Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Fünftes Kapitel

Am 13. Dezember morgens fuhren Golizyn und ObolenskijObolenskij, Fürst Jewgenij Petrowitsch (1796-1865), Oberleutnant, wurde nach Sibirien verschickt, wo er 13 Jahre in den Bergwerken arbeitete; starb amnestiert zu Kaluga. Anm. d. Übers. zu Rylejew.

Als sie sich dem Hause der Russisch-Amerikanischen Compagnie an der Blauen Brücke über die Moika näherten, erkannte Golizyn schon aus der Ferne die Fenster im Erdgeschoß mit den vorstehenden gußeisernen Gittern.

Der ihnen schon bekannte kleine Diener Filjka öffnete die Tür und ließ sie ohne weiteres ein, wie er wohl alle einließ. In den letzten Tagen drängten sich bei Rylejew von früh bis spät die Besucher; sie kamen und gingen ohne jede Vorsicht. Hier war der Sammelpunkt, sozusagen das Stabsquartier der Verschwörer.

Im kleinen Eßzimmer war alles beim alten und dabei doch anders: Die weißen Mullvorhänge an den Fenstern waren vor Staub und Rauch geschwärzt; die Balsaminen und Samtblumen auf den Fensterbänken waren verdorrt; die Fußteppiche abgerieben; der nichtgewichste Fußboden war dunkel geworden, der Kanarienkäfig stand leer; die Lämpchen vor den Heiligenbildern brannten nicht. Die Tür zum Wohn- und Schlafzimmer, wo die Frau Rylejew mit ihrem Töchterchen in der Enge hauste, war fest abgeschlossen. Es war, als hätte sich all das Lustige, Unschuldige, der Duft von Geburtstag und Flitterwochen, der hier einst schwebte, verflüchtigt.

Rylejew selbst war nicht im Zimmer. Männer in Uniform und Zivil, die Golizyn nicht kannte, saßen am Tisch um einen Samowar herum und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen.

»Ist Rylejew zu Hause?« fragte Obolenskij, die Anwesenden begrüßend.

»Er ist bei sich im Kabinett. Ich glaube, er schläft. Aber es macht nichts, treten Sie nur ein. Er sagte, man solle ihn wecken, wenn Sie kommen.«

Obolenskij klopfte an die Türe. Niemand antwortete. Er machte die Türe auf und trat mit Golizyn in ein schmales Zimmerchen, wo man sich zwischen dem großen Ledersofa, dem Schreibtisch, dem Bücherschrank und den Stößen des von Alexander BestuschewBestuschew, Alexander Alexandrowitsch (1795-1837), unter dem Pseudonym Marlinskij als Dichter und Novellist bekannt. Wurde nach Irkutsk verbannt, später aber begnadigt. Fiel als Offizier bei einem Treffen im Kaukasus. Anm. d. Übers. und Rylejew herausgegebenen Almanachs »Polarstern« kaum bewegen konnte. Die Fenster gingen auf einen Hinterhof und auf die schmutzig-gelbe Mauer des Nachbarhauses hinaus.

Das Zimmer war überheizt. Es roch nach Arzneien. Auf dem Nachttischchen vor dem Sofa stand eine Menge von Medizinflaschen mit Rezepten.

Auf dem Sofa schlief Rylejew. Er hatte einen alten Schlafrock an und ein gestricktes Wolltuch um den Hals, und sein Gesicht war so unbeweglich wie bei einem Toten. Er war abgemagert und so heruntergekommen, daß Golizyn ihn fast nicht wiedererkannte. Er hatte sich erkältet, als er sich zwei Nächte in den Straßen herumtrieb, um die Soldaten aufzuwiegeln, und sich dabei die Bräune geholt; jetzt befand er sich schon in der Rekonvaleszenz, war aber noch immer sehr elend.

Golizyn blieb in der Türe stehen. Obolenskij ging auf das Sofa zu. Ein Dielenbrett knarrte. Der Schlafende schlug die Augen auf und richtete auf die beiden einen trüben Blick, der nichts erkannte und nichts sah.

