Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zweites Kapitel

Von der Gorochowaja bogen sie nach links ab und gelangten, am Lobanowschen Hause und an der Umzäunung der Isaakskathedrale vorbei, auf den Senatsplatz. Hier blieben sie vor dem Denkmal Peters stehen und formierten eine Gefechtskolonne mit der Front zur Admiralität und dem Rücken zum Senat. Schützen und Plänkler wurden aufgestellt. Innerhalb der Kolonne pflanzten sie die Fahne auf, und um diese versammelten sich die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft.

Hier, innerhalb der stählernen Mauer der Bajonette fühlte man sich geborgen wie in einer Festung, es war gemütlich und warm vor den vielen menschlichen Atemzügen. Die Soldaten rochen nach der Kaserne – nach Schwarzbrot, Pfeifentabak und Mantelfilz, das ›Muttersöhnchen‹ Odojewskij duftete aber nach feinem Parfum, Violette de Parme. Die Verbindung dieser beiden Gerüche erschien Golizyn bedeutungsvoll.

Die Mitglieder der Geheimen Gesellschaft umarmten sich und tauschten dreifache Küsse aus wie in der Osternacht. Alle Gesichter hatten sich plötzlich verändert, waren wie neu geworden. Sie erkannten einander kaum, wie beim Wiedersehen im Jenseits. Sie sprachen, sich überstürzend, einander unterbrechend, zusammenhanglos, wie im Delirium, wie Betrunkene.

»Nun, Sascha, es ist doch schön, wie?« fragte Golizyn Odojewskij, der auf dem Heimwege aus dem Kaffeehause von der Meuterei hörte und auf den Platz herbeigeeilt war.

»Es ist schön, Golizyn, furchtbar schön! Ich hätte mir gar nicht gedacht, daß es so schön wird!« antwortete Odojewskij. Als er seinen von der Schulter gerutschten Mantel in Ordnung brachte, ließ er das mit dem rosa Bändchen verschnürte Pfund Konfekt fallen.

»Aha, säuerlich, mit Zitronengeschmack!« rief Golizyn lachend. »Nun wirst du auf dem Kanapee liegen und Konfekt lutschen?«

Er lachte, um nicht vor Freude zu weinen. ›Ich werde Marinjka heiraten, ich werde sie ganz gewiß heiraten!‹ dachte er sich plötzlich und erstaunte: ›Was fällt mir ein? Ich werde doch gleich sterben . . . Nun, es ist gleich, wenn ich nicht sterbe, heirate ich sie.‹

Puschtschin ging auf ihn zu. Er tauschte auch mit ihm den dreifachen Osterkuß.

»Es hat also doch angefangen, Puschtschin?«

»Es hat angefangen, Golizyn.«

»Erinnern Sie sich noch, wie Sie sagten, daß wir früher als in zehn Jahren daran nicht mal denken dürfen?«

»Ja, nun haben wir ohne zu denken angefangen.«

»Und ist es uns schlecht gelungen?«

»Nein, gut.«

»Alles wird gut werden! Alles wird gut werden!« wiederholte Obolenskij, der wie die andern besinnungslos schien, aber ein so strahlendes Lächeln auf den Lippen hatte, daß es allen andern bei seinem Anblick licht ums Herz wurde.

Der lange, ungelenke, einem angeschossenen Reiher ähnliche Wilhelm Küchelbäcker erzählte, wie ihn auf dem Wege zum Platz der Kutscher aus dem Schlitten geschmissen hatte.

»Hast du dir weh getan?«

»Nein, ich fiel in den Schnee, da war es weich. Daß nur meine Pistole nicht naß geworden ist!«

»Verstehst du überhaupt zu schießen?«

»Zielst auf eine Krähe und triffst eine Kuh!«

»Warum passieren dir immer solche Sachen, Küchel?«

›Sie lachen, um nicht vor Freude zu weinen‹, dachte sich Golizyn.

Es war wie das Spiel von Riesen: ungeheuer groß und schrecklich wie der Tod, zugleich auch komisch und harmlos wie ein Kinderstreich.

Alexander Bestuschew war auf das Gitter des Denkmals gestiegen, hatte sich hinübergebeugt und fuhr mit seinem Degen am Granitsockel auf und ab.

»Was machst du?« rief ihm Odojewskij zu.

»Ich wetze meine Freiheitswaffe
An dem Granit von Peters Fels«,

antwortete Bestuschew feierlich in Versen.

