Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Achtes Kapitel

Als er zu Rylejew zurückkehrte, hatte sich jener schon gewaschen und rasiert und den Schlafrock mit einem Frack vertauscht. Es war zwar nur ein Hausfrack, aber elegant, dunkelbraun, ›flohfarben‹, mit einer modernen, aus einem türkischen Schal genähten Weste und einer hohen weißen Halsbinde. Als er in den Saal trat und mit den Gästen ins Gespräch kam, wurde er wie immer lebhaft und machte mit seinen fieberhaft glänzenden Augen und fieberhaft geröteten Wangen beinahe den Eindruck eines gesunden Menschen.

Den Rylejew von heute früh erkannte Golizyn nicht, dafür erkannte er aber den von einst: das Gesicht mager, mit vorstehenden Backenknochen, braun, etwas zigeunerhaft; die Augen unter den schwarzen Brauen groß, klar und dunkel; frauenhaft feine Lippen mit einem bezaubernden Lächeln; die lockigen Haare sorgfältig in die Schläfen gekämmt, im Nacken aber ein eigensinniger Schopf wie bei einem Schuljungen. Seine ganze Erscheinung leicht, enteilend, wie eine Flamme im Winde.

Eine Stunde nach Golizyn kamen auch Obolenskij und Trubezkoi. Rylejew zog sich mit ihnen ins Kabinett zurück, schloß die Tür zum Saal, wo sich schon viele Leute versammelt hatten, und begann sofort vom Aufstand zu sprechen.

»Wir hoffen alle auf Sie, Trubezkoi, daß Sie unter den jetzigen Umständen die nötigen Maßregeln ergreifen, denn es ist eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen darf.«

»Wollen Sie denn wirklich handeln, Rylejew?«

»Handeln, unbedingt handeln! Die Umstände selbst fordern zum Handeln auf. Jetzt oder niemals! Es ist eine einzige Gelegenheit, und wenn wir nichts unternehmen, so verdienen wir im vollen Maße, Schurken genannt zu werden«, sagte Rylejew, ihn unverwandt ansehend. »Und was denken Sie, Fürst?«

»Ich denke, daß man erst erfahren muß, welcher Geist in den Truppen herrscht und über welche Mittel die Gesellschaft verfügt.«

»Was für Mittel es auch seien, wir dürfen nicht mehr zurück: Wir sind schon zu weit gegangen. Vielleicht hat man uns schon verraten, vielleicht ist schon alles aufgedeckt. Hier, lesen Sie bitte!« Er reichte ihm den Brief Rostowzews. – Trubezkoi warf nur einen flüchtigen Blick hinein: Vor Aufregung konnte er nicht lesen.

»Was ist das, eine Anzeige?«

»Wie Sie sehen. Die Scheide ist zerbrochen, man kann den Säbel nicht mehr verwahren. Wir sind dem Untergang geweiht.«

»Ja, wir werden nicht nur selbst zugrunde gehen, sondern auch die anderen zugrunde richten. Wir haben aber nicht das Recht, jemand zugrunde zu richten, jemand zugrunde zu richten, ja . . .« begann Trubezkoi. Er dachte sich: ›Jetzt muß ich alles sagen und erklären, daß ich aus der Gesellschaft austreten will.‹ Mit dieser Absicht war er ja auch zu Rylejew gegangen. Aber er konnte es nicht über die Lippen bringen: Es zu sagen war ebenso unmöglich, wie einen Unschuldigen zu beleidigen oder ins Gesicht zu schlagen.

Im Vorzimmer ertönte ein Glockenzeichen nach dem andern.

»Warum kommen so viele Leute?« fragte Trubezkoi.

»Sie haben schon alle vom Kurier gehört«, antwortete Rylejew. Nach einigem Schweigen fragte er: »Welche Truppenmacht würden Sie für ausreichend halten, Fürst?«

»Einige Regimenter. Mindestens sechstausend Mann oder wenigstens ein altes Garderegiment, denn zu den Jüngeren werden sie nicht übertreten wollen.«

»Dann brauchen wir keine Sorge zu haben: Für zwei Regimenter, das Moskauer und die Leibgrenadiere, bürge ich!« rief Rylejew.

»Es sind nur Worte«, versetzte Obolenskij. »Du solltest dich für nichts verbürgen: Wir können für keinen einzigen Mann garantieren.«

Rylejew blickte Obolenskij an und antwortete nicht; er zuckte nur die Achseln und brachte die Rede auf den Plan des Aufstandes.

