Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

›Es ist gut, alles ist gut!‹ dachte sich Golizyn, auf die grüne, verrauchte und schmierige Wand blickend. Das lange, schmale, fensterlose Arrestzimmer der Hauptwache im Erdgeschoß des Winterpalais bekam sein Licht durch die Glastür aus dem Korridor. An der Türe stand ein Wachtposten und blickte herein; auch alle, die vorbeigingen, blickten herein. Um diesen Blicken zu entgehen, setzte sich Golizyn mit dem Rücken zur Tür und sah auf die Wand.

Er verbrachte die zweite Nacht schon auf dem harten, wankenden Rohrstuhl, sich vor Kälte in den Mantel hüllend. Die Füße waren erstarrt, der Rücken schmerzte. Er versuchte sich auf das alte Ledersofa hinzulegen, aber die Wanzen setzten ihm zu sehr zu. Dann breitete er den Mantel auf dem Boden aus und legte sich hin; aber aus dem Spalt unter der Tür und von dem durchfrorenen Brennholz, das neben dem kalten Ofen aufgeschichtet lag, wehte es ihn so kalt an, daß er sich zu erkälten fürchtete: Er hatte sich von seiner Krankheit noch nicht ganz erholt. Schließlich setzte er sich wieder auf den Stuhl und schickte sich drein: ›Es ist auch so gut, alles ist gut!‹

Er erinnerte sich: Als man ihn auf die Hauptwache führte und er auf der dunklen Treppe die Schritte etwas verlangsamte, versetzte ihm einer der Begleitsoldaten mit dem Gewehrkolben einen Schlag auf die Schulter; er sah sich um: Der junge Soldat mit der stumpfen Nase, ohne Schnurrbart und Augenbrauen, sah ihn mit seinen kurzsichtigen Augen mürrisch, doch nicht boshaft an und sagte: »Was schläfst du, du Hundesohn, rühr dich!« ›Auch das ist gut‹, dachte Golizyn, als er sich dessen erinnerte.

Als man ihn ins Wachlokal brachte, begann ihn der diensthabende Feldwebel, der entsetzlich nach Tabak und Schnaps roch, zu durchsuchen. Die dicken Finger mit roten Härchen und Sommersprossen betasteten seinen ganzen Körper. Er nahm ihm das Medaillon mit dem Bilde Ssofjas weg und band ihm die Hände im Rücken so fest zusammen, daß der Strick sich ins Fleisch einschnitt. Am Morgen hatte sich einer der Wachoffiziere seiner erbarmt und ihm die Hände aufbinden lassen. Sie taten aber auch jetzt noch weh. Golizyn betrachtete die von den Stricken zurückgelassenen Spuren, die roten Armbänder und dachte: ›Auch das ist gut!‹

›Marinjka ist aber nicht mehr Marinjka, sondern Fürstin Marja Pawlowna Golizyna‹, erinnerte er sich plötzlich mit freudigem Erstaunen. Er verstand noch immer nicht, wie das geschehen war. ›Wir lassen uns morgen trauen‹, hatte sie ihm einen Tag vorher gesagt. Er widersprach ihr, wunderte sich, warum so schnell, und bat sie zu warten. Aber sie wollte auf nichts hören. ›Wir lassen uns morgen trauen‹, darauf hatte sie sich versteift und fertig. Sie hatte sich alles schon längst überlegt und mit Hilfe Foma Fomitschs, ohne Wissen der Mutter und selbst ohne Wissen des Bräutigams, vorbereitet. Niemand im Hause, außer dem alten Haushofmeister Ananij Wassiljewitsch, wußte etwas davon. Die Großmutter lag krank zu Bett, und Nina Ljwowna war für den ganzen Tag zu einer alten Institutsfreundin ans andere Ende der Stadt gefahren. Der alte Priester vom Invalidenhause an der Ssemjonowschen Kaserne, ein ehemaliger Regimentskamerad Foma Fomitschs, P. Stachij, ein Fachmann für plötzliche Trauungen, traute sie in der kleinen Privatkirche, die die Großmutter in ihrem Hause hatte.

Golizyn fügte sich, verstand aber nichts. Während der Trauung stand er ›wie eine Bildsäule‹ da, wie Foma Fomitsch sagte. In der kleinen Hauskirche war es schwül von den Kerzen und dem Weihrauch; der Kopf schwindelte ihm, er fürchtete, ohnmächtig zu werden.

Er war furchtbar müde und ging früh zu Bett. Nachts, als er schon schlief, kam Marinjka leise, auf den Fußspitzen zu ihm ins Zimmer, setzte sich auf den Bettrand, beugte sich über ihn, umarmte ihn und weckte ihn mit einem Kuß; noch nie hatte sie ihn so geküßt; er fühlte, daß sie ihm mit diesem Kusse ihre Seele hingab. »Jetzt ist es gut, alles ist gut! Verstehst du es nicht?« flüsterte sie ihm ins Ohr; ehe er zu sich gekommen war, hatte sie sich aus seinen Armen befreit und war ins Schlafzimmer zu ihrer Mutter gelaufen. Er aber war wieder fest, süß und dumm eingeschlafen; im Einschlafen hatte er sich sogar gesagt, daß es dumm sei, in einer solchen Nacht zu schlafen.

In der folgenden Nacht wurde er aber verhaftet. Als der Ober-Polizeimeister Schulgin, von einem Feldjäger und vier Wachsoldaten begleitet, den Verhafteten in den Flur führte, lief Marinjka halb angekleidet zu ihm heraus. Sie hatte kaum Zeit, ihn zu umarmen, zu bekreuzen und ihm ins Ohr zu flüstern: »Mach dir keine Sorgen wegen mir, denke nur an dich. Die allerreinste Mutter beschütze dich!« Und als er die Treppe hinunterging, beugte sie sich über das Geländer und sah ihn zum letzten Male an: In ihren Augen war weder Angst noch Trauer, sondern nur eine unendliche Liebe. Er wollte immer darauf kommen, an wen ihn diese Augen erinnerten, und konnte es nicht.

Es war ihm zu dumm geworden, auf die Mauer zu schauen; er stützte die Ellenbogen auf den Tisch, schloß die Augen und versank in Gedanken. Wie damals während der Krankheit, flüsterte er gerührt und begeistert: »Marinjka . . . Mamachen!« und es war ihm, als nehme sie ihn auf die Arme und lulle ihn in den Schlaf.

Das Klopfen von Gewehren und das Klirren von Sporen weckte ihn. Er glaubte, er habe lange geschlafen, aber es waren nur an die zehn Minuten. Es war die neunte Abendstunde.

»Der Arrestant soll zum Kaiser!« sagte eine Stimme.

Mehrere Wachtposten stellten sich um ihn und führten ihn durch unendliche Korridore und Treppen. Sie kamen durch eine Reihe von Sälen voller Bilder. Er erkannte die Eremitage. Im großen Saal brannte eine solche Menge von Kerzen, daß er sich fragte: ›Ist hier ein Ball?‹ Später kam er darauf, daß man das viele Licht brauchte, um beim Verhör die geringsten Veränderungen im Gesichtsausdruck der Verhafteten verfolgen zu können. Unten war es hell, aber oben gähnte durch die gläserne Decke der abgrundtiefe schwarze nächtliche Himmel.

In einer Ecke unter der ›Heiligen Familie‹ von Dominicino saß vor einem aufgeklappten Kartentisch mit Papieren und Schreibzeug ein junger Mann in der eng anliegenden, roten, reich mit Gold bestickten Uniform der Leibhusaren: es war der Generaladjutant Ljewaschow.

Die Wachsoldaten führten Golizyn an den Tisch; zwei blieben mit bloßen Säbeln an der Tür stehen.

»Ich bitte Platz zu nehmen, Fürst«, sagte Ljewaschow, aufstehend und sich verbeugend; er zeigte ihm einen Sessel, reichte ihm aber nicht die Hand. »Mir scheint, wir haben uns schon bei Ihrem Onkel, dem Fürsten Alexander Nikolajewitsch, gesehen«, begann er auf französisch mit einer Miene, als ob hier nicht ein Spitzel und ein Arrestant wären, sondern zwei Gäste, die sich in einem fremden Hause getroffen und in Erwartung des Hausherrn ein Gespräch begonnen hätten.

»Haben Sie gedient?«

»Ja.«

»In welchem Regiment?«

»Im Preobraschenskiischen.«

»Wann haben Sie den Abschied genommen?«

»Vor zwei Jahren.«

Golizyn sah Ljewaschow aufmerksam an; das Gesicht war weder boshaft noch gut, sondern bloß gleichgültig; die Augen weder klug noch dumm, nur etwas spitzbübisch. Ein gewandter, wohlerzogener junger Mann, flotter Husar, wahrscheinlich vorzüglicher Tänzer und Reiter; ein ›guter Junge‹, einer von denen, die selbst leben und auch die anderen leben lassen.

Golizyn hob die Hände und zeigte ihm die Spuren von den Stricken. Ljewaschow verzog das Gesicht.

»Wieder haben sie sich zu viel Mühe gegeben. Wie oft habe ich es ihnen schon gesagt!«

»Werden hier allen die Hände gebunden?«

»Fast allen. Es ist Vorschrift. Was soll man machen, es ist eben ein Arrestlokal.«

»Ein Polizeirevier.«

»Beinahe.«

»Warum machen Sie aus dem Palais ein Polizeirevier?«

Ljewaschow entgegnete nichts.

»Nun, fangen wir an!« Sein liebenswürdiger Gesichtsausdruck wich einem anderen, weder geschäftigen noch strengen, sondern nur gelangweilten; er blickte wie angeekelt, als fühlte er selbst, daß sein Amt nicht ganz sauber sei. Er nahm einen Bogen Papier, schnitt sich eine Feder zurecht und tauchte sie ins Tintenfaß.

»Haben Sie dem Kaiser Nikolai Pawlowitsch den Eid geleistet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil die Vereidigung von solchen Zeremonien und Schwüren begleitet ist, daß ich es für unanständig halte, mich ihr zu unterziehen.«

»Werden Sie niemand den Eid leisten?«

»Niemand.«

»Sie wollen keinen Eid leisten? Sie glauben doch an Gott?«

»Ja.«

»Der Eid ist doch von Gott?«

»Nein, nicht von Gott.«

»Nun, wir wollen darüber nicht streiten. Soll ich es so aufschreiben?«

»Ja, schreiben Sie es so auf.«

Das Gesicht Ljewaschows wurde noch gleichgültiger.

»Sie schaden sich sehr, Fürst. Überlegen Sie es sich.«

»Exzellenz, ich habe es mir mein ganzes Leben lang überlegt.«

»Und haben sich das ausgedacht?«

»Ja.«

Ljewaschow lächelte, zuckte die Achsel, drehte mit einer gewohnten, schnellen Bewegung seinen spitzen Schnurrbart, schrieb die Aussage auf und fuhr mit einem noch gelangweilteren Ausdruck fort:

»Haben Sie der Geheimen Gesellschaft angehört?«

»Ja.«

»Was für Unternehmungen dieser Gesellschaft sind Ihnen bekannt?«

»Gar keine.«

Ljewaschow schwieg eine Weile, sah sich die Spitze der Feder an, nahm ein Härchen heraus und richtete den Blick wieder auf Golizyn:

»Glauben Sie nur nicht, Fürst, daß die Regierung nichts wisse. Wir haben genaue Kenntnis darüber, daß die Vorgänge am Vierzehnten nur eine verfrühte Explosion waren und daß Sie im vorigen Jahr den verstorbenen Kaiser haben töten wollen. Wenn Sie wünschen, kann ich Ihnen alles Nähere über den von Ihnen geplanten Zarenmord mitteilen. Anfang Mai vorigen Jahres fand in der Wohnung des hiesigen Schriftstellers, Herrn Rylejew, eine Versammlung statt, in der der Vorsitzende der Tultschiner Abteilung der Südlichen Geheimen Gesellschaft, Oberstleutnant Pestel, die Ausrottung aller Mitglieder des regierenden Hauses empfahl. Wissen Sie was davon?«

»Ich weiß nichts.«

»Sie wissen auch nicht, wer Pestel geantwortet hat: ›Ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden‹?«

»Auch das weiß ich nicht.«

»Vielleicht besinnen Sie sich noch darauf?«

»Nein, ich werde mich nicht besinnen.«

»Durchlaucht haben ein schlechtes Gedächtnis«, sagte Ljewaschow, wieder lächelnd und den Schnurrbart drehend. »Nun, ich will Sie daran erinnern: Es sind Ihre eigenen Worte. Wollen Sie mir nun Ihre Freunde nennen, die jener Versammlung beigewohnt haben.«

»Entschuldigen Sie, Exzellenz, das kann ich unmöglich tun.«

»Warum?«

»Weil ich beim Eintritt in die Gesellschaft den Eid leistete, niemand zu verraten.«

Ljewaschow legte die Feder weg und lehnte sich zurück.

»Hören Sie mal, Golizyn. Je länger Sie leugnen, um so schlimmer für Sie. Sie wollen Ihre Freunde retten, werden aber niemand retten und nur sich selbst zu Grunde richten. Ich sage Ihnen ja: Die Regierung weiß schon alles und braucht Ihr Geständnis nur in Ihrem eigenen Interesse: Vollkommene Reue ist der einzige Weg, die Gnade des Kaisers zu erlangen!« Er hatte diese Worte offenbar auswendig gelernt. »Nun, warum schweigen Sie? Wollen Sie nichts sagen?«

»Nein.«

»Dann wird man Sie zum Sprechen zwingen, mein Herr!« sagte Ljewaschow, die Stimme ein wenig erhebend und jedes Wort betonend. »Ich trete nun das Amt eines Richters an und sage Ihnen, daß in Rußland noch die Folter besteht.«

»Ich danke sehr, Exzellenz, für dieses Vertrauen, muß aber sagen, daß ich jetzt noch mehr meine Pflicht fühle, niemand zu nennen«, sagte Golizyn, ihm gerade in die Augen blickend; dabei dachte er sich: ›Ein guter Junge, wenn man ihm aber befiehlt, so wird er einem auch die Fersen rösten.‹

»Pour cette fois je ne vous parle pas comme votre juge, mais comme un gentilhomme votre égal«, begann Ljewaschow mit der früheren Liebenswürdigkeit. »Ich verstehe nicht, Fürst, was es für ein Vergnügen ist, für andere zu leiden, die Sie verraten haben.«

»Eure Exzellenz verstehen nicht, was es für ein Vergnügen ist, kein Schurke zu sein?«

Ljewaschow fuhr leicht zusammen, aber der ›gute Junge‹ fühlte sich nicht beleidigt: Er merkte, daß es dem Arrestanten sehr wenig um die Höflichkeitsformen zu tun war.

»Sind Sie so freundlich, Fürst, es zu lesen und zu unterschreiben«, sagte er und reichte ihm das Papier.

Golizyn warf einen Blick auf das Geschriebene, sah, daß der General Russisch wie ein Schuster schrieb, und unterzeichnete es, ohne zu lesen. Ljewaschow stand auf und reckte sich; die enge Uniform umspannte noch mehr seinen Körper, und man hatte den Eindruck, daß so ein Prachtkerl nicht am Schreibtisch hocken, sondern mit schönen Damen Mazurka tanzen oder im Schlachtenfeuer hoch zu Roß galoppieren müßte; dann zog er die Klingelschnur; als der Feldjäger hereingestürzt kam, zeigte er auf die neben dem Tisch stehende, mit grüner Seide bezogene spanische Wand und sagte zu Golizyn:

»Wollen Sie bitte warten.«

Und er ging mit dem Feldjäger hinaus. Golizyn setzte sich hinter die spanische Wand.

