Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zweites Kapitel

Eines Abends gegen elf Uhr kam in Golizyns Zelle der Kommandant Ssukin mit dem Platz-Major Poduschkin und dem Platz-Adjutanten Trussow: Sie nahmen ihm die Fesseln ab, und nachdem er die Gefängniskleidung mit seiner eigenen vertauscht hatte, legten sie sie ihm wieder an.

»Wir wollen ein wenig Blindekuh spielen, Durchlaucht«, scherzte der Platz-Major. Er verband ihm die Augen mit einem Tuch, stülpte ihm eine schwarze baumwollene Kappe darüber, man faßte ihn unter die Arme, führte ihn hinaus, setzte ihn in einen Schlitten, und sie fuhren.

Nach kurzer Fahrt hielten sie. Poduschkin half dem Arrestanten aus dem Schlitten und führte ihn einige Stufen hinauf.

»Stolpern Sie nicht, Sie können sich leicht weh tun!« sagte er ihm besorgt.

Er führte ihn durch mehrere Zimmer; in dem einen hörte man Federgekritzel: Wahrscheinlich war es eine Kanzlei. Poduschkin ließ ihn sich setzen und nahm ihm die Binde von den Augen.

»Warten Sie ein wenig!« sagte er und ging hinaus.

Golizyn sah durch eine Öffnung in der mit grüner Seide bespannten spanischen Wand Diener mit Schüsseln – offenbar aß man irgendwo Abendbrot – und Flügeladjutanten mit Papieren vorbeilaufen. Einige Soldaten führten einen Arrestanten vorbei, der so fest gefesselt war, daß er sich kaum rühren konnte: Über sein Gesicht war wie bei Golizyn eine schwarze Mütze gestülpt.

Er mußte lange warten. Endlich kam wieder Poduschkin, verband ihm die Augen, nahm ihn bei der Hand und führte ihn.

»Bleiben Sie stehen«, sagte er ihm und ließ seine Hand los.

»Nehmen Sie die Binde ab«, sagte eine Stimme.

Golizyn nahm sich das Tuch von den Augen und sah ein großes Zimmer mit weißen Wänden; einen langen, mit grünem Tuch bedeckten Tisch mit Papieren, Tintenfässern, Federn und einer Menge brennender Wachskerzen in Armleuchtern. Um den Tisch herum saßen an die zehn Männer in Generalsuniformen mit Ordensbändern und Sternen. Auf dem Präsidentenplatz am oberen Ende des Tisches saß der Kriegsminister Tatischtschew; rechts von ihm der Großfürst Michail Pawlowitsch, der Chef des Generalstabs General Dibitsch, der neue Petersburger militärische Generalgouverneur Golinischtschew-Kutusow; links der ehemalige Oberprokurator des Synods Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn, der einzige Zivilist in dieser Versammlung; die Generaladjutanten: Tschernyschow, Potapow, Ljewaschow und ganz am Ende des Tisches der Flügeladjutant Oberst Adlerberg. An einem eignen Tischchen saß ein alter, kahlköpfiger Beamter der fünften Rangklasse, wahrscheinlich als Protokollführer.

Golizyn begriff, daß es das zur Untersuchung der Vorgänge vom Vierzehnten eingesetzte Komitee war.

Eine Minute lang schwiegen alle.

»Kommen Sie näher«, sagte endlich Tschernyschow mit feierlicher Miene und winkte ihn heran.

Golizyn trat, durch das Klirren seiner Ketten die Stille des Zimmers störend, vor den Tisch.

»Mein Herr«, sagte Tschernyschow, nachdem Golizyn die üblichen Fragen nach Namen, Alter, Religion und Dienstgrad beantwortet hatte, »in Ihrer ersten Erklärung, die Sie dem General Ljewaschow abgegeben haben, beantworteten Sie jede der an Sie gerichteten Fragen mit einem Nein und behaupteten, nichts von Umständen zu wissen, welche . . .«

Golizyn betrachtete Tschernyschow, ohne ihm zuzuhören: Er ist wohl über vierzig, will aber als zwanzigjähriger Jüngling erscheinen; trägt eine üppige schwarze Perücke mit kleinen Locken, die an Lammfell erinnern, ist gepudert und geschminkt; die Brauen sind ganz dünn hingemalt; der kleine Schnurrbart emporgewirbelt und sieht wie angeklebt aus; die enggeschlitzten, etwas schief stehenden Katzenaugen mit gelben Pupillen haben einen tückischen und raubgierigen Ausdruck. ›Ist wohl eine furchtbare Bestie‹, sagte sich Golizyn. ›Nicht umsonst sagen wohl die Leute, er hätte selbst Napoleon angeschwindelt.‹