Das Leichte, Fliegende, Aufwärtsstrebende, an eine Flamme im Winde Erinnernde, das in ihm selbst war, teilte sich auch seiner ganzen Umgebung mit. Er schien zu befehlen, und man konnte ihm nicht widerstreben.

Während Trubezkoi Rylejew zuhörte, kam er selbst allmählich ins Feuer – so antwortet eine vom Bogen unberührte Saite einer andern neben ihr tönenden Saite. Und er fing an, seinen Plan zu entwickeln.

»Mein Plan lautet: Sobald die Regimenter zur neuen Vereidigung versammelt sind und die Soldaten Widerstand leisten, sollen die Offiziere sie zum nächsten Regiment führen; wenn dieses sich ihnen angeschlossen hat, zu einem dritten, und so weiter. Sobald dann fast alle Garderegimenter oder ihr größter Teil versammelt sind, soll man die Berufung des Thronfolgers verlangen. So wird der Schein der Gesetzlichkeit gewahrt und der Widerstand der Regimenter als Treue angesehen werden können; das Ziel der Gesellschaft wird aber schon verloren sein. Wenn aber an den Thronfolger keine Berufung abgeht, so soll man zum Senat gehen und die Veröffentlichung eines Manifestes fordern, durch das gewählte Vertreter aller Stände zur Beschlußfassung über die Frage, wem der Thron zufallen soll und auf welcher Grundlage, einberufen werden. Inzwischen muß der Senat eine provisorische Regierung einsetzen, bis die Große Versammlung der Volksvertreter die Verfassung des Russischen Reiches bestätigt hat. Nach Veröffentlichung dieses Manifestes müssen aber die Truppen unverzüglich die Stadt verlassen und ein Lager außerhalb derselben aufschlagen, damit auch mitten in der Revolution Ruhe und Ordnung gewahrt werden, Ruhe und Ordnung, ja . . .«

›Revolution mit Rosenwasser‹, fiel es Golizyn ein.

»Ein schöner Plan, Trubezkoi«, sagte Rylejew. »Ich fürchte nur, daß so ein Rundgang von Regiment zu Regiment gar zu lange dauern wird. Ist denn das unbedingt nötig?«

»Unbedingt. Wie denn sonst?«

»Ganz einfach: Man gehe direkt auf den Senatsplatz. Ich glaube, es genügt, daß eine einzige Kompagnie meutert, damit die Revolution beginnt. Und wenn auch bloß fünfzig Mann kommen, stelle ich mich in ihre Reihen!« rief Rylejew, und seine Augen begannen so zu funkeln, daß es Trubezkoi unheimlich wurde. Er verstummte plötzlich und fühlte, daß er gar nicht das sagte, was er sagen sollte.

Hinter der Tür tönten viele Stimmen durcheinander. Alle sprachen, stritten und schrien zugleich. Die Worte konnte man nicht unterscheiden, aber das Geschrei war so, daß man glaubte, sie würden sofort handgemein werden.

Die Tür ging plötzlich mit großem Lärm auf, und ins Zimmer stürzte der Stabshauptmann im Moskauer Leibgarderegiment, Fürst Schtschepin-Rostowskij, über und über rot, schweißbedeckt, zerzaust, rasend, einem Verrückten oder Betrunkenen ähnlich.

»Hol euch alle der Teufel, Schurken, Feiglinge, Verräter!« schrie er, mit den Fäusten fuchtelnd. »Tut, was ihr wollt, aber ich . . .«

»Was schreien Sie, Herr? Wir sind nicht taub«, unterbrach ihn Rylejew ruhig, und jener wurde für einen Augenblick stutzig.

»Hören Sie, Rylejew, ich kann nicht mehr mit ihnen bleiben! Mit diesen Philantropen ist nichts anzufangen! Hier muß man einfach draufloshauen! Und wenn Sie wollen, gehe ich hin und zeige mich selbst an . . .«

»Schweigen Sie doch, hol Sie der Teufel!« rief Rylejew, aufspringend und mit den Füßen stampfend. »Sind Sie toll oder was? Was wollen Sie? Oder sehen Sie nicht, daß wir mit wichtigen Dingen beschäftigt sind? Gehen Sie, gehen Sie hinaus!« Mit diesen Worten packte er ihn bei den Schultern, und so klein und schwächlich er vor dem riesengroßen Schtschepin auch erschien, drehte er ihn um und stieß ihn so geschickt aus dem Zimmer, daß Obolenskij und Golizyn sich von ihrem Erstaunen noch nicht erholt hatten, als alles schon erledigt war.

