Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zehntes Kapitel

In der Nacht vom 13. auf den 14. Dezember versammelten sich die Verschwörer zum letzten Male in der kleinen Wohnung Rylejews. Nachts drängten sie sich, kamen und gingen genau wie am Tage. Aber sie schrieen und zankten sich nicht mehr wie neulich; ihre Reden waren still, ihre Gesichter feierlich: Alle fühlten, daß der entscheidende Augenblick gekommen war.

Ein älterer Herr in abgetragenem grünem Frack, mit hoher weißer Halsbinde und Schildpattbrille, dessen Gesicht trocken und rauh schien, in der Tat aber begeistert und träumerisch war, der ehemalige Beamte an der Kanzlei des Moskauer General-Gouverneurs, Baron Wladimir Jwanowitsch Steinheil, eines der ältesten Mitglieder der Nordischen Gesellschaft, las undeutlich aus einem schmierigen Konzept:

»Durch ein Manifest des Senats wird verkündet:

»Die Absetzung der bisherigen Regierung.
Die Einsetzung einer Provisorischen Regierung bis zur Konstituierung
einer ständigen.
Die Freiheit der Presse und Abschaffung der Zensur.
Die Gleichheit aller Stände vor dem Gesetz.
Die Abschaffung der Leibeigenschaft.
Die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens.
Die Einführung von Schwurgerichten.
Die Abschaffung des stehenden Heeres.«

»Wie wollen wir das aber machen?« fragte jemand.

»Es ist sehr einfach«, antwortete Steinheil. »Wir zwingen den Synod und den Senat, den Obersten Rat der Geheimen Gesellschaft zur provisorischen Regierung mit unbeschränkter Gewalt zu erklären; wir verteilen die Ministerien, Armeekorps und die höchsten Kommandostellen unter den Mitgliedern der Gesellschaft und schreiten dann zur Wahl der Volksvertreter, die die neue Ordnung im ganzen russischen Reiche zu bestätigen haben . . .«

Ein jeder, der diese drei kleinen Zimmer betrat, war sofort wie von einem starken Wein berauscht; das Machtbewußtsein stieg allen zu Kopf: Alles, was sie nur wollen, werden sie durchsetzen; wie sie beschließen, so wird es auch sein.

›Nichts wird daraus!‹ dachte sich Golizyn. »Vielleicht aber doch? Wahnsinnige, Schlafwandler, Pläneschmiede, vielleicht aber auch Propheten? Vielleicht ist das alles keine Erfüllung, sondern eine Verheißung, ein Wetterleuchten und kein Blitz? Aber wo ein Wetterleuchten ist, da wird es auch blitzen.‹

»Die Stadt Nischnij-Nowgorod wird unter dem Namen Slawjansk zur neuen Hauptstadt Rußlands erklärt werden«, verkündete Steinheil.

Golizyn blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die in den Tabakrauchwolken trübe flackernden Wachskerzen, und es war ihm, als sähe er schon die goldenen Kuppeln von Slawjansk, der kommenden Stadt, das Zion der russischen Freiheit.

Der gebückte, knochige, ungelenke und langsame Genieoberst BatenkowBatenkow, Gawriil Stepanowitsch (1793-1863), Oberstleutnant, saß wegen seiner Teilnahme am Aufstand zwanzig Jahre in Einzelhaft auf einer der Aalands-Inseln und wurde dann nach Sibirien verschickt. Starb amnestiert zu Kaluga. Anm. d. Übers. sprach so schwerfällig, als ob er schwere Steine herumwälzte; er rauchte eine lange perlenbestickte Pfeife, aus der er bisweilen die ihm fehlenden Worte herauszusaugen schien. Der Held des Jahres 1812, der in der Schlacht bei Montmirail ›infolge übertriebener Tapferkeit‹ ein Kommando mit Geschützen verloren hatte, war ein Meister in weiblichen Handarbeiten und machte mit Vorliebe Kanevasstickereien. Auch jetzt war er mit einer solchen Stickerei beschäftigt: Er malte sich seine Mitwirkung an der Provisorischen Regierung neben Speranskij, General Jermolow,Jermolow, Alexej Petrowitsch (1772-1861), Oberbefehlshaber auf dem Kaukasus. Anm. d. Übers. dem Erzbischof Philaret und Pestel aus.

Er machte den Vorschlag, »die Besatzung der militärischen Siedlungen Araktschejews in eine nationale Garde umzuwandeln und die Peter-Pauls-Festung der Munizipalität von Petersburg zu übergeben, damit sie darin den Stadtrat und die Stadtwache unterbringe.«

»Bei uns in Rußland ist nichts leichter, als Revolution zu machen: Man braucht nur den Senat zu veranlassen, gedruckte Ukase auszugeben, und alle werden ohne Schwierigkeiten den Treueid leisten. Oder man nimmt einige Truppenteile und zieht unter Trommelwirbel von Regiment zu Regiment, – auch auf diese Weise kann man eine Menge Ruhmestaten vollbringen.«

»Jedenfalls wird auch von uns ein Blatt in der Weltgeschichte zu melden wissen!« rief der Dragonerrittmeister Alexander Bestuschew aus. Er hob die Augen zum Himmel und fügte empfindsam hinzu:

»Mein Gott, wird denn uns das Vaterland nicht zu seinen Söhnen erklären?«

»Lassen Sie das lieber«, versetzte Golizyn trocken mit einer Grimasse.

Der Oberst im Leibgrenadierregiment Bulatow, hübsch, schmächtig und weiß wie eine Porzellanpuppe, mit erstaunten blauen Augen und erstauntem und wahnsinnigem Gesichtchen, hörte allen mit der gleichen Aufmerksamkeit zu, als bemühe er sich, etwas zu begreifen, und könnte es nicht.

»Ich will Ihnen nur das eine sagen, meine Freunde: Wenn ich zum Handeln komme, so wird es auch bei uns manchen Brutus geben, und vielleicht werden wir alle Revolutionäre in den Schatten stellen«, fing er an und hielt plötzlich verlegen inne.

»Wie ist nun der Plan der Erhebung?« fragte Obolenskij.

»Unser Plan besteht in Folgendem«, antwortete Rylejew. »Wir machen Stimmung gegen die Vereidigung, verbreiten in allen Regimentern das Gerücht, daß man Konstantin zum Verzicht gezwungen habe, und sagen, daß die Verzichterklärung durch einen Brief ungenügend sei, er möchte doch ein Manifest veröffentlichen oder, noch besser, persönlich kommen. Und wenn die Regimenter sich einmal empört haben, führen wir sie auf den Senatsplatz.«

»Werden viele Regimenter mittun?« erkundigte sich Batenkow neugierig.

»Rechnen Sie mal selbst: das ganze Ismailowsche, ein Bataillon vom Finnländischen, zwei Kompagnien vom Moskauer, zwei Kompagnien der Leibgrenadiere, die ganze Flottenequipage, ein Teil der Kavallerie und ein Teil der Artillerie.«

»Die Artillerie brauchen wir nicht, wir werden auch mit blanker Waffe fertig«, meldete sich wieder Bulatow.

»Der Erfolg ist sicher! Der Erfolg ist sicher!« riefen alle.

»Was werden wir aber auf dem Senatsplatz machen?« fragte Obolenskij.

»Wir legen dem Senat das Manifest von der Konstitution vor und gehen dann direkt ins Palais und verhaften die Zarenfamilie.«

»Das ist leicht gesagt: Wir verhaften. Wenn sie uns aber entwischt? Das Palais ist groß und hat viele Ausgänge.«

»Es wäre nicht schlecht, einen Plan des Palais zu verschaffen«, riet Batenkow.

»Die Zarenfamilie ist keine Nadel: Wenn es zur Verhaftung kommt, wird sie sich nicht verstecken können«, bemerkte lachend Bestuschew.

»Wir bilden uns gar nicht ein, daß mit der Besetzung des Palais alles erledigt sei«, sagte Rylejew fortfahrend. »Uns genügt, daß der Kaiser mit seiner ganzen Familie flieht, – dann schließt sich uns sofort die ganze Garde an. Es gilt den ersten Schlag zu führen; die Verwirrung, die dann entsteht, wird uns neue Gelegenheit zum Handeln bieten. Vergeßt nicht, Freunde, daß der Erfolg der Revolution auf dem einen Worte beruht: Wage!« Wie eine im Winde lodernde Flamme zitternd, fliegend und funkelnd, war er in diesem Augenblick so schön wie noch nie.

»Ihr habt gar keine Ahnung vom russischen Soldaten, Ihr jungen Herren, ich kenne ihn aber durch und durch«, begann der hagere, dunkle, einem Zigeuner ähnliche Hauptmann Jakubowitsch, der ›Kaukasusheld‹, der an seinem durchschossenen Kopfe eine schwarze Binde trug. »Man muß mit der Plünderung der Branntweinschenken beginnen; und wenn sie einmal ordentlich betrunken sind, läßt man die Soldaten mit den Bajonetten und die Bauern mit den Äxten los: Sollen sie ein wenig plündern und die Stadt an allen vier Ecken anzünden, damit alles Deutsche ausbrennt. Dann nimmt man aus irgend einer Kirche die Fahnen und geht in einer Prozession ins Palais, verhaftet den Zaren, ruft die Republik aus, und die Sache ist fertig!«

»So ist recht! So ist recht! Das ist auch mein Geschmack! Zum Teufel mit aller Philanthropie!« schrie in größter Erregung der Fürst Schtschepin. »Aber sofort! Jetzt gleich! Wir brauchen nicht bis zum Morgen zu warten! Augenblicklich! Auf der Stelle!«

Er sprang auf, und auch alle andern sprangen auf, als wären sie in der Tat entschlossen, mit ihm zu laufen, sie wußten selbst nicht, wohin und wozu.

»Was fällt Ihnen ein, meine Herren? Wohin wollen Sie denn jetzt in der Nacht? Vor der Vereidigung werden sich die Soldaten nicht rühren. Sehen Sie denn nicht, daß Jakubowitsch scherzt?«

»Nein, ich scherze nicht. Wenn es aber Ihnen beliebt, meine Worte als einen Scherz aufzufassen . . .« lächelte Jakubowitsch doppelsinnig.

»Nein, meine Freunde, wenn wir uns an ein großes Werk machen, dürfen wir keine gemeinen Mittel anwenden. Für eine reine Sache bedarf man reiner Hände. Die heilige Flamme der Freiheit darf nicht entweiht werden!« begann Rylejew von neuem. Und alle kamen allmählich zur Besinnung und beruhigten sich.

In einem Winkel am Ofen saßen vor einem besonderen Tischchen mit vielen Flaschen KüchelbäckerKüchelbäcker, Wilhelm Karlowitsch (1791-1846), Dichter, Freund und Studiengenosse Puschkins, floh nach dem Aufstand nach Warschau, wo er auf Grund des von Bulgarin mitgeteilten Signalements verhaftet wurde. Saß bis 1835 in verschiedenen Festungen, kam dann nach Ostsibirien, wo er auch starb. Anm. d. Übers. und Puschtschin.

Der Kollegienassessor Wilhelm Karlowitsch Küchelbäcker, oder ›Küchel‹, wie man ihn nannte, Deutsch-Russe, Herausgeber der Zeitschrift ›Mnemosyne‹, ein blonder, glotzäugiger, junger Mann, lang und ungelenk wie eine langbeinige Mücke, tat, nach seinem eigenen Geständnis, nichts anderes als »Verse schreiben und von der zukünftigen Vervollkommnung des Menschengeschlechts träumen«. Er war nicht mal Mitglied der Geheimen Gesellschaft, gehörte dafür aber einer andern ›Geheimen Gesellschaft‹ an – dem Kreise der Moskauer Schellingianer.

Der Hofgerichtsbeamte Puschtschin, ein Lyzeumsfreund und alter Zechgenosse Puschkins, der ›leichtsinnige Philosoph‹, wie ihn der Dichter nannte, Liebhaber von Wein, Kartenspiel und Frauen, hatte die glänzende Militärkarriere aufgegeben und war als kleiner Beamter in das Departement für Strafsachen am Moskauer Hofgericht eingetreten, um am eigenen Beispiel zu zeigen, »daß man auch in der bescheidensten Stellung dem Vaterlande dienen könne, indem man gute Gefühle und Begriffe verbreite«. ›Die alte Maremjana‹, ›Mutter Ssofja, die um alle besorgt ist‹ – diese Spitznamen, mit denen man ihn im Lyzeum genannt hatte, waren für seine Herzensgüte und Sorge um alle sehr bezeichnend. Er pflegte dem Streit zweier alter Marktweiber wegen eines Knäuels Garn mit solcher Geduld zuzuhören, als ob es sich um die wichtigsten Staatsinteressen handelte.

Küchelbäcker und Puschtschin unterhielten sich über die Naturphilosophie Schellings und beachteten niemand.

»Das Absolute ist die Göttliche Null, in der sich Plus und Minus, das Ideelle und das Materielle versöhnen. Verstehen Sie es, Puschtschin?« – »Nichts verstehe ich, Küchel. Können Sie sich nicht einfacher fassen?«

»Es geht auch einfacher. Die Natur ist eine von der Höchsten Allweisheit ausgezeichnete Hieroglyphe, die Spiegelung des Ideellen im Materiellen. Das Materielle ist dem Abstrakten gleich; das Materielle ist das gleiche Abstrakte, doch nur in verteilter und endlicher Form. Verstehen Sie es?«

Puschtschin glotzte ihn wie ein Uhr an; er hatte etwas zu viel getrunken. Aber er hörte ihm ebenso aufmerksam zu wie jenen beiden Marktweibern.

Der verabschiedete Leutnant von der Linie, Kachowskij,Kachowskij, Pjotr Andrejewitsch, Gardeleutnant, geboren 1799, hingerichtet 1826. Anm. d. Übers. mit dem hungrigen, hageren, wie aus Stein gemeißelten Gesicht, mit hochmütig hervortretender Unterlippe und den unglücklichen Augen eines kranken Kindes oder eines Hundes, der seinen Herrn verloren hat, ging immer aus dem Gastzimmer ins Kabinett, vom Ofen zum Fenster, hin und her, eintönig und unermüdlich wie ein Uhrpendel.

»Genug schon gewandert, Kachowskij!« rief ihm Puschtschin zu.

Jener antwortete aber nicht, als hätte er nichts gehört, und setzte seine Wanderung fort.

»Das Materielle und das Abstrakte ist ein und dasselbe, doch nur in zweifacher Form. Die Idee dieser vollkommenen Einheit ist eben das Absolute. Das Absolute ist die gesuchte Bedingung aller Bedingungen. Nun, haben Sie es jetzt verstanden?« schloß Küchelbäcker.

»Nichts habe ich verstanden. Du bist doch wirklich sonderbar, Küchel! Daß du in einem solchen Augenblick an diese Dinge denken kannst! Nun, wirst du morgen auf den Senatsplatz gehen?«

Kachowskij blieb plötzlich stehen und horchte.

»Ja.«

»Und wirst auch schießen?«

»Ja.«

»Und wie verhält sich dazu dein Absolutes?«

»Mein Absolutes ist damit vollkommen einverstanden. Zwischen dem Guten und dem Bösen muß ein ewiger Kampf bestehen. Erkenntnis und Tugend sind dasselbe. Erkenntnis ist Leben, und Leben ist Erkenntnis. Um gut zu handeln, muß man gut denken!« rief der ungelenke, häßliche, doch von einem inneren Lichte durchleuchtete Küchelbäcker aus. In diesem Augenblick war er beinahe schön.

»Ach, du mein liebes, kleines Absolutchen! Du mein langbeiniger Reiher!« lachte Puschtschin, ihn in seine Arme schließend.

»Sie dürfen darüber nicht lachen«, mischte sich plötzlich Kachowskij ein. »Er spricht vom Wichtigsten. Alles andere ist dagegen Unsinn. Wenn es überhaupt einen Sinn hat, Revolution zu machen, so doch nur dazu. Damit man leben kann, muß die ganze Welt gerechtfertigt sein!« Er beugte sich über Puschtschin und hob drohend seinen Zeigefinger dicht vor seinem Gesicht. Dann richtete er sich auf, machte kehrt und fing wieder an, wie ein Uhrpendel auf und ab zu gehen.

Es war schon spät. Der kleine Diener Filjka schnarchte längst, unnatürlich zusammengekauert, auf dem harten gewölbten Deckel des Kleiderkoffers im Vorzimmer. Die Gäste gingen einer nach dem andern fort. In Rylejews Kabinett waren noch einige Mitglieder zurückgeblieben, um die letzten Abmachungen zu treffen.

»Wegen der Hauptsache haben wir aber noch immer nichts beschlossen, meine Herren«, sagte Jakubowitsch.

»Was ist denn die Hauptsache?« fragte Rylejew.

»Als ob Sie es nicht wüßten! Was fangen wir mit dem Zaren und der Zarenfamilie an – das ist die Hauptsache!« antwortete Jakubowitsch und blickte ihm gerade ins Gesicht.

Rylejew schwieg und hielt die Augen gesenkt, aber er fühlte, daß ihn alle erwartungsvoll anblickten.

»Man muß sie verhaften und in Haft behalten, bis die Große Versammlung zusammentritt, die zu beschließen hat, wer und unter welchen Bedingungen regieren soll«, antwortete er endlich.

»Verhaften?« Jakubowitsch schüttelte zweifelnd den Kopf. »Und wer soll den Zaren bewachen? Glauben Sie denn nicht, daß die Wachtposten schon vor seinem ersten Blick erzittern? Nein, Rylejew, die Verhaftung des Kaisers würde unser Verderben und das Verderben Rußlands, – nämlich einen Bürgerkrieg bedeuten.«

»Nun, was denken Sie darüber selbst, Jakubowitsch?« begann plötzlich Golizyn, der bis dahin geschwiegen hatte. Er ärgerte sich schon längst über den spöttischen Gesichtsausdruck Jakubowitsch: Er prahlt und reizt alle auf, ist aber selbst wohl ein Feigling!

»Was ich mir denke? Dasselbe, was alle«, versuchte Jakubowitsch auszuweichen.

»Nein, antworten Sie. Sie haben die Frage gestellt und müssen sie auch beantworten«, drang Golizyn immer gehässiger auf ihn ein.

»Gerne. Nun, meine Herren, wenn es keine anderen Mittel gibt, so sind wir hier sechs Mann . . .«

Kachowskij, der in diesem Augenblick auf seiner Wanderung ins Kabinett kam und am Fenster kehrtmachte, um wieder zurückzugehen, blieb plötzlich stehen und horchte auf.

»Nein, sieben«, fuhr Jakubowitsch fort mit einem Blick auf Kachowskij. »Wir werfen das Los, und wen es trifft, der muß entweder den Zaren töten oder selbst getötet werden.«

»Vielleicht prahlt er auch nicht«, dachte sich Golizyn, und die Worte Rylejews fielen ihm ein: Ich kenne Jakubowitsch als einen Menschen, der sein Leben verachtet und bereit ist, es bei jeder Gelegenheit zu opfern.

»Nun, meine Herren, sind Sie einverstanden?« fragte Jakubowitsch und blickte lächelnd um sich. – Alle schwiegen.

»Glauben Sie, daß es so leicht ist, die Hand gegen den Kaiser zu erheben?« versetzte endlich Batenkow.

»Nein, das glaube ich nicht. Ein Anschlag auf das Leben des Kaisers ist doch was ganz anderes als ein Anschlag auf das Leben eines einfachen Menschen . . .«

»Auf die geheiligte Person Seiner Majestät des Kaisers«, bemerkte Golizyn boshaft. Jakubowitsch verstand ihn aber nicht.

»Das meine ich eben!« fuhr er fort. »Die geheiligte Person, der Gesalbte Gottes! Das haben wir alle im Blut. Wir sind Revolutionäre und Gottlose, aber doch Russen und Christen. Wir sind keine Schufte und keine Feiglinge und werden alle für das Wohl des Vaterlandes sterben. Wenn es aber gilt, den Zaren zu töten, so wird sich die Hand nicht erheben und das Herz wird widerstreben. Es ist viel schwerer, den Zaren in seinem Herzen zu töten, als auf offener Straße . . .«

»Maul haltest« schrie plötzlich Kachowskij so unerwartet, daß alle sich nach ihm verwundert umsahen.

»Was haben Sie, Kachowskij?« fragte Jakubowitsch, der so erstaunt war, daß er sich nicht einmal beleidigt fühlte. »Wen schreien Sie so an?«

»Dich! Dich! Kein Wort mehr! Untersteh dich nicht, davon zu sprechen! Paß auf!« er drohte ihm mit der Faust und wollte noch etwas hinzufügen, winkte aber nur mit der Hand und brummte in den Bart: »Die verdammten Schwätzer!« Und er wandte sich um und ging, als ob nichts vorgefallen wäre, seinen alten Weg aus dem Kabinett ins Gastzimmer. Mit dem Gesicht eines Schlafenden ging er wieder wie ein Uhrpendel hin und her.

»Ein Schlafwandler!« dachte sich Golizyn.

»Ist er verrückt?« rief Jakubowitsch, vor Wut aufspringend.

Rylejew hielt ihn bei der Hand zurück.

»Lassen Sie ihn. Sehen Sie es denn nicht? Er weiß selbst nicht, was er spricht.«

In diesem Augenblick kam Kachowskij wieder ins Kabinett. Jakubowitsch sah ihn an und spuckte aus.

»Dieser Verrückte! Rylejew, nehmen Sie sich vor ihm in acht, er bringt uns alle ins Unglück!«

»Sie irren, Jakubowitsch«, sagte Golizyn ruhig. »Kachowskij ist bei vollem Verstand. Was er gesagt hat, mußte einmal gesagt werden.«

»Was mußte gesagt werden? Was? Reden Sie doch vernünftig, hol Sie alle der Teufel!«

»Wir haben schon genug geredet. Wenn man zu viel redet, tut man zu wenig.«

»Sind Sie auch verrückt geworden, Golizyn?«

»Hören Sie, mein Herr, ich liebe keinen Streit. Aber wenn Sie es durchaus wünschen . . .«

»Hört auf! Das ist doch wirklich nicht die Zeit für solche Streitigkeiten. Wie, schämen Sie sich nicht, meine Herren!« sagte Rylejew mit einem so bitteren Vorwurf in der Stimme, daß beide sofort zur Besinnung kamen und verstummten.

»Sie haben recht, Rylejew«, sagte Golizyn. »Der Morgen ist klüger als der Abend. Der morgige Tag wird schon zeigen, wer recht hat. Und jetzt brechen wir auf!«

Er stand auf, und alle folgten seinem Beispiel. Der Hausherr begleitete die Gäste ins Vorzimmer. Als sie schon in Mänteln und Pelzen fertig zum Aufbruch standen, kamen sie nach russischer Sitte wieder ins Gespräch. Sie weckten den schnarchenden Filjka und schickten ihn in die Küche, damit er nicht zuhöre.

Alle hatten das Gefühl, daß jetzt, nachdem sie die Frage vom Zarenmord berührt hatten, alles wieder so unklar und verworren war, als hätten sie gar nichts beschlossen und könnten auch niemals etwas beschließen.

»Die bisher getroffenen Maßregeln sind ungenau und unbestimmt«, begann Batenkow.

»Man kann doch nicht erst eine Probe machen«, bemerkte Bestuschew.

»Die Truppen werden auf den Senatsplatz kommen, und dann werden wir schon sehen, was sich machen läßt. Wir werden je nach den Umständen handeln«, schloß Rylejew.

»Jetzt dürfen wir nicht mehr räsonieren: Wir haben nur den Befehlen unserer Führer zu folgen«, bestätigte Bestuschew. »Wo steckt er übrigens, unser Hauptführer? Was hält er sich immer versteckt?« – »Trubezkoi ist heute nicht ganz wohl«, erklärte Rylejew.

»Und morgen . . . wird er morgen auf dem Platz sein?«

Alle Gesichter drückten plötzlich Angst aus.

»Was fällt Ihnen ein, Bestuschew!« rief Rylejew mit so aufrichtiger Empörung, daß alle sich beruhigten.

»Nun, meine Herren, Gott wird schon alles einrichten. Mit Gott! Mit Gott!« sagte Obolenskij.

Jakubowitsch, Bestuschew und Batenkow gingen zusammen fort. Golizyn und Obolenskij verabschiedeten sich noch im Vorzimmer von Rylejew.

Kachowskij, der noch immer auf und ab ging und endlich merkte, daß alle aufbrachen, kam auch ins Vorzimmer und fing an, seinen Mantel anzuziehen. Sein Gesicht war noch immer verschlafen – das Gesicht eines Schlafwandlers.

Rylejew ging auf ihn zu.

»Was hast du, Kachowskij, ist dir nicht ganz wohl?«

»Nein, mir fehlt nichts. Leb wohl.«

Er drückte ihm die Hand, wandte sich um und machte einen Schritt zur Tür.

»Wart, ich hab mit dir noch ein Wort zu reden«, hielt ihn Rylejew zurück.

Kachowskij verzog das Gesicht.

»Ach, noch mehr reden! Wozu?«

»Nun, es geht auch ohne Worte.«

Rylejew nahm ihn beiseite, holte etwas aus seiner Brusttasche und drückte es ihm stumm in die Hand.

»Was ist das?« fragte Kachowskij erstaunt und hob die Hand. Es war ein Dolch.

»Hast du es schon vergessen?« fragte Rylejew.

»Nein, ich weiß es noch«, antwortete Kachowskij. »Nun, ich danke für die Ehre!«

Es war ein längst verabredetes Zeichen: Der Dolch sollte dem eingehändigt werden, den der Oberste Rat der Geheimen Gesellschaft zum Zarenmörder auserkor.