»Wollen Sie nun die ganze Wahrheit eröffnen und Ihre Komplizen nennen. Uns ist auch ohnehin alles bekannt, aber wir wollen Ihnen die Gelegenheit geben, durch aufrichtige Reue die Erleichterung Ihres Loses zu verdienen.«

»Ich habe die Ehre gehabt, dem General Ljewaschow alles zu sagen, was ich über mich selber weiß, die Namen der andern zu nennen, halte ich aber für ehrlos«, antwortete Golizyn.

»Ehrlos?« rief Tschernyschow, die Stimme erhebend, mit geheuchelter Entrüstung. »Sie haben keine Ahnung von Ehre, mein Herr. Einer, der den Treueid verletzt und sich gegen die gesetzliche Gewalt empört, darf nicht von Ehre sprechen!«

Golizyn sah ihn so an, daß jener ihn begriff: ›Einen gefesselten Arrestanten kannst du leicht verhöhnen, Schurke!‹ Tschernyschow erbleichte durch die Schminke, sagte aber nichts, wechselte nur seine Beinstellung und berührte mit den Fingern seinen Schnurrbart.

»Sie sind halsstarrig und wollen uns einreden, daß Sie nichts wissen; ich will aber zwanzig Zeugen beistellen, die Sie überführen; aber dann dürfen Sie auf keine Gnade mehr rechnen, man wird mit Ihnen ohne Erbarmen verfahren!«

Golizyn hörte gelangweilt zu und dachte sich: ›Diese Narrenposse!‹

»Hören Sie mal, Fürst«, sagte Tschernyschow, ihn zum ersten Male ansehend, und in seinen gelben Pupillen leuchtete ungeheuchelter Haß auf – »wenn Sie sich noch länger weigern, so haben wir Mittel, Sie zum Sprechen zu zwingen.«

»In Rußland besteht die Folter, das hat mir neulich der General Ljewaschow mitgeteilt. Aber Euer Exzellenz drohen umsonst: Ich weiß ganz genau, was ich riskiere«, antwortete Golizyn und blickte ihm wieder gerade in die Augen. Tschernyschow kniff die seinigen ein wenig zusammen und lächelte plötzlich.

»Nun, wenn Sie keine Namen nennen wollen, so werden Sie vielleicht die Güte haben, uns etwas von den Zielen der Gesellschaft zu erzählen?« begann er mit einer ganz anderen Stimme.

Als Golizyn sich vorher überlegt hatte, wie er die Fragen beantworten werde, hatte er sich entschlossen, die Ziele der Gesellschaft nicht zu verheimlichen. Denn er sagte sich: ›Wer weiß, vielleicht wird die Stimme der Freiheit, die jetzt in der Folterkammer erklingt, die kommenden Geschlechter erreichen?‹

»Unser Ziel war, dem Vaterlande eine gesetzlich freie Regierung zu geben«, begann er, sich an alle wendend. »Der Aufstand vom Vierzehnten war keine Meuterei, wie Sie, meine Herren, annehmen, sondern der erste Versuch einer politischen Revolution in Rußland. Je kleiner die Zahl der Männer war, die diesen Versuch unternahmen, um so ruhmvoller ist es für sie, denn die Stimme der Freiheit hat zwar infolge des Mißverhältnisses der Kräfte und der ungenügenden Anzahl von Menschen bloß wenige Stunden geklungen, aber auch das ist schon gut, daß sie überhaupt erklungen ist und nie wieder verstummen wird. Nun ist den kommenden Geschlechtern der Weg gezeigt. Wir haben unsere Pflicht getan und können uns unseres Unterganges freuen: Was wir gesäet haben, wird einmal aufgehen . . .«

»Gestatten Sie die Frage, Fürst«, unterbrach ihn sein Onkel, Alexander Nikolajewitsch Golizyn mit einer Miene, als erkenne er den Neffen nicht, »wenn Ihre Revolution gelungen wäre, was würden Sie dann mit uns allen getan haben, zum Beispiel mit mir?«

»Wenn Eure Durchlaucht sich der neuen Ordnung nicht fügen wollten, würden wir Sie bitten, ins Ausland zu ziehen«, antwortete der Neffe lächelnd; er erinnerte sich noch, wie ihn der Onkel einst für das Brillentragen ausgeschimpft hatte: Du hast deine eigene Karriere verdorben und auch mich Alten hereingelegt!

