Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Fünftes Kapitel

Golizyns Genesung ging so schnell vor sich, daß alle staunten und es der wunderbaren Kunst des Arztes zuschrieben. Aber der Kranke wußte, daß nicht der Arzt ihn gesund machte, sondern Marinjka. Wenn er sie ansah, war es ihm, als trinke er Wasser des Lebens; selbst wenn er im Sterben läge, würde er auferstehen.

Fünf Tage nach dem Morgen, als er zum ersten Male zu sich gekommen war, stand er schon auf und ging ein wenig durchs Zimmer.

Einmal meldete Großmutters Haushofmeister Ananij Wassiljitsch dem alten Foma Fomitsch, daß in die Küche ein ›Bursche‹ gekommen sei, der den Fürsten sprechen wolle, seinen Namen aber nicht nenne.

»Wie sieht er aus?« fragte Foma Fomitsch.

»Gott weiß, was er ist, ist wohl kein Bauer, aber auch kein Herr, sieht wie ein Verkleideter aus.«

›Ein Spion!‹ dachte sich Foma Fomitsch und sagte:

»Jag ihn hinaus!«

»Ich habe es schon versucht – er geht nicht. ›Ich muß unbedingt seine Durchlaucht in einer dringenden Sache sprechen‹, sagt er.«

Foma Fomitsch ging hinaus und sah einen großgewachsenen, hageren, bleichen jungen Mann mit schwarzem Bart, in einem Nacktpelz, schmutziger Tellermütze und warmen Filzstiefeln; er sah wie ein Ladengehilfe oder wie ein kleiner Kaufmann aus.

»Der Fürst ist krank, mein Lieber, und kann dich nicht empfangen«, sagte der Alte etwas unsicher: Auch er konnte nicht erraten, ob er einen Bauern oder einen Herrn vor sich habe. »Wer bis du . . . sind Sie eigentlich?«

»Ich muß ihn dringend sprechen, dringend!« wiederholte der junge Mann, nannte aber seinen Namen noch immer nicht.

»Geh, mein Freund, geh mit Gott!« Foma Fomitsch wurde ärgerlich und drängte ihn zur Tür. Jener wollte aber nicht gehen.

»Hier, geben Sie es dem Fürsten, ich werde warten!« sagte er, ihm einen Zettel reichend. »Sie können unbesorgt sein, mein Herr: Ich bin gar nicht das, für was Sie mich halten, sogar im Gegenteil!« Er lächelte so, daß Foma Fomitsch ihm plötzlich glaubte und den Zettel Golizyn brachte.

Auf dem Zettel war unleserlich auf französisch hingekritzelt:

»Ich muß Sie dringend sprechen, Golizyn. Lassen Sie mich bitte ein. Ich gehe nicht weg. Vernichten Sie den Zettel.«

Eine Unterschrift fehlte. Die Handschrift kam Golizyn unbekannt vor. Er ließ den Mann kommen.

Als der junge Mann ins Zimmer trat, erkannte er ihn im ersten Augenblick nicht; als er ihm aber in seine blaßblauen, hervorstehenden traurigen und zärtlichen Augen blickte, fiel er ihm um den Hals.

»Küchel!«

»Haben Sie mich nicht erkannt, Golizyn?«

»Nehmen Sie doch den Bart ab! Nehmen Sie den Bart ab! Wie ein Jude sehen Sie aus!«

»Ich kann nicht, er ist angeklebt.«

Als Foma Fomitsch beruhigt das Zimmer verließ, nötigte Golizyn den Gast in einen Stuhl und schloß die Tür.

»Nun, erzählen Sie.«

Und Küchelbäcker begann zu erzählen. Fast alle Verschwörer seien verhaftet, und die man noch nicht verhaftet habe, kämen von selbst. Es sei eine Oberste Kommission eingesetzt, aber der Kaiser leite die ganze Untersuchung selbst. Gnade sei nicht zu erwarten: Die einen werde man hinrichten, die andern verschicken oder in den Gefängnissen verfaulen lassen.

»Sind alle am Leben?« fragte Golizyn.

»Alle. Es ist sogar niemand verwundet.«

»Ein Wunder! Und unter welchem Feuer haben wir gestanden!«

›Vielleicht ist es nicht umsonst?‹ dachte er sich. ›Vielleicht spart uns das Schicksal zu etwas Größerem auf, als es der Tod ist?‹

»Nun, und wie ist es mit der Südarmee und dem Kaukasischen Korps?«

»Alles ist Unsinn. Nein, Golizyn, wir haben auf nichts mehr zu hoffen, alles ist zu Ende . . . Nun . . . und jetzt die Hauptsache: Wollen Sie mit mir fliehen?«

»Mit Ihnen, Küchel? Aber natürlich! Mit wem soll man fliehen, wenn nicht mit Ihnen? Sie sind so geschickt und fallen nie herein . . . Hören Sie auf, mein Lieber: Der erste Nachtwächter wird Sie verhaften.«

»Lachen Sie nicht, Golizyn. Die Sache ist ernst. Alles ist fertig: ein Paß, Geld und zuverlässige Menschen. Kennen Sie den Schauspieler Pustoschkin, der im Alexandrinen-Theater in Vaudevilles spielt? Er wird Ihnen einen Bart verschaffen, nicht schlechter als der meinige, auch eine Perücke und Bauernkleidung. Wir müssen bloß über die Stadtgrenze kommen, und dann geht es mit einem Getreidetransport nach Archangelsk. Bis zur Eröffnung der Schifffahrt werden wir uns bei den Lotsen auf den Inseln versteckt halten; dann fahren wir mit einem englischen oder französischen Schiff übers Meer. Man kann auch nach Warschau: Die jüdischen Schmuggler schaffen einen für zwei weiße Scheine über die Grenze. Zuerst nach Paris und dann wäre es gut nach Venedig . . .«

»Nach Venedig!« Golizyn mußte lachen. »Wissen Sie, was eine Moskauer Dame über Venedig sagte: ›Gewiß, das Klima ist hier gut, aber man hat keinen Partner zum Preference-Spiel.‹ So werden Sie sich auch zu Tode langweilen. Nein, Küchel, ohne Rußland werden Sie nicht leben können!«

»Ich werde leben können. Wir sind auch in Rußland wie Fremde. Wir betrauern nicht das gestorbene Vaterland, sondern beweinen das noch nicht geborene. Ich weiß nicht, was Sie sich denken, Golizyn, für mich ist aber Rußland mit Blut besudelt und geschändet. Schwarze Tage sind angebrochen, für lange, für fünfzig, vielleicht auch für hundert Jahre. Wir haben noch Zeit, in der Wüste zu sterben, fern vom Heiligen Lande, von Zion, wo man leben und erhabene Lieder singen kann:

›Von Sklaven, die in Ketten schmachten,
Erwarte kein erhab'nes Lied . . .‹

Nun, mein Freund, Sie wollen nicht?«

»Nein, Küchel, ich hab keine Lust. