Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Sechstes Kapitel

»Was geht vor? Auf was für einen Feind warten wir eigentlich?«

»Gar nichts verstehe ich, Gott strafe mich! Ein verfluchtes Durcheinander!«

Der Großfürst Michaïl Pawlowitsch hörte dieses Zwiegespräch zweier Generäle. Auch er verstand gar nichts.

Von seinem Bruder Nikolai aus dem Städtchen Nennal, wo er auf dem Wege nach Warschau Halt gemacht hatte, berufen, war er soeben hungrig, müde und erfroren nach Petersburg gekommen und direkt auf den Senatsplatz, in die Revolution, wie er sagte: »Wie ein Huhn in die Suppe« geraten.

Als nach dem Mißerfolg der Kavallerieattacke die Obrigkeit einsah, daß man mit Gewalt nichts ausrichten könne, bat Michail Pawlowitsch den Kaiser um Erlaubnis, mit den Meuterern zu sprechen. Nikolai wollte es anfangs nicht erlauben, winkte aber dann traurig mit der Hand und willigte ein:

»Tu, was du willst.«

Der Großfürst ritt auf die Front der Aufrührer zu.

»Guten Tag, Kinder!« rief er laut und lustig wie bei einer Parade.

»Guten Tag, Kaiserliche Hoheit!« antworteten die Soldaten ebenso lustig.

Der ›plumpe Mischka‹, der ›wohltätige Griesgram‹ – »le bourru bienfaisant«. Michail Pawlowitsch hatte ein rauhes Äußeres und ein weiches Herz. Als einmal ein betrunkener Soldat, der auf der Straße lag, vor ihm ohne aufzustehen salutierte, verzieh er es ihm und sagte: »Er ist betrunken, aber klug.« Auch jetzt war er bereit, den Meuterern für dieses lustige ›Guten Tag‹ zu verzeihen.

»Kinder, was ist mit euch los? Was habt ihr euch in den Kopf gesetzt?« fing er in seinem gemütlichen Tone an. »Der Zessarewitsch Konstantin Pawlowitsch hat auf den Thron verzichtet, und ich kann es bezeugen. Ihr wißt doch, wie ich meinen Bruder liebe. In seinem Namen befehle ich euch: Leistet den gesetzlichen . . .«

»Es gibt kein Gesetz, nach dem man auf zwei Kaiser vereidigt werden soll!« antworteten viele Stimmen.

»Ruhe!« kommandierte der Großfürst, aber man hörte nicht mehr auf ihn.

»Wir tun nichts Böses, aber auf Nikolai lassen wir uns nicht vereidigen!«

»Wo ist Konstantin?«

»Gib uns den Konstantin her!«

»Soll er selbst herkommen, dann werden wir es glauben!«

»Seid nicht eigensinnig, Kinder, sonst gibt's ein Unglück!« versuchte sich einer der Generäle einzumischen.

»Geh zu Teufels Großmutter! Ihr Generäle seid Verräter und macht euch nichts draus, jeden Tag zu schwören, aber für uns ist der Eid kein Spaß!« schrien sie ihn so wütend an, daß Michail Pawlowitsch endlich begriff, was da vorging, und erbleichte. Auch sein Pferd schien es begriffen zu haben: Es erzitterte und wich zurück.

In der engen Gasse zwischen den beiden Karrees – dem der Flottenequipage und dem der Moskauer – warf sich Wilhelm Karlowitsch Küchelbäcker mit einer großen Pistole in der Hand sinnlos hin und her; es war dieselbe Pistole, die in den Schnee gefallen und naß geworden war; bald warf er seinen Mantel von den Schultern und zog ihn bald wieder an; zuletzt zog er ihn ganz aus und blieb im bloßen Frack stehen, lang, krumm, dünnbeinig, einem angeschossenen Reiher ähnlich.

»Voulez vous faire descendre Michel?« fragte dicht neben ihm eine bekannte, aber furchtbar veränderte Stimme, und es kam ihm plötzlich vor, als hätte er dies alles schon einmal erlebt.

»Je le veux bien, mais où est-il donc?«

»Sehen Sie, dort, der mit dem schwarzen Federbusch!«

Er kniff seine kurzsichtigen blauen Glotzaugen mit dem gleichen traurigen und sanften Ausdruck, den sie einst bei den Gesprächen mit seinem Lyzeumsfreund Puschkin ›über Schiller, den Ruhm und die Liebe‹ hatten, zusammen und zielte.