»Also emigrieren?«

»Ja.«

»Ich danke für die Gnade!« Der Onkel stand auf und machte eine tiefe Verbeugung.

Alle lachten. Es begann ein richtiges Salongespräch. Alle freuten sich über die Gelegenheit, ein wenig zu plaudern und auszuruhen.

»Ah, mon prince, vous avez fait bien du mal à Russie, vous l'avez reculée de cinquante ans«, erklärte Benkendorf aufseufzend und fügte mit einem feinen Lächeln hinzu: »Unser Volk ist für die Revolution nicht geschaffen: Es ist klug, weil es sanft ist, und es ist sanft, weil es unfrei ist.«

»Das Wort ›Freiheit‹ bezeichnet einen verführerischen, doch für den Menschen unnatürlichen Zustand, denn unser ganzes Leben ist eine dauernde Abhängigkeit von den Naturgesetzen«, meinte Kutusow.

»Ich bin mathematisch davon überzeugt, daß ein Christ und ein Aufrührer gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit einen absoluten Widerspruch darstellen«, erklärte der Onkel.

Der Großfürst aber gab zum hundertsten Male die Anekdote von der Frau Konstantins, ›Konstitution‹, zum besten. Und der Laufbursche des Kaisers, ›Fjodorytsch‹ Adlerberg kicherte so unterwürfig und lautlos, daß er beinahe erstickte.

Der Vorsitzende Tatischtschew, der ›russische Falstaff‹, ein Mann mit dickem Bauch, rotem Gesicht und herabhängender Unterlippe, der nach dem üppigen Abendessen duselte, öffnete plötzlich ein Auge, richtete es auf Golizyn und brummte sich in den Bart:

»Dieser Schelm! Dieser Schelm!«

Golizyn sah alle an und dachte sich: ›Eine nette Gesellschaft! Nun, auch ich bin nett: Wie kann ich bloß mit solchen Menschen reden. Es ist kein Gerichtshof, nicht einmal eine Folterkammer, sondern ein Lakaienzimmer!‹

»Haben Sie die Güte, Fürst, uns die Worte wiederzugeben, die Rylejew in der Nacht auf den Vierzehnten sprach, als er Kachowskij den Dolch einhändigte«, fuhr Tschernyschow mitten in der Unterhaltung im Verhör fort.

»Ich kann nichts mitteilen«, antwortete Golizyn: Er hatte sich entschlossen zu schweigen – was man ihn auch fragen würde.

»Sie waren aber dabei. Vielleicht haben Sie es vergessen? Dann will ich Sie daran erinnern. Rylejew sagte zu Kachowskij: ›Töte den Zaren. Geh früh am Morgen vor der Erhebung ins Palais und töte ihn dort.‹ Können Sie sich darauf besinnen? Warum schweigen Sie? Sie wollen nicht sprechen?«

»Ich will nicht.«

»Wie Sie wollen, Fürst, aber Sie schaden damit nur sich selbst. Wenn Sie die Worte Rylejews leugneten oder bestätigten, könnten Sie seine Schuld oder die Schuld Kachowskijs vermindern und vielleicht einen von beiden retten; indem Sie aber schweigen, richten Sie alle beide zugrunde.«

›Er hat ja eigentlich recht‹, sagte sich Golizyn.

»Nun, wie ist es?« fuhr Tschernyschow fort. »Sie wollen nichts sagen? Ich frage Sie zum letzten Male: Sie wollen nicht?«

»Ich will nicht.«

»Ein Schelm! Ein Schelm!« brummte Tatischtschew vor sich hin.

In den engen gelben Schlitzaugen Tschernyschows funkelte wieder Haß auf.

»Hat die Fürstin von Ihrer Teilnahme an der Verschwörung gewußt?« fragte er nach einer Pause.

»Was für eine Fürstin?«

»Ihre Gattin«, erwiderte Tschernyschow mit liebenswürdigem Lächeln.

Golizyn fühlte plötzlich, daß seine Ketten unerträglich schwer wurden und seine Füße zitterten – gleich wird er umfallen. Er machte einen Schritt und klammerte sich an eine Stuhllehne.

