Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Siebentes Kapitel

Der ›Diktator‹ der Verschwörer, Fürst Ssergej Petrowitsch Trubezkoi, Oberst im Preobraschenskij-Leibgarderegiment, wohnte im Hause seines Schwiegervaters, des Grafen Laval, am Englischen Quai neben dem Senat.

Der bettelarme französische Emigrant Laval hatte durch seine Heirat mit einer Moskauer Kaufmannstochter, Besitzerin eines Millionenvermögens und Erbin von siebzehntausend leibeigenen Seelen und der größten Kupferbergwerke auf dem Ural, Karriere gemacht und war russischer Graf, Kammerherr, Geheimer Rat und Direktor eines Departements im Ministerium des Äußern geworden. Auf seinen Bällen und Empfängen versammelten sich die höchsten Kreise, das diplomatische Korps und die kaiserliche Familie. Eine seiner Töchter, Zenaïda, war mit dem österreichischen Botschafter, dem Grafen Lebzeltern, verheiratet, und die andere, Jekaterina, mit dem Fürsten Trubezkoi.

Ein alter Kammerdiener mit grauem Haar, in schwarzem Atlasfrack, schwarzen seidenen Strümpfen und Schnallenschuhen, einem alten Diplomaten ähnlich, empfing Golizyn und Obolenskij respektvoll und freundlich auf dem mit Marmorfliesen aus dem Palaste Neros ausgelegten oberen Treppenabsatz und geleitete sie durch eine Reihe prunkvoll ausgestatteter, schloßähnlicher Räume in die vom Fürsten bewohnten Gemächer, in sein Kabinett . . . Es war ein riesengroßes, sehr helles Zimmer voller Bücherschränke, mit Fenstern, die auf die Newa hinausgingen, durch dunkle Teppiche, dunkle eichene Wandtäfelung und dunkelgrüne Saffianmöbel angenehm gedämpft.

Der Hausherr empfing die Gäste mit seiner gewöhnlichen, stillen, gar nicht salonmäßigen Liebenswürdigkeit.

»Wir kommen nur für einen Augenblick, Fürst«, begann Obolenskij. »Rylejew bittet sehr, Sie möchten ihn aufsuchen . . .«

»Ach, mein Gott!« Trubezkoi griff sich an den Kopf. »Ich bin so sehr in seiner Schuld! Glauben Sie es mir, meine Herren, jeden Tag habe ich es vor, aber immer diese verfluchten Geschäfte im Stab. Aber dieser Tage ganz bestimmt, ganz bestimmt . . . morgen . . .«

»Nicht morgen, sondern heute und sofort. Wir sind gekommen, um Sie zu holen, Fürst, und werden ohne Sie nicht weggehen«, sagte Obolenskij sehr bestimmt.

»Sofort? Ich weiß wirklich nicht, meine Herren, . . . Aber warum stehen Sie, setzen Sie sich doch. Wenigstens für einen Augenblick. Wollen Sie nicht frühstücken?«

Auf das Frühstück verzichteten sie sehr entschieden, mußten sich aber doch in die tiefen, wiegenweichen Sessel vor das Kaminfeuer setzen, das gemütlich in der Mittagdämmerung flackerte. Als Trubezkoi merkte, daß das Feuer Golizyn stören könne, rückte er den Kaminschirm so heran, daß die Glut nur seine Füße, aber nicht sein Gesicht traf. Erst dann setzte er sich selbst, mit dem Rücken zum Licht – der gewöhnliche Kunstgriff schüchterner Menschen.

»Lassen Sie mich wenigstens meine Gedanken sammeln, meine Herren.«

Golizyn schielte nach der Tür. Trubezkoi stand auf, ging zur Tür und schloß sie ab.

»Diese führt in die Gemächer der Fürstin, niemand ist jetzt da«, sagte er, auf die andere Tür zeigend.

»Erlauben Sie, meine Herren, daß ich ganz aufrichtig spreche.«

»Aufrichtigkeit ist das Beste«, bestätigte Golizyn, Trubezkoi unverwandt betrachtend.