Sie lachten. Trubezkoi war es aber gar nicht lustig zu Mute.

»Nun, haben Sie es gehört? Was sagen Sie dazu, Rylejew? Wie?« stammelte er erbleichend.

»Es ist nichts, Trubezkoi, machen Sie sich keine Sorgen. Er spricht nur so. Ich werde ihn schon besänftigen. Ich habe ihn ganz in der Hand. Er schreit viel, ist aber eine gute Seele.«

»Eine gute Seele, will aber draufloshauen!« fuhr Trubezkoi fort. »Nicht er allein, alle wollen es. Sie denken nur an Blut und Mord. Nein, meine Herren, ich kann nicht . . . Gott sieht mein Herz: Ich bin niemals Verbrecher und Mörder gewesen und kann nicht bewußt einen Mord begehen, ich kann es nicht, ja . . .«

›Ich will aus der Gesellschaft austreten‹, wollte er sagen, sagte es aber nicht: Wieder konnte er es nicht über die Lippen bringen. Je mehr er es wollte, um so weniger konnte er es.

»Nun, ich gehe!« sagte er, plötzlich aufstehend und Rylejew mit auffallender Eile die Hand reichend.

»Wo wollen Sie denn hin? Warten Sie. Warum so plötzlich? Wir haben ja noch nichts beschlossen . . .«

»Was gibt es da zu beschließen? Wir werden sowieso nichts beschließen!«

»Vielleicht werden wir wirklich nichts beschließen. Vielleicht gibt es auch nichts zu beschließen. Die Umstände werden es zeigen . . . Nun gut, mit Gott! Also morgen?« Rylejew legte ihm die Hände auf die Schulter und näherte sein Gesicht dem seinen, so daß jener seinen Atem spürte. »Und Sie, Trubezkoi, sind mir nicht böse? Seien Sie nicht böse, Liebster, um Gotteswillen!« Er lächelte kindlich und zärtlich. »Ich bin schuld, ich weiß selbst, daß ich schuld bin! Ich habe eigenmächtig geschaltet, habe auf niemand gehört. Das soll nicht wieder vorkommen, Schluß. Morgen sind Sie Diktator, ich aber bin gemeiner Soldat, Ihr ergebener Knecht. Wenn jemand gegen Sie bloß aufbegehrt, so erschlage ich ihn mit meinen eigenen Händen! Nun, Christus sei mit Ihnen!« Er wollte ihn umarmen, aber jener taumelte zurück und erbleichte noch mehr. »Sie wollen sich von mir nicht umarmen lassen? Also sind Sie mir böse?« fragte Rylejew, ihm in die Augen blickend.

Trubezkoi hatte nur den einen Wunsch: möglichst schnell wegzugehen. Er fürchtete, wieder ohnmächtig zu werden. Plötzlich umarmte und küßte er Rylejew. ›Verrätest du des Menschen Sohn mit einem Kuß?‹ ging es ihm durch den Sinn, und er lief aus dem Zimmer.

Erst auf dem Treppenabsatz kam er zu sich. Er fühlte, daß ihn jemand am Mantelschoß festhielt. Er wandte sich um und sah Obolenskij. Dieser sagte ihm etwas, und Trubezkoi konnte es lange nicht verstehen; endlich verstand er es:

»Werden Sie morgen auf dem Platze sein?«

Er nahm sich zusammen.

»Ja, wenn irgendwelche zwei Kompagnien kommen, was kann da geschehen? Mir scheint, alles wird ruhig verlaufen«, antwortete er fast ohne Aufregung.

»Werden Sie immerhin kommen?« drang in ihn Obolenskij, ihn immer am Mantelschoße festhaltend. Trubezkoi antwortete aber nichts, riß sich los, lief auf die Straße, sprang in seinen Wagen, befahl dem Kutscher: »Nach Hause!«, klappte den Wagenschlag zu und drückte sich mehr tot als lebendig in eine Ecke.

Im Wagen duftete es nach Teerosen, dem lieben Dufte Kataschas.

›Sie weiß es noch nicht! Einmal wird sie es aber erfahren!‹ dachte er sich, von einem neuen Entsetzen gepackt.

›Werden Sie morgen immerhin auf dem Platze sein?‹ klang es ihm wieder in den Ohren.

Er sprang auf, wandte sich zum Fenster, wollte die Scheibe herunterlassen und dem Kutscher zurufen: »Zurück zu Rylejew!« Aber er wurde plötzlich schwach, fiel in die Kissen und war plötzlich wie weich, wie flüssig geworden.

 


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