»Was ist? Was ist?« schrie er leise auf. Dann erhob er sich und fing an, sich mit beiden Händen so krampfhaft, als müßte er ersticken, das Tuch vom Halse zu zerren. Aber er zog mit seinen ungeschickten Bewegungen den Knoten nur noch fester zu.

»Wart, ich will es aufbinden«, sagte Obolenskij. Er beugte sich über ihn, löste den Knoten und nahm das Tuch ab.

»Wir haben dich geweckt und erschreckt, armer kleiner Rylejew!« sagte Obolenskij, sich zu ihm aufs Sofa setzend und ihm mit einer stillen Liebkosung die Haare streichelnd. »Hast du einen bösen Traum gehabt?«

»Ja, wieder der gleiche Dreck! Immer dieser selbe Traum.«

»Was war es denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr . . . Warum stehen Sie denn, Golizyn? Setzen Sie sich doch . . . Mir scheint, ich träumte wieder vom Strick . . .«

»Von was für einem Strick?«

Rylejew antwortete nicht und lächelte nur eigentümlich: In seinem Lächeln war noch ein Überrest des Fieberdeliriums. Auch Obolenskij schwieg; er erinnerte sich an folgendes: Als man Rylejew während seiner Krankheit einmal das Spanischfliegenpflaster am Halse wechselte und dabei den Hals berührte, schrie er vor Schmerz auf, aber Nikolai BestuschewBestuschew, Nikolai Alexandrowitsch., Kapitän-Leutnant (1791-1855), wurde nach Sibirien verschickt und starb in der Verbannung. Anm. d. Übers. sagte lachend: »Wie, schämst du dich nicht, wegen eines solchen Unsinns zu schreien! Du hast wohl vergessen, was du für deinen Hals erwartest?«

»Du hast aber wieder Fieber. Der Kopf ist ganz heiß. Du solltest heute nicht ausgehen«, sagte Obolenskij, ihm die Hand auf die Stirne legend.

»Wenn nicht heute, so morgen. Morgen werde ich ganz gewiß ausgehen.« Rylejew lächelte wieder dasselbe eigentümliche, verschlafene Lächeln.

»Was ist denn morgen?«

»Ach, Teufel! Wir reden von allerlei Unsinn, die Hauptsache wißt ihr aber noch nicht«, begann er mit veränderter Stimme: Er war erst jetzt richtig erwacht. »Aus Warschau ist ein Kurier mit dem endgültigen Verzicht Konstantins eingetroffen. Morgen um sieben Uhr früh versammelt sich der Senat, und die Truppen werden auf Nikolai Pawlowitsch vereidigt.«

Diese Nachricht erwartete man von Tag zu Tag, und doch kam sie ganz unerwartet. Nun wußten sie es: Morgen ist der Aufstand. Sie verstummten und wurden nachdenklich.

»Werden wir auch fertig sein?« fragte schließlich Obolenskij.

Rylejew zuckte die Achseln.

»Ja, es ist eine dumme Frage! Wir werden niemals fertig sein. Nun, also morgen. Mit Gott!« schloß Obolenskij und fügte nach einer Weile hinzu: »Und was fangen wir mit Rostowzew an?«

Rostowzew war zwar kein Mitglied der Geheimen Gesellschaft, aber mit vielen Mitgliedern befreundet und wußte manches von den Plänen der Verschwörer. Seine Zusammenkunft mit dem Großfürsten Nikolai Pawlowitsch hatte er in einem ›Der schönste Tag meines Lebens‹ betitelten Schriftstück beschrieben und dieses einen Tag vorher Obolenskij und Rylejew übergeben. Dabei hatte er gesagt: »Tut mit mir, was ihr wollt, – ich konnte nicht anders.«

»Du weißt doch meine Ansicht«, antwortete Rylejew.

»Ich weiß. Aber einen Schurken umbringen heißt: sich selbst anzeigen. Lohnt es auch, sich damit die Hände zu beschmieren?«

»Es lohnt«, sagte Rylejew leise. »Und was sagen Sie dazu, Golizyn?«

»Ich sage, daß Rostowzew zugleich Gott und dem Teufel dient. Er enthüllt Nikolai die Verschwörung und wäscht sich vor uns rein. Aber in diesem Geständnis konnte er uns alles, was er wollte, eröffnen und auch verschweigen.«

»Sie glauben also, daß wir schon angezeigt sind?« fragte Rylejew.

»Ganz gewiß, und man wird uns auch verhaften, wenn nicht jetzt, so nach der Vereidigung«, antwortete Golizyn.

»Was sollen wir nun tun?«

»Niemand etwas von der Anzeige sagen und handeln. Es ist besser, man verhaftet uns auf dem Platze als im Bette. Wenn wir schon zugrunde gehen sollen, so soll man wenigstens wissen, warum wir zugrunde gegangen sind!«

»Und du, Obolenskij, was denkst du darüber?« fragte Rylejew.

»Natürlich dasselbe.«

Rylejew ergriff mit der einen Hand die Hand Golizyns und mit der anderen die Obolenskijs.

»Ich danke euch, Freunde. Ich wußte, daß Ihr es sagen werdet. Also mit Gott! Wir fangen an. Und wenn wir selbst nichts erreichen, so werden wir es die anderen lehren. Mögen wir untergehen, unser Untergang selbst wird die Gefühle der schlafenden Söhne des Vaterlandes wecken!«

Er sprach wie immer hochtrabend und unnatürlich; natürlich waren dafür seine großen, dunklen, klaren Augen, die in seinem abgemagerten Gesicht mit solchem Feuer brannten, daß es unheimlich war; natürlich war sein Gesicht, in dem sich auch ohne Worte alles spiegelte, was er fühlte. »So treten auf den Wandungen einer Alabastervase die Reliefs hervor, wenn in ihr ein Feuer brennt«, – diese Worte Moores über Byron fielen Golizyn ein.

Er mußte auch an das Gedicht Rylejews denken:

Ich weiß es wohl, Verderben winkt
Dem, der als erster vorwärts springt
Auf jene, die das Volk bedrücken;
Erwählt hat mich dazu das Los.
Glaub mir, es kann nicht opferlos
Die Freiheit zu erringen glücken . . .

»Ja, endlich dürfen wir sagen: Morgen fangen wir an«, fuhr Rylejew fort. »Wie habe ich diesen Augenblick erwartet, wie habe ich mich gefreut! Und nun ist er gekommen. Warum fühle ich aber keine Freude? Warum ist meine Seele betrübt bis an den Tod?«

Er stützte die Ellenbogen auf die Knie, legte den Kopf in die Hände und duckte sich wie unter einer schweren Last. Seine Stimme zitterte vor Tränen.

»Lebt wohl, Freunde! Man soll davon nicht reden . . .«

»Nein, man soll es, Rylejew. Sag alles, es wird dich erleichtern«, sagte Obolenskij.

»Puschkin hat mich einmal ›Pläneschmied‹ genannt. Ich sei kein Dichter, sondern Pläneschmied. Ja, ich bin wirklich Pläneschmied«, versetzte Rylejew mit einem Lächeln. »Ich philosophiere nur über die Freiheit, mache sie aber nicht. Ich zeichne nur die Pläne, aber baue nicht.«

»Nicht Sie allein, Rylejew, wir sind alle so«, entgegnete Golizyn.