Rylejew legte ihm beide Hände auf die Schultern und begann höchst feierlich zu sprechen; er hatte sich die Worte offenbar vorher zurechtgelegt und vielleicht sogar für die kommenden Geschlechter berechnet. »Auch von uns wird ein Blatt in der Weltgeschichte zu melden wissen«, wie vorhin Bestuschew gesagt hatte.

»Liebster Freund, du bist auf dieser Erde verlassen und elend. Ich kenne deine Selbstaufopferung. Du kannst größeren Nutzen bringen, als auf dem Senatsplatze: Töte den Zaren . . .«

Rylejew wollte ihn umarmen, Kachowskij rückte aber weg.

»Wie soll ich das machen?« fragte er ruhig, beinahe verträumt.

»Zieh dir eine Offiziersuniform an, geh in aller Frühe, noch vor der Erhebung, ins Palais und töte ihn dort. Oder auf dem Platze bei seiner Ausfahrt«, sagte Rylejew.

In Kachowskij ging langsam eine Veränderung vor sich wie im Gesicht eines Menschen, der erwachen will und noch nicht kann. Endlich leuchtete es in seinen Augen auf, als hätte er jetzt erst begriffen, mit wem und worüber er sprach. Der Schlafwandler war erwacht.

»Gut«, sagte er erbleichend, aber noch immer ruhig und verträumt. »Ich – ihn, und du – alle? Hast du dich schon entschlossen?«

»Warum denn alle?« flüsterte Rylejew, gleich ihm erbleichend.

»Was heißt, warum? Du hast doch selbst gesagt: Es genügt nicht, ihn allein, man muß alle . . .«

Rylejew hatte das niemals gesagt, hatte sogar gefürchtet, daran auch nur zu denken.

Er schwieg. Kachowskij wurde aber immer bleicher und bohrte in ihn immer tiefer seinen brennenden Blick.

»Nun, was schweigst du? Sprich! Oder darf man es gar nicht sagen? Man darf es nicht sagen, darf es aber tun . . .«

Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich, die Lippen krümmten sich zu einem Lächeln, und die hochmütig hervortretende Unterlippe begann zu zittern.

»Nun, ich danke für die Ehre. Ihr habt keinen besseren finden können, darum fiel die Wahl auf mich. Aber ihr, ihr alle? Oder habt ihr keine Lust, euch mit Blut zu beschmutzen? Ja, natürlich! Ihr seid ja edle und vornehme Herren! Mir braucht man aber nur zu pfeifen! Ein verurteilter Missetäter! Ein verworfener Mensch! Ein niedriges Werkzeug des Mordes! Ein Dolch in deinen Händen!«

»Was hast du, was hast du, Kachowskij? Niemand zwingt dich ja . . . Du hast es doch selbst gewollt . . .«

»Ja, ich selbst! Was ich selbst zu tun beschließe, das werde ich auch tun! Ich werde mich dem Vaterlande opfern, aber nicht dir und nicht der Gesellschaft. Ich will niemand als Sprungbrett dienen. Diese Gemeinheit, diese Gemeinheit! Du wolltest mich unbedingt zu einem Dolch in deiner Hand machen, hast dir solche Mühe gegeben, daß du davon verrückt geworden bist. Du hieltst dich für fein, warst aber so grob, daß jeder Narr dich hätte durchschauen können. Du hast den Dolch wohl geschliffen, aber nimm dich in acht, daß du dich nicht schneidest!«

»Petja, liebster Freund, was sagst du!« Rylejew faltete die Hände wie im Gebet. »Halten wir denn jetzt nicht alle zusammen? Bist du nicht mit uns?«

»Nein, ich bin nicht mit euch! Niemals war ich mit euch und werde niemals mit euch sein! Ich bin allein! Allein! Allein!«

Er konnte vor Aufregung nicht weitersprechen. Er zitterte wie im Krampfe. Sein Gesicht war dunkel und so schrecklich wie das eines Besessenen.

»Da hast du deinen Dolch! Und wenn du dich noch einmal unterstehst, so werde ich dich . . .« Mit der einen Hand schwang er den Dolch über Rylejews Kopf und packte ihn mit der andern am Kragen. Obolenskij und Golizyn wollten Rylejew zur Hilfe stürzen. Kachoskij warf aber den Dolch weg. Die Klinge klirrte am Boden. Kachowskij stieß Rylejew mit solcher Gewalt zurück, daß jener beinahe umfiel, und lief auf die Treppe hinaus.