»Setzen Sie sich, Fürst. Sie sind sehr blaß. Ist Ihnen unwohl?« sagte Tschernyschow aufstehend und ihm einen Stuhl anbietend.

»Meine Frau weiß von nichts«, antwortete Golizyn, sich mit Mühe auf den Stuhl setzend.

»Sie weiß von nichts?« Tschernyschow lächelte noch freundlicher. »Wie ist das möglich? Sie haben am Tage vor der Verhaftung geheiratet, folglich aus ungewöhnlicher Liebe. Und Sie haben ihr nichts gesagt, haben ihr das Geheimnis nicht anvertraut, von dem Ihr Schicksal und auch das Schicksal Ihrer Gemahlin abhängt? Entschuldigen Sie, Fürst, es ist unnatürlich, ganz unnatürlich! Machen Sie sich nur keine Sorge; ohne besondere Not werden wir die Fürstin nicht belästigen.«

›Soll ich mich nicht auf ihn stürzen und ihm den Schädel mit meinen Ketten einschlagen?!‹ dachte sich Golizyn.

»Ecoutez, Tschernyschow, c'est três probable, que le prince n'a voulu rien confier à sa femme et qu'elle n'a rien su«, sagte der Großfürst.

Er machte schon längst eine unzufriedene Miene, hielt sich ein Blatt Papier vors Gesicht und strich sich mit dem Federbart über die Lippen. »Le bourru bienfaisant« war streng von Aussehen, hatte aber ein gutes Herz.

»Zu Befehl, Hoheit«, antwortete Tschernyschow mit einer Verbeugung.

»Morgen werden Sie einen Fragebogen bekommen, mein Herr, und alle Punkte schriftlich beantworten«, sagte er zu Golizyn und zog die Klingelschnur.

Der Platz-Major Poduschkin erschien mit den Begleitmannschaften in der Tür.

»Meine Herren, Sie haben mich über alles ausgefragt, gestatten Sie, daß auch ich Sie frage«, sagte Golizyn, indem er sich erhob und alle mit einem bleichen Lächeln auf seinem leichenblassen Gesicht ansah. »Was? Was ist?« rief Tatischtschew, der wieder erwachte und beide Augen aufriß.

»Il a raison, messieurs. Il faut être juste, laissons le dire son dernier mot«, sagte der Großfürst lächelnd, im Vorgeschmack eines lustigen Zwischenfalls: Er hatte eine Schwäche für derlei Sachen.

»Haben Sie nur keine Angst, meine Herren, es ist nichts Besonderes«, fuhr Golizyn mit dem gleichen blassen Lächeln fort. »Ich wollte nur fragen, was für eines Verbrechens sind wir angeklagt?«

»Stellen Sie sich nicht so dumm, Herr«, rief plötzlich Dibitsch wütend. »Sie haben gemeutert, haben einen Zarenmord geplant, und wissen nicht, wessen man Sie anklagt?«

»Ja, wir haben einen geplant«, wandte sich Golizyn an ihn, »wir wollten den Zaren ermorden, haben ihn aber nicht ermordet. Die richtigen Zarenmörder kommen aber nicht vors Gericht? Die, die den Zaren nicht in Gedanken, sondern in der Tat ermordet haben?«

»Was für Mörder? Reden Sie vernünftig, hol Sie der Teufel!« Dibitsch geriet in Wut und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Nicht doch! Führt ihn schneller ab!« rief Tatischtschew erschrocken.

»Eure Exzellenzen«, sagte Golizyn, seine beiden Arme mit den Ketten erhebend und mit dem Finger erst auf Tatischtschew und dann auf Kutusow zeigend, »Eure Exzellenzen, wissen Sie, was ich meine?«

Alle waren starr. Es wurde so still, daß man die Kerzen knistern hörte.

»Sie wissen es nicht? Also will ich es Ihnen sagen: Ich meine den Zarenmord vom 11. März 1801.«

Tatischtschew wurde rot, Kutusow grün; es war, als hätten sie ein Gespenst erblickt. Daß sie an der Ermordung des Kaisers Paul beteiligt waren, wußten alle.

»Hinaus! Hinaus! Hinaus!« schrien alle, von ihren Plätzen aufspringend und mit den Händen fuchtelnd.

Der Platz-Major Poduschkin lief auf den Arrestanten zu und stülpte ihm die Mütze über den Kopf. Die Soldaten packten ihn und schleppten ihn hinaus. Golizyn lachte aber auch unter der Mütze ein triumphierendes Lachen.

 


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