Trubezkoi trug einen Hausfrack. Er war nicht sehr jung, über dreißig. Lang, hager, gebückt, mit eingefallener Brust wie ein Schwindsüchtiger, pockennarbig und rothaarig, hatte er einen zerzausten dünnen Backenbart, abstehende Ohren, ein langes, schmales Gesicht, eine große Hakennase, dicke Lippen und zwei schmerzvolle Falten an den Mundwinkeln. Er sah wirklich ein wenig wie ein Jude aus, wie ihn seine Kameraden in der Kindheit neckten. Er war unschön, aber in seinen großen, grauen, kindlich treuherzigen, traurigen und guten Augen lag ein solcher Adel, daß Golizyn sich dachte: ›Haben wir, Obolenskij und ich, uns nicht getäuscht?‹

Er erinnerte sich der Sätze in der von Trubezkoi ausgearbeiteten Verfassung, – dem ›Statut des Slawisch-Russischen Reiches‹: »Die Sklaverei wird abgeschafft. Die Teilung in Adel und gemeines Volk wird nicht angenommen, insofern sie dem christlichen Glauben widerspricht, nach dem alle Menschen Brüder sind; alle sind zum Guten geboren und einfach Menschen, denn vor Gott ist jeder Mensch schwach.« Sein ganzes Wesen war in diesen Worten enthalten: Er war weder Brutus noch Robespierre oder Marat, sondern ein adliger ›Liberalist‹, ein guter russischer Fürst, der zu dem gemeinen Volke mit seiner Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit kommt. Ein ›Don Quixote der Revolution‹.

»Meine Stellung in der Geheimen Gesellschaft ist sehr schwierig. Ich fühle, daß ich nicht den Mut habe, auf den Untergang hinzuarbeiten, aber ich fürchte, keine Gewalt mehr zu haben, die Ereignisse aufzuhalten«, begann er mit dumpfer, heiserer, aber angenehmer und weicher Stimme. ›Wenn man ihm zuhört, ist es, wie wenn man mit der Hand über Samt streicht‹, dachte sich Golizyn.

»Die Gesellschaft braucht nur meinen Namen. Rylejew hat alles in der Hand, ich weiß aber nichts. Ich weiß sogar nicht, wie ich Diktator geworden bin . . .«

Golizyn spürte den leichten Duft einer Teerose, konnte aber nicht begreifen, woher er kam. Als er aber einmal die Augen senkte, erblickte er auf der Armlehne des Sessels, in dem er saß, ein kleines Spitzentaschentuch. Er nahm es in die Hand und roch daran. Trubezkoi sah ihn an, errötete leicht und verstummte. Golizyn reichte ihm schweigend das Taschentuch; jener steckte es in die Seitentasche und fuhr fort:

»Rylejew hat die Entschlossenheit, fast ohne jede Hoffnung zu handeln. Aber nach den Mitteln und den Absichten zu schließen, ist es der Gipfel des Wahnsinns, der Gipfel des Wahnsinns, ja . . .«

Er hatte die Gewohnheit, die letzten Worte zu wiederholen und stotternd und flüsternd in die Länge zu ziehen; in diesem Stammeln lag aber etwas Vornehm-schwächliches und Kindlich-gutmütiges.

»Die Truppen, die die Gesellschaft zu ihren Zwecken gebrauchen könnte, sind ungenügend. Von den wichtigen Personen beteiligt sich niemand am Unternehmen. Man hat eine Menge hohler Jungen angeworben, die nur schwatzen. Sie schwatzen nur in den Salons; auf den Straßen und Plätzen schweigen sie aber. Es ist doch lächerlich, wenn man bedenkt, daß drei oder vier Fähnriche, ohne Einfluß, ohne einen Namen, die Absicht haben, ein seit Jahrhunderten gegründetes Reich zu erschüttern . . . ein seit Jahrhunderten gegründetes Reich . . . ja . . .«

»Serge, sind Sie hier?« erklang eine jugendliche weibliche Stimme, und Golizyn erblickte, sich umwendend, an der Schwelle der nicht verschlossenen Tür, die in die Gemächer der Fürstin führte, eine unbekannte Dame. Sie wollte eintreten, sah aber die Gäste und blieb unschlüssig stehen.

»Guten Tag, Fürst«, begrüßte sie Obolenskij, den sie erkannte, und ging auf ihn zu. »Entschuldigen Sie, meine Herren, mir scheint, ich störe?«

»Gestatten Sie, liebe Freundin, Ihnen den Fürsten Golizyn vorzustellen«, sagte Trubezkoi.

Als Golizyn ihr die Hand küßte, spürte er den Duft von Teerose. Ganz schwarz gekleidet – sie trug Trauer um den verstorbenen Kaiser –, mit den schwarzen, glatt in die Schläfen gekämmten Haaren und der gelblichen, gleichmäßigen und frischen Blässe ihres Gesichts erinnerte sie wirklich an eine Teerose. Französisch nannte man sie Catache, von Cathérine, russisch aber ›Katascha‹ (Röllchen); der Name klang zwar etwas komisch, paßte aber gut zu ihr: Sie war klein, rund, elastisch und hatte schnelle, gleichsam rollende Bewegungen wie eine kleine Elfenbeinkugel.