Plötzlich fühlte er, wie jemand seinen Ellenbogen berührte. Er sah sich um und erblickte zwei Soldaten. Sie sagten nichts, der eine winkte nur dem andern mit den Augen und schüttelte den Kopf. Er begriff es aber: ›Nicht doch! Laß ihn laufen!‹

»Kinder, wartet ein wenig; wir machen bald ein Ende!« sprach wieder jene bekannte Stimme, und wieder war es ihm, als hätte er es schon einmal erlebt.

Küchelbäcker hielt die Pistole dicht vor der Nase und betrachtete sie wie erstaunt.

»Sie scheint wirklich naß geworden zu sein«, murmelte er.

»Ach du Kauz, Absolut Absolutowitsch! Bist wohl selbst naß geworden!« rief Puschtschin lachend und klopfte ihn freundlich auf die Schulter. Golizyn kam näher und horchte.

»Wir alle sind nicht ganz trocken, meine Herren!« bemerkte Kachowskij mit giftigem Lächeln.

»Und Sie selbst? Sie schießen doch besser als wir alle«, versetzte Puschtschin.

»Ich hab genug! Zwei hab ich schon auf dem Gewissen und werde auch einen dritten haben«, antwortete Kachowskij.

Golizyn begriff, daß der dritte – Nikolai Pawlowitsch sein sollte.

Am Ende des Admiralitätsboulevards und des Senatsplatzes hielt in der Nähe der aufrührerischen Karrees eine große Equipage mit acht Fenstern, auf hohen Sprungfedern, mit vergoldetem Bock, in der Art der altmodischen Chaisen. Ihr entstiegen zwei kleine Greise mit erschrockenen Gesichtern, in kirchlichen Ornaten: der Metropolit von Petersburg, SeraphimSeraphim, Metropolit (1763-1843), führte einen erbitterten Kampf gegen die Bibelgesellschaft und die mystischen Bestrebungen der Zeit. Anm. d. Übers. und der von Kijew – Jewgenij.

Irgend ein General hatte die beiden Eminenzen in der Schloßkirche aufgegriffen, als sie eben im Begriff waren, einen Dankgottesdienst anläßlich der Thronbesteigung des neuen Kaisers abzuhalten, hatte sie mit zwei Hypodiakonen in die Equipage gesetzt und auf den Platz gebracht.

Die beiden Greise standen in der Menge vor der Schützenkette und flüsterten hilflos und ratlos.

»Geht nicht hin, man wird euch erschlagen!« schrien die einen.

»Geht mit Gott! Das ist ja euer geistliches Amt: Es sind doch keine Heiden hier, sondern getaufte Russen!« redeten die andern zu.

Dem Metropoliten Jewgenij hatte man, als man ihn an den Schößen seines Ornats zurückzuhalten suchte, den Stock aus den Händen gerissen, er kam ins Gedränge und wurde vom andern Metropoliten abgeschnitten. Als Seraphim sich nun allein sah, war er dermaßen bestürzt, daß er sogar keine Angst empfand und gar nicht wußte, was mit ihm vorging; es war ihm, als stürzte er kopfüber von einem Berge. Er bekreuzigte sich nur und flüsterte, mit den kurzsichtigen Äuglein zwinkernd und sich nach allen Seiten umsehend, Gebete.

Plötzlich sah er vor sich das erstaunte, ruhige und gutmütige Gesicht des jungen Leutnants der Leibgarde-Flottenequipage Michaïl Karlowitsch Küchelbäcker, eines Bruders von Wilhelm, eines ebenso ungelenken, langbeinigen und glotzäugigen Menschen wie jener.

»Was wünschen Sie, Väterchen?« fragte Küchelbäcker höflich, die Hand am Mützenrand. Der lutherische Deutschrusse wußte nicht, wie man einen Metropoliten anspricht, und sagte sich, daß jeder ›Pope‹ ein Väterchen sei.

Seraphim antwortete nicht und begann bloß noch schneller mit den Augen zu zwinkern, zu flüstern und sich zu bekreuzigen.

Einst nannten ihn die Salondamen wegen seines angenehmen Äußern ›Seraphimtschick‹. Nun war er über siebzig und hatte ein gedunsenes Altweibergesicht mit Schlitzaugen, einem herzförmigen Mund, einem winzigen Näschen und einem dünnen Spitzbärtchen. Er zitterte am ganzen Leibe, und auch sein Bärtchen zitterte. Küchelbäcker fühlte Mitleid mit dem Alten.