»Und du, Golizyn, warum verziehst du so das Gesicht?« fragte Odojewskij. »Bestuschew ist ein tapferer Kerl: Er hat ein ganzes Regiment aufgewiegelt. Er spielt wohl gerne Theater, wir haben das aber alle, und doch sind wir brave Jungen!«

Fürst Schtschepin war nach dem Anfall von Raserei plötzlich matt und schwer geworden; er setzte sich auf einen Pfosten am Rande des Trottoirs und betrachtete aufmerksam seine Hände in den blutbefleckten weißen Handschuhen; er wollte sie ausziehen, sie klebten aber an den Händen und gingen nicht herunter; er zerriß sie, zerrte sie von den Händen, warf sie weg und begann die Hände mit Schnee zu reiben, um das Blut abzuwaschen.

»Alles wird gut werden«, wiederholte Odojewskij, an Golizyn gewandt, die Worte Obolenskijs und zeigte auf Schtschepin. »Nun, ist auch das gut?«

»Ja, auch das. Ohne das geht es nicht«, antwortete Golizyn und blickte, als er das sagte, er wußte selbst nicht warum, auf Kachowskij.

In einem Nacktpelz mit rotem Gürtel, in dem ein Dolch und zwei Pistolen steckten, stand Kachowskij abseits von allen und wie immer ganz allein. Niemand ging auf ihn zu, niemand sprach ihn an. Er fühlte wohl den Blick Golizyns und sah ihn gleichfalls an. In seinem hungrigen, hageren, wie aus Stein gemeißelten Gesicht mit der hochmütig hervortretenden Unterlippe und den unglücklichen Augen eines kranken Kindes oder eines Hundes, der seinen Herrn verloren hat, zuckte etwas; es war, als wollte sich darin etwas zeigen und könnte es nicht. Und er wandte sich wieder weg und senkte mürrisch die Augen. ›Ich bin nicht mit euch, nicht mit euch, niemals war ich mit euch und werde niemals mit euch sein!‹ Diese Worte Kachowskijs fielen Golizyn ein, und er spürte mit ihm plötzlich quälendes Mitleid.

»Ach, da ist ja Rylejew! Hast dich abgehetzt, du Ärmster?« rief Golizyn, auf Rylejew zugehend und ihn mit besonderer Zärtlichkeit umarmend. Er fühlte sich vor ihm schuldig: Er hatte geglaubt, daß Rylejew verschlafen würde, jener war aber den ganzen Morgen von Kaserne zu Kaserne herumgerannt, um Truppen anzuwerben; er hatte aber niemand angeworben und war mit leeren Händen gekommen.

»Wir sind unser wenig, Golizyn, ach, so wenig!«

»Und wenn auch wenig, wir müssen trotzdem anfangen!« antwortete ihm Golizyn mit seinen eigenen Worten.

»Ja, wir müssen es! Wir wollen frei sein, und wenn auch nur einen Augenblick lang!« rief Rylejew.

»Wo ist aber Trubezkoi?« fiel es ihm plötzlich ein.

»Das weiß der Teufel! Er ist verschwunden, wie in die Erde versunken!«

»Hat wohl Angst bekommen und hat sich versteckt.«

»Wie ist es nun, meine Herren? Geht es denn ohne Diktator? Was macht er mit uns!« begann Rylejew, kam aber nicht weiter. Er winkte nur verzweifelt mit der Hand und lief davon, um in der Stadt auf der Suche nach Trubezkoi herumzurennen.

»Sie haben nichts angeordnet, haben uns wie die Hammel auf den Platz zusammengetrieben und haben sich selbst versteckt«, brummte Kachowskij.

Alle wurde plötzlich still, als wären sie zur Besinnung gekommen; jedes Herz krampfte sich vor unheimlicher Kälte zusammen.

Sie wußten nicht, was zu tun; sie standen da und warteten. Sie hatten sich auf dem Platze gegen elf Uhr versammelt. Die Uhr auf dem Turme der Admiralität schlug zwölf, eins, vom Gegner war aber noch immer nichts zu sehen, selbst die Polizei zeigte sich nicht, als wäre die ganze Obrigkeit ausgestorben.

Sie wollten schon die Senatsmitglieder verhaften, aber es stellte sich heraus, daß diese schon um acht Uhr den Eid geleistet und sich zum Gottesdienst ins Winterpalais begeben hatten.

Die Soldaten, die Waffenröcke ohne Mäntel anhatten, froren und wärmten sich mit heißem Tee, traten von einem Fuß auf den anderen und schlugen die Hände gegeneinander. Sie standen so ruhig da, daß die Passanten glaubten, es sei eine Parade.

Golizyn ging vor der Front auf und ab und hörte den Gesprächen der Soldaten zu.

»Konstantin Pawlowitsch kommt selbst aus Warschau her.«

»Er steht vier Stationen hinter Narwa mit der ersten Armee und dem polnischen Korps, um alle zu vernichten, die Nikolai Pawlowitsch den Eid leisten!«

»Auch die andern Regimenter werden sich ganz gewiß weigern!«

»Wenn er aber nicht kommt, so holen wir ihn selbst, bringen ihn auf den Händen her!«

»Hurra, Konstantin!« mit diesem Schrei endete alles.