Alle verstummten. Die Fürstin wechselte mit ihrem Mann Blicke, und diesen Blicken allein konnte man ansehen, wie glücklich die beiden waren. Sie selbst hielten sich für ein altes Paar, erschienen aber allen andern als ein ›junges Pärchen‹. Wenn sie zusammen in Gesellschaft waren, lächelten sie schuldbewußt, als schämten sie sich ihres Glückes.

Sie lächelte auch jetzt, aber in ihren Augen war eine ahnungsvolle Unruhe.

›Weiß sie, wer wir sind und wozu wir gekommen sind? Wenn sie es nicht weiß, so fühlt sie es‹, sagte sich Golizyn, und plötzlich mußte er, er wußte selbst nicht warum, an Marinjka denken.

Die Fürstin sagte noch einige freundliche Worte und verabschiedete sich.

»Ich bitte noch einmal um Entschuldigung, meine Herren. Vergessen Sie nicht, mein Freund, heute um vier Uhr bei den Bjelosselskijs zu sein. Ich werde meinen Wagen nach Ihnen schicken«, sagte sie beim Weggehen ihrem Mann, und in ihren Augen erschien wieder eine ahnungsvolle Unruhe.

»Entschuldigen Sie, meine Herren, um Gottes Willen! Ich wußte wirklich nicht . . . Man hatte mir gesagt, die Fürstin sei ausgefahren«, stammelte Trubezkoi verlegen.

»Lassen Sie es, Fürst«, unterbrach ihn Golizyn. »Selbst wenn die Fürstin alles wüßte, wäre es kein großes Unglück. Die Ausschließung der Frauen aus der Gesellschaft hielt ich immer für eine Ungerechtigkeit. Womit sind sie schlimmer als wir? Solche Frauen aber, wie Ihre Frau Gemahlin . . .«

»Kennen Sie sie denn?«

»Es genügt sie zu sehen, um sie zu kennen.«

Trubezkoi erstrahlte, errötete und lächelte wieder wie vorhin glücklich und schuldbewußt.

»Also gut, genug davon«, schloß Golizyn. »Meine Herren, die Zeit vergeht. Wollen wir schneller zu Ende kommen. Sie glauben also, Trubezkoi, daß unsere Kräfte dem Unternehmen nicht gewachsen sind?«

»Ja, Golizyn, es genügt ein Tropfen Vernunft, um die ganze Unmöglichkeit dieser Sache einzusehen, die ganze Unmöglichkeit, ja . . . Niemand wird sich dazu entschließen, außer denen, die sich in einen politischen Wahnsinn verrannt haben . . .«

»Ja, in einen Wahnsinn«, bestätigte Golizyn. Er sagte zu allem ja, um ihn zu ›prüfen‹ und zu fangen. Obolenskij litt offenbar und schwieg.

»Es freut mich sehr, meine Herren, daß Sie mich verstanden haben. Ich will es offen aussprechen: Bis zum letzten Augenblick hoffte ich, daß ich, indem ich die Beziehungen zu den Mitgliedern der Gesellschaft, als ihr Oberhaupt, aufrechterhalte, die Möglichkeit habe, das Unheil abzuwenden und wenigstens einen Schein von Gesetzlichkeit zu wahren. Aber sie haben jetzt, Gott weiß, was, vor: Sie wollen alle, sie wollen alle . . . ja . . .« flüsterte Trubezkoi erschrocken, da er nicht wagte, die schrecklichen Worte auszusprechen: »Sie wollen alle Mitglieder der kaiserlichen Familie ausrotten.«

»Sie wollen aber nicht alle? Sie wollen niemand?«

»Nein, ich will nicht, ich kann nicht, Golizyn. Ich bin nicht zum Mörder geboren . . .«

»Was sollen wir denn tun, Fürst? Vielleicht werden Sie das Amt des Diktators niederlegen und sogar ganz aus der Gesellschaft austreten?« fragte Golizyn, ihm mit einem leisen Lächeln in die Augen blickend.

Trubezkoi verstummte: Wahrscheinlich merkte er die Falle.

»Also was soll man machen, Fürst? Wie? Als ehrlicher Mensch müssen Sie uns offen antworten: Ja oder nein, bleiben Sie mit uns oder treten Sie aus?« sagte Golizyn mit einer unverhohlenen Herausforderung.

»Ich weiß wirklich nicht. Ich werde noch nachdenken.«

»Sie wollen nachdenken? Leider ist aber keine Zeit mehr zum Nachdenken, Durchlaucht: Wir fangen ja morgen an . . .«

»Morgen? Wieso morgen?« stammelte Trubezkoi mit einem verständnislosen Blick auf Golizyn.