»Was wünschen Sie, Väterchen?« fragte er wieder, noch höflicher.

»Ich möchte hin, zu den Kriegern . . . Mit den Kriegern reden«, stammelte endlich Seraphim, mit seinen vollen Händchen auf das Karree der Meuterer weisend.

»Ich weiß wirklich nicht«, antwortete Küchelbäcker achselzuckend. »Ich darf hier niemand durchlassen. Warten Sie übrigens, Väterchen, ich will sofort . . .«

Und er lief davon. Seraphim hob aber ängstlich die Augen und sah die Soldaten an. Er hatte geglaubt, es seien keine Menschen, sondern Tiere. Er sah aber gewöhnliche, gar nicht schreckliche Menschengesichter.

Er holte Atem, nahm sich plötzlich mit jenem Mut, der manchmal die Feiglinge überkommt, die Mithra vom Kopfe, gab sie dem Hypodiakon, legte sich das Kreuz auf die Stirne und ging in die Menge. Die Soldaten machten ihm den Weg frei, präsentierten die Gewehre und fingen an, sich zu bekreuzigen.

Er machte noch einige Schritte und stand plötzlich vor der Front des Karrees. Die Soldaten bekreuzigten sich auch hier, schrien aber dabei:

»Hurra, Konstantin!«

»Rechtgläubige Krieger!« begann Seraphim, und alle verstummten und lauschten ihm. Er sprach so undeutlich, daß sie nur einzelne Worte unterscheiden konnten: »Krieger, besänftigt euch . . . Ich flehe euch an . . . Schwört . . . Konstantin Pawlowitsch hat dreimal verzichtet . . . Gott ist Zeuge . . .«

»Lassen Sie Gott lieber aus dem Spiel, Eminenz«, sagte eine Stimme, so leise und bestimmt, daß alle sich umsahen. Es war Fürst Valerian Michailowitsch Golizyn.

»Was willst du? Wer bist du? Wo kommst du her?« stammelte Seraphim. Plötzlich erbleichte er und begann zu zittern, aber nicht mehr vor Angst, sondern vor Wut. »Glaubst du an Christus?«

»Ja, ich glaube«, antwortete Golizyn ebenso leise und bestimmt,

Seraphim hielt ihm das Kreuz hin.

»Nun, küsse es, wenn du glaubst!«

»Nur nicht aus Ihren Händen«, sagte Golizyn und wollte ihm das Kreuz aus der Hand nehmen.

Seraphim zog es aber zurück, von einem neuen, überirdischen Entsetzen gepackt, als hätte er erst jetzt das erblickt, was er so sehr fürchtete: im Gesicht des Aufrührers das Gesicht des Teufels.

»Geben Sie es doch, fürchten Sie nicht, ich werde es Ihnen zurückgeben. Vorläufig gehört es noch Ihnen, einmal werden wir es Ihnen aber abnehmen!« sagte Golizyn, und seine Augen funkelten unter der Brille so drohend, daß Seraphim wieder zu zwinkern, zu flüstern und sich zu bekreuzigen anfing und ihm das Kreuz gab.

Golizyn nahm das Kreuz und küßte es mit frommer Andacht.

»Geben Sie es auch mir!« sagte Kachowskij.

»Auch mir! Auch mir!« riefen die andern.

Das Kreuz ging in der Runde von Hand zu Hand, und als es wieder zu Golizyn zurückkehrte, gab er es dem Metropoliten.

»Jetzt gehen Sie aber, Eminenz, und merken Sie sich, daß Sie gegen Ihren Willen die russische Freiheit mit dem Kreuze gesegnet haben.«

Und er schrie wieder so begeistert wie beim Beginn des Aufstandes: »Hurra, Konstantin!«

»Hurra, Konstantin!« fielen die Soldaten ein.

»Geh, Väterchen, in die Kirche, dort ist dein Platz!«

»Was bist du für ein Metropolit, wenn du zweien den Eid geleistet hast!«

»Betrüger, Verräter, Nikolais Deserteur!«

Die Bajonette und Degen kreuzten sich über Seraphins Kopf. Die Hypodiakonen liefen herbei, nahmen ihn unter die Arme und führten ihn fort.

»Da sind auch schon die Geschütze!« sagte jemand, auf die anfahrende Artillerie zeigend.

»Nun, alles, wie es sich gehört«, versetzte Golizyn mit spöttischem Lächeln: »Nach dem Kreuze die Kartätschen, nach Gott – das Tier!«

 


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