Rylejew stand einen Augenblick lang wie vom Blitz getroffen. Dann lief auch er auf die Treppe hinaus, beugte sich über das Geländer und rief mit flehender, verzweifelter Stimme:

»Kachowskij! Kachowskij! Kachowskij!«

Er bekam aber keine Antwort. Irgendwo in der Ferne krachte es: Es war wohl die schwere Haustür, die Kachowskij hinter sich ins Schloß warf.

Rylejew stand noch eine Weile, wie auf etwas wartend, auf der Treppe und kehrte ins Vorzimmer zurück. – Alle drei schwiegen, hielten die Augen gesenkt und vermieden, einander anzusehen.

»Ein Verrückter« sagte endlich Rylejew. »Jakubowitsch hat recht: Er wird uns alle ins Unglück stürzen.«

»Unsinn! Er wird niemand ins Unglück stürzen außer sich selbst. Wir sind alle unglücklich, aber er ist noch viel unglücklicher als wir. In einem solchen Augenblick allein! Ganz allein nimmt er das Martyrium für alle auf sich. – Es ist kein größeres Martyrium auf Erden als dieses . . . Warum hast du ihn gekränkt, Rylejew?«

»Ich habe ihn gekränkt?«

»Ja, du. Darf man denn einem Menschen sagen: Töte!?«

»Man darf es nicht sagen, darf es aber tun«, wiederholte Rylejew mit bitterem Lächeln Kachowskijs Worte.

Obolenskij fuhr zusammen und errötete ebenso wie vorhin beim Gespräch mit Golizyn.

»Ich weiß nicht, ob man es tun darf. Es ist aber besser, selbst zu töten, als seinem Nächsten zu sagen: Töte!«, sagte er leise mit großer Anstrengung.

Alle drei schwiegen wieder. Rylejew setzte sich auf den Koffer, auf dem Filjka zu schlafen pflegte, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in die Hände.

Obolenskij setzte sich neben ihn und streichelte ihm mit stiller Liebkosung, wie einem kranken Kinde, den Kopf.

Lange währte das Schweigen.

Endlich hob Rylejew den Kopf. Er schien wieder wie am Morgen schwer krank; er war auf einmal bleich geworden, war gleichsam erloschen: Wo Feuer gewesen, war jetzt nur Asche.

»Schwer ist es, Brüder, schwer! Es geht über meine Kraft!« stöhnte er mit dumpfem Schluchzen auf.

»Kannst du dich noch daran erinnern, Rylejew«, begann Obolenskij, ihm immer noch liebevoll den Kopf streichelnd: »Ein Weib, wenn sie gebiert, so hat sie Traurigkeit, denn ihre Stunde ist gekommen; wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, daß der Mensch zur Welt geboren ist.«

»Welche Worte!« rief Rylejew erstaunt. »Wer hat das gesagt?«

»Hast du es schon vergessen? Macht nichts, es wird dir schon einmal einfallen. Höre weiter: ›Und ihr habt auch nur Traurigkeit; aber Ich will euch widersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.‹ Ja, so ist es, Rylejew: Es war eine Traurigkeit, aber es wird auch eine Freude sein, und unsere Freude soll niemand von uns nehmen!«

In Rylejews Augen glänzten Tränen, und er lächelte durch die Tränen. Er stand auf und legte die Hand auf Golizyns Schulter.

»Wissen Sie noch, Golizyn, wie Sie mir einmal gesagt haben: ›Sie glauben zwar nicht an Gott, aber Gott helfe Ihnen‹?«

»Ich weiß es noch, Rylejew.«

»Nun, sagen Sie es auch jetzt . . .« begann Rylejew. Aber plötzlich errötete er vor Scham. Golizyn verstand ihn. Er bekreuzigte ihn und sagte:

»Gott helfe Ihnen, Rylejew! Christus sei mit Ihnen! Mit uns allen sei Christus!«

Rylejew umarmte mit der einen Hand Golizyn, mit der anderen Obolenskij und zog beide zu sich heran. Und ihre Lippen vereinigten sich in einem dreifachen Kuß.

Durch die Angst, durch den Schmerz, durch die Kreuzespein hindurch leuchtete eine große Freude, und sie wußten schon, daß niemand diese Freude von ihnen nehmen werde.

 


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