Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zweites Kapitel

Vom 27. November 1825 an, als man vom Ableben des Kaisers Alexander I.Alexander I. (1777-1825), nach dem gewaltsamen Tode seines Vaters Paul I. (am 11. März 1801) Kaiser von Rußland. Da er nach seinem am 1. Dezember 1825 zu Taganrog erfolgten Tode keinen Erben hinterließ, sollte der Thron an seinen ältesten Bruder Konstantin übergehen, der jedoch zugunsten des folgenden Bruders Nikolai, ohne Wissen des letzteren, verzichtet hatte. Die aus diesem Umstande in den ersten Dezembertagen 1825 entstandene Verwirrung wurde von einem Fähnlein Freiheitsschwärmer – später Dekabristen (Dezembermänner) genannt – zu einem Aufstand ausgenützt. Anm. d. Übers. erfuhr, wurde es in Petersburg ungewöhnlich still. Alles verstummte und erstarb, hielt gleichsam den Atem an. Die Theater waren geschlossen; bei den Wachtparaden durfte keine Musik spielen; die Damen legten Trauer an; in den Kirchen wurden Seelengottesdienste abgehalten, das traurige Glockengeläute schwebte von früh bis spät über der Stadt.

Rußland leistete den Treueid Konstantin I. Die Ukase wurden mit seinem Namen gezeichnet; in der Münze prägte man Rubel mit seinem Bildnisse; in den Kirchen wurde für ihn gebetet. Man erwartete ihn von Tag zu Tag, aber er kam nicht, und in der Stadt gingen allerlei Gerüchte. Die einen sagten, er hätte auf den Thron verzichtet die andern, er hätte eingewilligt; aber die Wahrheit blieb unbekannt.

Zur Beruhigung der Hauptstadt wurde bekanntgegeben, daß die Kaiserin-Witwe einen Brief bekommen hätte, in dem seine Majestät seine baldige Ankunft in Aussicht stellte; dann, daß der Großfürst Michail PawlowitschMichail Pawlowitsch (1798-1849) Großfürst, jüngster Sohn Pauls I., Oberbefehlshaber der Artillerie. Anm. d. Übers. ihm schon entgegengefahren sei. Aber die beiden Nachrichten erwiesen sich als falsch.

Die Kuriere rasten aus Petersburg nach Warschau und aus Warschau nach Petersburg; die Brüder tauschten Briefe aus, aber die Lage klärte sich nicht.

»Es wäre Zeit, diesem Austausch von Liebenswürdigkeiten ein Ende zu machen«, brummten die Würdenträger.

»Wann werden wir endlich erfahren, wer bei uns Kaiser ist?« entrüstete sich Kaiserin Maria Fjodorowna,Maria Fjodorowna (1759-1829), Kaiserin-Witwe, Mutter Alexanders. Anm. d. Übers. der die Geduld riß.

»Wir haben auf dem Throne einen Sarg stehen«, tuschelten die treuen Untertanen mit stillem Entsetzen.

Am Tage nach der Vereidigung erschienen in den Schaufenstern der Läden auf dem Newskij-Prospekt Bildnisse des neuen Kaisers Die Leute drängten sich vor den Fenstern. Auf den Bildern sah er häßlich aus, in Wirklichkeit war er aber noch häßlicher. Er war stutznäsig wie Paul I.; hatte große, trübblaue, hervorquellende Augen, gerunzelte Brauen aus dichten Büscheln hellblonder Haare; die gleichen Haarbüschel über dem Nasenrücken; in Augenblicken des Zornes sträubten sie sich wie Borsten; lange Arme, die wie bei einem Affen bis unter die Knie reichten; man hatte den Eindruck, daß er auch auf allen Vieren gehen könne. Er glich ganz einem großen menschenähnlichen Affen. Man erinnerte sich, wie sich die Großmutter, Kaiserin Katharina die Große, über das zügellose und ehrlose Benehmen des Enkels beklagte: »Überall, sogar auf der Straße benimmt er sich so unanständig, daß ich immer erwarte, jemand werde ihn verprügeln. Ich begreife gar nicht, wie er zu diesem gemeinen Sansculotismus kommt, der ihn vor allen erniedrigt.«

Seine Briefe an seinen Lehrer, den Franzosen de Laharpe unterschrieb er mit »L'âne Constantin«. Aber er war gar nicht dumm; er stellte sich nur närrisch, damit man ihn mit der Krone in Ruhe lasse. »Despotischer Sturmwind« nannte man ihn in seiner Umgebung. Bei einer Truppenparade scheute einmal sein Pferd. Er zog seinen Pallasch und richtete damit das Tier so zu, daß es beinahe verendete. So ein Pferd sollte nun Rußland sein, Konstantin aber sein rasender Reiter. Man hoffte übrigens, daß er »aus angeborenem Ekel« auf die Regierung verzichten werde.