»Ach ja, Sie wissen es noch nicht!« Golizyn sah ihn schadenfroh lächelnd unter der Brille an, und sein Gesicht wurde wie immer in solchen Fällen schwer, steinern, einer Maske ähnlich. »Aus Warschau ist schon der Kurier mit der endgültigen Verzichterklärung eingetroffen; morgen um sieben früh werden alle Truppen vereidigt; wir versammeln uns auf dem Senatsplatze und beginnen mit dem Aufstand . . .«

»Auf . . . Aufstand . . .« Trubezkoi kam nicht weiter; seine Stimme versagte, er riß die Augen weit auf, sein Gesicht wurde blaß, grün und lang, die dicken Lippen zitterten, und er hatte plötzlich noch mehr Ähnlichkeit mit einem ›Juden‹.

›Er ist vor Schreck verjudet‹, dachte sich Golizyn voller Ekel.

»Was schweigen Sie, Herr? Wollen Sie antworten!«

»Hören Sie auf, Golizyn, unterstehen Sie sich nicht!« rief Obolenskij aufspringend und zu Trubezkoi stürzend. »Wie, schämen Sie sich nicht? Sehen Sie denn nicht?«

Trubezkoi hatte den Kopf auf die Stuhllehne zurückgeworfen und die Augen geschlossen. Obolenskij knöpfte ihm den Hemdkragen auf.

»Wasser! Wasser!«

Golizyn fand eine Wasserkaraffe, füllte ein Glas und reichte es. Trubezkoi haschte mit den Lippen danach, und seine Zähne klapperten gegen das Glas. Er konnte lange nicht damit fertig werden. Endlich trank er einige Schlucke, warf den Kopf wieder zurück und holte Atem.

Obolenskij beugte sich über ihn und streichelte ihm das Haar, wie er es vorhin Rylejew gestreichelt hatte.

»Tut nichts, tut nichts, Trubezkoi! Hören Sie nicht auf Golizyn: Er kennt Sie nicht. Wir werden mit Rylejew sprechen und alles in Ordnung bringen. Alles wird gut werden, alles wird gut werden!«

»Es ist nichts, Unsinn, es wird vergehen. Es ist mein Herz . . . Alle diese Tage bin ich nicht ganz wohl; vorhin habe ich Kaffee getrunken, es kommt wahrscheinlich davon. Und dann so plötzlich . . . Ich kann nicht, wenn es so plötzlich ist . . . Entschuldigen Sie, meine Herren, entschuldigen Sie, um Gotteswillen . . .«

Die rötlichen Haare klebten an der schweißigen Stirn, die dicken Lippen zitterten noch immer und lächelten, und in diesem Lächeln lag etwas Kindlich-Gutmütiges, etwas Mitleiderregendes; ein Don Quixote, der aus seinen Träumen erwacht ist, ein Nachtwandler, der vom Dache gestürzt ist und sich zerschlagen hat.

Golizyn schämte sich plötzlich, als hätte er ein Kind beleidigt. Er wandte sich weg, um nicht zu sehen.

Er fürchtete das Mitleid: Er fühlte, daß er, wenn er sich dem Mitleid hingäbe, alles verzeihen und den ›Verräter‹ rechtfertigen müßte.

»Hören Sie, Fürst«, begann er, ohne Trubezkoi anzusehen.

»Hören Sie, Golizyn«, unterbrach ihn Obolenskij ruhig und bestimmt. »Ich habe von Rylejew den Auftrag bekommen, Trubezkoi zu ihm zu bringen. Das werde ich auch tun. Stören Sie bitte nicht und lassen Sie uns allein. Fahren Sie zu Rylejew und sagen Sie ihm, daß wir gleich kommen.«

»Ich wollte nur sagen . . .«

»Gehen Sie doch, Golizyn, gehen Sie! Tun Sie, was man Ihnen sagt!«

»Was ist das, ein Befehl?«

»Ja, ein Befehl.«

»Ich gehorche!« sagte Golizyn mit einem verlegenen Lächeln. Dann verbeugte er sich trocken und ging.

›Alle klugen Menschen sind furchtbare Dummköpfe‹, dieser Ausspruch fiel ihm ein. Er kam sich jetzt wie so ein ›kluger Dummkopf‹ vor.

›Ja, Trubezkoi ging betrübt von dannen, wie jener reiche Jüngling im Evangelium. Womit ist er aber schlimmer als ich, schlimmer als wir alle? Wer weiß, was mit uns morgen sein wird? Werden wir nicht auch betrübt von dannen gehen?‹ fragte sich Golizyn.

 


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