Am anderen Ende des Saales ging eine Tür auf, und jemand trat herein; Golizyn konnte nicht sehen, wer es war, glaubte aber zwei Stimmen zu unterscheiden. Im Gehen sprechend, traten sie an den Tisch und blieben stehen. Auch sie konnten Golizyn nicht sehen. Er horchte.

»Ich habe Enthüllungen gemacht, ohne auf meine Vernunft zu hören, sondern nur den Regungen meines Herzens folgend, das voller Dank für Seine Majestät ist, und Dinge aufgedeckt, die die anderen vielleicht nicht aufgedeckt hätten . . .«

Das weitere entging Golizyn; dann hörte er wieder:

»Es ist leicht, selbst zugrunde zu gehen, Exzellenz, aber das Verderben anderer zu verschulden, ist eine unerträgliche Qual . . .«

Diese Stimme kam Golizyn bekannt und zugleich unbekannt vor. Er stand auf, ging auf den Fußspitzen zur spanischen Wand und blickte hinaus. Die beiden standen mit dem Rücken zu ihm, und er sah ihre Gesichter nicht. Aber den einen erkannte er: Es war Benkendorf. Den anderen erkannte er nicht, und erkannte ihn zugleich doch: Er traute seinen Augen nicht.

»Wir wollen ganz ruhig sein, mein Freund: Er wird alle begnadigen«, sagte Benkendorf, indem er den andern am Arm nahm und an der spanischen Wand vorbeiführte. Golizyn sah nun jenen Unerkannten und Unerkennbaren von Angesicht zu Angesicht: Es war Rylejew. Sie blickten einander in die Augen.

Golizyn sank in den Sessel. Das Licht erlosch in seinen Augen, als wäre der abgrundschwarze Himmel durch die gläserne Decke auf ihn herabgestürzt.

»Ich bitte!« sagte Ljewaschow, zu ihm hereinblickend.

Golizyn kam zu sich, stand auf und trat hinter der Wand heraus. Vom anderen Ende des Saales ging auf ihn der Kaiser zu. Das unbewegliche, blasse, wie aus Marmor gemeißelte Gesicht näherte sich immer mehr, und plötzlich erinnerte er sich, wie er damals, am Vierzehnten, unter dem Kartätschenfeuer auf dem Senatsplatz mit der Pistole in der Hand gelaufen war, um das Tier zu töten.

Der Kaiser trat an den Tisch, blieb zwei Schritte vor dem Arrestanten stehen, maß ihn mit einem Blick vom Kopf bis zu den Füßen und zeigte mit dem Finger auf das Protokoll Ljewaschows, das er in der Hand hielt.

»Was ist das? Was haben Sie da zusammengefaselt? Man fragt Sie über die Sache, und Sie geben ganz dumme Antworten: ›Der Eid ist nicht von Gott.‹ Kennen Sie, Herr, unsere Gesetze? Wissen Sie, was darauf steht . . .?« Und er fuhr sich mit der Hand über den Hals.

Golizyn lächelte: Was konnte ihm dieser Mensch nach den Schrecken, die er eben überstanden, noch tun?

»Was lachen Sie?« fragte der Kaiser und runzelte die Stirn.

»Ich wundere mich, Majestät: Wenn man schon droht, so soll man erst mit dem Tode, und dann mit der Folter drohen: Die Folter ist doch schrecklicher als der Tod.«

»Wer hat Ihnen mit der Folter gedroht?«

»Seine Exzellenz.«

Nikolai sah Ljewaschow an, Ljewaschow – Nikolai und Golizyn die beiden.