Wenn man sie aber fragte: »Warum wollt ihr nicht schwören?« so antworteten sie: »Unser Gewissen duldet es nicht.«

Zwischen der rechten Flanke des Karree und der Umzäunung der Isaakskathedrale drängte sich eine Menschenmenge. Golizyn ging zwischen den Leuten herum und lauschte.

In der Menge waren Bauern, Handwerker, Kleinbürger, Kaufleute, Leibeigene, Beamte und Leute unbestimmten Standes in seltsamer Kleidung, wie man sie sonst nur in der Fastnachtzeit sieht: herrschaftliche Mäntel mit Bauernmützen; bäuerliche Halbpelze mit hohen runden Hüten; schwarze Fräcke mit weißen Handtüchern und roten Schärpen statt Gürteln. Einer hatte ein rußgeschwärztes Gesicht wie ein Schornsteinfeger.

»Er hat viele Bekannte bei der Polizei; darum hat er sich die Fratze geschwärzt, damit man ihn nicht erkennt«, erklärte man Golizyn.

»Die Fratze ist schwarz, aber das Gewissen ist weiß. Liebe uns, wenn wir schwarz sind, – wenn wir weiß sind, wird uns jeder lieben«, sagte ihm der Schwarze selbst, die weißen Zähne wie ein Neger fletschend.

Manche hatten Waffen bei sich: altertümliche verrostete Säbel, Messer, Äxte, Grabscheite und eiserne Stangen, mit denen die Hausknechte das Eis von den Trottoirs abkratzen, sogar einfache Knüppel, wie man sie in den Tagen Pugatschows gebrauchte. Diejenigen aber, die mit leeren Händen gekommen waren, holten sich Scheite von dem am Zaune der Isaakskathedrale aufgestapelten Brennholz, rissen Steine aus dem Pflaster heraus und bewaffneten sich, die einen mit einem Holzscheite, die anderen mit Pflastersteinen.

»Angesichts einer solchen schweren Bedrückung des ganzen gemeinen russischen Volkes durch die ungeordnete und barbarische Willkür hat sich Kaiser Konstantin Pawlowitsch entschlossen, diesem Zustande ein Ende zu machen«, redete ein Handwerker mit ausgemergeltem, bösem und klugem Gesicht in fettiger Tellermütze und gestreiftem, mit einem Riemen umgürteten Hausrock.

»Zwei Häute schinden sie von einem jeden, die Verruchten!« zischte voller Haß ein zahnloser alter Leibeigener in einem Lakaienmantel aus Fries mit einer Unmenge von Pelerinen.

»Das Volk hat es schlimmer, das ganze Reich hat es schwerer! So schwer ist es!« jammerte ein Frauenzimmer mit rotem Gesicht und einem Badequast unter dem Arm, das wohl direkt aus dem Dampfbade kam. Ihr glotzäugiges Mädel in der ihm viel zu langen Jacke der Mutter hörte gierig zu, als verstünde es alles.

»Angesichts dieser grausamen Unterdrückung«, fuhr der Handwerker fort, »wollte Kaiser Konstantin Pawlowitsch, Gott gebe ihm Gesundheit, das gemeine Volk Rußlands durch die edlen Herren befreien . . .«

»Die edlen Herren sind die größten Schurken in der Welt!« tönte es aus der Menge.

»Ihr gutes Leben geht zu Ende! Er wird es diesen Barbaren schon zeigen!«

»Sie haben nicht mehr lange zu herrschen, wenn nicht heute, so morgen wird ihr Blut in Bächen fließen!«

»Die Freiheit, Kinder, die Freiheit!« rief jemand, und die ganze Menge entblößte wie ein Mann die Köpfe und bekreuzigte sich.

»Er kommt selbst her, um Gericht zu halten, er ist schon bei Pulkowo!«

»Nein, man hat ihn verhaftet, in Ketten gelegt und weggeführt!«

»Unser Liebster, unser Ärmster!«

»Tut nichts, Brüder, wir werden ihn schon freibekommen!«

»Hurra, Konstantin!«

»Sie kommen! Sie kommen!« hörte plötzlich Golizyn und wandte sich um: Vom Admiralitäts-Boulevard her, hinter dem Zaune der Isaakskathedrale tauchte die Gardekavallerie auf. Die Reiter in Messinghelmen und Messingpanzern kamen im Gänsemarsch, je drei Mann in einer Reihe, langsam und vorsichtig, wie schleichend heran.

»Sie kommen wie schläfrige Fliegen gekrochen. Sie tun es wohl nicht gerne!« spottete man in der Menge.

Aber die Soldaten im aufrührerischen Karree luden die Gewehre und bekreuzigten sich:

»Gott sei Dank, es fängt an!«

 


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