»Man wird mich erdrosseln, wie man meinen Vater erdrosselt hat«, pflegte er mit einem gehässigen Lächeln zu sagen. »Ich kenne euch, Kanaillen: Jetzt schreit ihr Hurra, wenn man mich aber auf die Richtstätte führt und euch fragt, ob man mich hinrichten soll, werdet ihr alle schreien: ›Ja!‹«

Man erzählte sich, daß es ihm, als er das Manifest von seiner Thronbesteigung las, so schlecht wurde, daß man ihn zur Ader lassen mußte.

»Wollen die Narren mich vielleicht zum Zaren anwerben, wie man Rekruten anwirbt?« schrie er in seiner Wut. »Ich will nicht! Ihr habt euch selbst die Suppe eingebrockt, löffelt sie auch selbst aus.«

Als man es in Petersburg hörte, entrüstete man sich allgemein.

»Man darf doch nicht mit der Thronfolge wie mit einem Privateigentum spielen«, sagten die einen.

»Warum denn nicht?« entgegneten die andern. »In Rußland darf man alles. Wir sind ja feig. Wenn man uns nur mit Arrest auf der Hauptwache droht, so fügen wir uns gleich.«

»Wollen wir wetten, wem die Hammel zufallen?« fragten die Witzlinge.

»Was für Hammel?«

»Wir. Treibt man uns denn nicht von einem Treueid zum andern wie eine Hammelherde?«

Man diskutierte auch die Frage, wer besser sei: KonstantinKonstantin, Großfürst, zweiter Sohn Pauls I. (1779-1831), galt bei Lebzeiten Alexanders I. als Thronfolger; Statthalter in Polen; floh 1831 während des Aufstandes aus Warschau und starb zu Witebsk an der Cholera. Anm. d. Übers. oder Nikolai.

Kaiser Paul I.Paul I., geb. 1745, Sohn Katharina der Großen und (angeblich) Peters III., Kaiser 1796-1801 (wohl die traurigste Periode der russischen Geschichte); wurde in der Nacht auf den 11. März 1801, wohl mit Wissen der Familie, ermordet. Anm. d. Übers. hatte Nikolai im Alter von fünf Monaten zum Chef der Leibgarde-Kavallerie mit dem Range eines General-Leutnants ernannt. Der Junge schlug, noch ehe er gehen lernte, die Trommel und fuchtelte mit seinem kleinen Säbel. Als er größer wurde, sprang er oft nachts aus dem Bett, um mit dem Gewehr Posten zu stehen. Er hatte außer für Soldaten für nichts Interesse. Der Erzieher der Großfürsten, Lamsdorff,Lamsdorf, Graf Matwej Iwanowitsch (1745-1828), Gouverneur von Kurland, später Erzieher der Großfürsten Konstantin und Nikolai. Anm. d. Übers. schlug die Jungen mit einem Ladestock auf die Köpfe, so daß sie bewußtlos wurden. »Gott verzeihe ihm die dürftige Erziehung, die wir erhalten haben«, pflegte später Nikolai selbst zu sagen.

Niemals hatte er an die Thronfolge gedacht; bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahre übte er auch gar keine Amtstätigkeit aus, und seine ganze Weltkenntnis stammte aus den Antichambres und dem Sekretärzimmer im Schlosse. ›Rasend wie Pawel und rachsüchtig wie Alexander.‹ Allerdings klug; aber seine Klugheit fürchtete man noch mehr: je klüger, umso bösartiger.

Er war im preußischen Militärstatut vollkommen bewandert und überhaupt ein Deutscher. Man prophezeite, daß nach seiner Thronbesteigung die Deutschen Rußland, das schon ohnehin ein ›beinahe erobertes Land‹ war, gänzlich überschwemmen würden.

Konstantin ist ein Tier, Nikolai eine Maschine. Was ist besser: Tier oder Maschine?

 


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