»Wie tapfer Sie sind!« fing der Kaiser von neuem an. »Hier fürchten Sie nichts, aber dort? Was erwartet Sie im Jenseits? Die ewige Verdammnis . . . Auch darüber lachen Sie? Sind Sie vielleicht kein Christ?«

»Ich bin Christ, Majestät, darum habe ich mich auch gegen die Autokratie empört.«

»Die Autokratie ist von Gott. Der Zar ist der Gesalbte des Herrn. Haben Sie sich gegen Gott empört?«

»Nein, gegen das Tier.«

»Was für ein Tier? Was faseln Sie?«

»Das Tier ist der Mensch, der sich selbst zu Gott macht«, sagte Golizyn leise und feierlich, als spräche er eine Beschwörung, und erbleichte; vor Freude stockte ihm der Atem: Es war ihm, als töte er schon das Tier.

»Der Unglückliche!« sagte der Kaiser, traurig den Kopf schüttelnd. »Er ist ganz verrückt! So weit bringen den Menschen diese höllischen Gedanken, die Früchte der Überhebung und des Hochmuts. Sie tun mir leid. Warum richten Sie sich selbst zugrunde? Sehen Sie denn nicht, daß ich Ihr Bestes will?« sagte er mit einer veränderten, freundlichen Stimme. »Warum antworten Sie nicht?« Er nahm ihn bei der Hand und fuhr noch freundlicher fort: »Sie wissen, ich kann alles, ich kann Ihnen auch verzeihen . . .«

Golizyn dachte an Rylejew und fuhr zusammen.

»Das ist eben das Unglück, Majestät, daß Sie alles können. Im Himmel ist Gott, und auf der Erde sind Sie. Das heißt eben, daß man einen Menschen zu Gott gemacht hat . . .«

Der Kaiser hatte schon längst gemerkt, daß er von Golizyn nichts herausbekommen würde. Er vernahm ihn ohne besondere Lust, nur aus Pflichtgefühl. Er ärgerte sich auch nicht: Während der Untersuchung, die er schon einen ganzen Monat leitete, hatte er gelernt, sich beim Verhör niemals zu ärgern. Aber die Sache langweilte ihn. Er wollte ein Ende machen.

»Nun, gut, genug geschwatzt«, unterbrach er Golizyn unerwartet grob. »Wollen Sie die Fragen, so wie es sich gehört, beantworten.«

»Ich habe schon Seiner Exzellenz gesagt, daß ich geschworen habe . . .«

»Was kommen Sie mir immer mit Seiner Exzellenz und mit Ihren abscheulichen Worten!«

›Jener schreibt wie ein Schuster, und dieser schimpft wie ein Schuster!‹ dachte sich Golizyn.

»Sie wollen also nicht sprechen? Sie wollen nicht? Ich frage Sie zum letzten Mal: Sie wollen nicht?«

Golizyn schwieg. Das Gesicht des Kaisers veränderte sich plötzlich: Die eine Maske war gefallen, und er hatte eine andere vorgenommen, eine drohende, zornige, blasse, wie aus Marmor gemeißelte: Apollo von Belvedere, der den Python besiegt. Er trat einen Schritt zurück, streckte die Hand aus und schrie:

»Man fessele ihn so, daß er sich nicht mehr rühren kann!«

In diesem Augenblick trat Benkendorf ein. Der Kaiser wandte sich zu ihm um, und auf seinem Gesicht erschien wieder eine neue Maske: ›Der arme Kerl, der arme Nixe, der Zuchthäusler du Palais d'Hiver.‹

Benkendorf ging auf Nikolai zu und sagte ihm etwas ins Ohr. Der Kaiser ging, ohne Golizyn anzublicken, als hätte er ihn ganz vergessen, hinaus.

»Wollen Sie bitte warten«, sagte Ljewaschow zu Golizyn, wieder auf den Sessel hinter der spanischen Wand zeigend, und verließ mit Benkendorf den Saal.

Golizyn setzte sich auf seinen früheren Platz. Er beruhigte sich. ›Nun, es ist gut, alles ist wieder gut‹, sagte er sich wie früher. ›Was ist es für ein Vergnügen, für die anderen zu leiden, die Sie verraten haben? – Aber natürlich ist es ein Vergnügen!‹

Diese beiden Worte ›aber natürlich‹ flüsterte er mit dem gleichen kindlichen Lächeln wie Marinjka.

 


 << zurück weiter >>