»Ja, alle. Als ich neulich nachts durch die Straßen ging, versammelte sich in einer entlegenen Gasse vor einer Kaserne ein Haufen Soldaten. Sie hörten mir zu und verstanden alles, was ich ihnen von der neuen Vereidigung sagte. ›Wir werden den Zaren Konstantin mit unsern Leibern schützen‹, sagten sie, ›wir werden ihn nicht im Stich lassen‹. Nun, ich kam ins Zeug und brachte die Rede auf die Konstitution, auf die Freiheit, auf die Menschenrechte. Da hörte ich, wie sich hinter meinem Rücken ein betrunkener Soldat über mich lustig machte, aber freundlich, als täte ich ihm leid, sagte er: ›Ach, Herr, Herr, bist ein guter Herr, aber so unverständig! Du redest zwar russisch, aber man kann nichts verstehen!‹ Nur das hatte er gesagt, aber ich verstand alles. Ja, wir sind in Rußland – Nichtrussen, für unsere eigenen Landsleute sind wir Fremde, heimatlose Ausländer, ewige Wanderer. Wir wagen ihnen sogar nicht zu sagen, daß wir uns für die Freiheit erheben; wir sagen: für den Zaren Konstantin. Wir lügen. Wenn das Volk aber die Wahrheit erfährt, wird es uns verfluchen und den Henkern zum Kreuzigen überliefern. Glaubt es mir, Freunde, ich hatte niemals gehofft, daß unsere Sache anders zustandekommen könne als durch unsern eigenen Untergang. Aber ich hoffte immerhin, daß wir das gelobte Land wenigstens aus der Ferne zu sehen bekommen. Nein, wir werden es nicht sehen. Ein freies Rußland werden weder unsere Augen noch die Augen unserer Enkel und Urenkel zu sehen bekommen! Wir werden ruhmlos, spurlos, sinnlos untergehen. Wir werden uns die Köpfe an der Mauer zerschlagen, werden uns aber aus dem Kerker nicht befreien. Unsere Gebeine werden verfaulen, aber unsere Hoffnungen werden nicht in Erfüllung gehen. Oh, es ist schwer, Brüder, so schwer, es geht über meine Kraft!«

Er kam nicht weiter und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Obolenskij setzte sich wieder zu ihm und streichelte ihm den Kopf mit einer stillen Liebkosung. Wie immer in Augenblicken der Zärtlichkeit, nannte er ihn ›Konjok‹, Abkürzung von Kondratij.

»Du bist müde, hast dich so abgequält, mein armer Konjok!«

»Ich bin müde, Obolenskij, so furchtbar müde! Man sagt, es gäbe ein Leben im Jenseits. Ich habe aber schon von diesem genug. Ich bin so müde, daß mir wohl der Tod und die Ewigkeit nicht ausreichen werden, um auszuruhen . . .«

»Wißt ihr, worüber ich immer nachdenke?« fragte er nach einem Schweigen. »Was heißt das: Ist es möglich, so gehe dieser Kelch von mir? Wie konnte Er das sagen? Er war doch gekommen, um den Kelch zu trinken; und plötzlich wollte Er nicht, war schwach geworden, schreckte zurück. Und das war Er, der Gott! Ganz wie ein Mensch . . . Golizyn, gibt es einen Gott? Sagen Sie mir nur einfach, ob es einen gibt.«

»Es gibt einen Gott, Rylejew«, antwortete Golizyn und lächelte.

»Ja, das haben Sie einfach gesagt«, versetzte Rylejew und lächelte gleichfalls. »Nun; ich weiß nicht, vielleicht gibt es ihn auch. Aber was taugt er Ihnen? Sie wollen doch die Freiheit?«

»Gibt es denn keine Freiheit mit Gott?«

»Nein. Mit Gott ist die Sklaverei.«

»Einst war es die Sklaverei, nun wird es die Freiheit sein.«

»Wirklich? Wann? Jetzt aber . . . Nein, Golizyn, es ist kalt, so kalt!«

»Was ist kalt, Rylejew?«

»Ihr Gott und Ihr Himmel. Wer den Himmel liebt, der liebt die Erde nicht.«

»Kann man denn nicht beides zugleich lieben?«

»Lehren Sie mich, wie man es tut.«

»Er wird Sie lehren: Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel. Hier ist beides zusammen.«

»Pläneschmied!«

»Mag sein. Für diesen Plan lohnt es sich zu sterben.«

Rylejew antwortete nicht, schloß die Augen, ließ den Kopf sinken, und über sein Gesicht rollten so stille Tränen, daß er sie selbst nicht fühlte.

Obolenskij beugte sich über ihn, umarmte und küßte ihn wie ein krankes Kind mit einer stillen Liebkosung.

»Macht nichts, macht nichts, Konjok! Alles wird schon gut werden. Christus sei mit dir!«

 


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