nur mit immer anwachsendem Erstaunen: »Da ist es, da ist es, es – es – es!«

Er fühlte sich müde und legte sich hin. Er dachte sich noch: ›Daß ich nur nicht einschlafe; man sagt, daß die zum Tode Verurteilten besonders fest schlafen‹, und schlief ein.

Ihn weckten Schritte und das Zuschlagen von Türen im Korridor. Er sprang auf und sah nach der Uhr: drei Uhr vorbei. Schlösser und Riegel klirrten. Er schauderte vor Entsetzen, als hätte man ihn mit dem Kopf in eiskaltes Wasser getaucht.

Als er aber dem Platz-Major Poduschkin und dem Wärter Trofimow, die in die Zelle traten, ins Gesicht blickte, war das Entsetzen sofort verschwunden, als hätte er es von sich genommen und ihnen mitgeteilt: Er empfand kein Grauen mehr, das Grauen hatte sich ihrer bemächtigt.

»Jegor Michailowitsch, schon?« fragte er Poduschkin.

»Nein, es ist noch viel Zeit. Ich wäre noch nicht gekommen, aber sie haben es auf einmal eilig, obwohl sie noch gar nicht fertig sind . . .«

Rylejew begriff: Der Galgen ist noch nicht fertig. Poduschkin sah ihm nicht in die Augen, als schämte er sich. Ebenso Trofimow. Rylejew merkte, daß er sich auch selbst schämte. Es war die Scham vor dem Tode, die dem Gefühl des Nacktseins gleicht: Wie die Kleidung vom Leibe fällt, so fällt der Leib von der Seele.

Trofimow brachte Ketten, Sträflingskleider – Rylejew hatte noch immer den Frack an, in dem er verhaftet worden war – und ein reines Hemd aus der letzten Sendung Nataschas: Nach russischer Sitte werden Sterbende mit reiner Wäsche bekleidet.

Er zog sich um, setzte sich an den Tisch und begann, während ihm Trofimow die Fußfesseln anlegte, einen Brief an Natascha. Es wurde wieder »in Anbetracht«; aber er kümmerte sich nicht mehr darum: Sie wird ihn auch so verstehen. Nur eine Stelle kam wirklich vom Herzen: »Meine Freundin, du hast mich während acht Jahren glücklich gemacht. Worte können meine Gefühle nicht wiedergeben. Gott wird es dir vergelten. Sein heiliger Wille geschehe.«

Nun kam P. Pjotr. Er begann von Buße, Verzeihung und Ergebenheit in den Willen des Herrn zu sprechen. Da er aber merkte, daß Rylejew ihm nicht zuhörte, schloß er einfach:

»Kondratij Fjodorowitsch, haben Sie vielleicht noch Wünsche?«

»Nein, was soll ich noch wünschen? Ich glaube, es ist alles, P. Pjotr«, antwortete Rylejew ebenso einfach und lächelte. Er wollte sogar scherzen: »Die Konfirmation ist aber doch keine Dekoration!« Als er aber Myslowski anblickte und seine Scham und sein Entsetzen sah, fühlte er Mitleid mit ihm. Er nahm seine Hand und drückte sie sich aufs Herz.

»Fühlen Sie, wie es schlägt?«

»Ja.«

»Schlägt es gleichmäßig?«

»Ja, gleichmäßig.«

Er holte ein Tuch aus der Tasche und gab es dem Geistlichen.

»Übergeben Sie es dem Kaiser. Sie werden es nicht vergessen?«

»Nein. Was soll ich ihm sagen?«

»Nichts. Er weiß es selbst.«

Es war das Tuch, mit dem Nikolai Rylejew die Tränen abgewischt hatte, als er beim Verhör zu seinen Füßen weinte, durch die Gnade des Zaren »niedergeschmettert«.

Poduschkin ging hinaus und kam mit solcher Miene zurück, daß Rylejew begriff, daß es Zeit sei.

Er stand auf, sah das Heiligenbild an und bekreuzigte sich; er bekreuzigte auch Trofimow, Poduschkin und P. Pjotr selbst; er lächelte ihm dabei zu, als wollte er sagen: ›Jetzt nicht du mich, sondern ich dich.‹ Er machte nach allen Seiten das Zeichen des Kreuzes, als bekreuzigte er seine unsichtbaren Freunde und Feinde; es war, als täte er es nicht von selbst, sondern folge einem fremden Befehl. Seine Gebärden waren so sicher und befehlend, daß niemand sich wunderte und alle es als selbstverständlich hinnahmen.

»Nun, Jegor Michailowitsch, ich bin fertig!« Und alle verließen die Zelle.

 


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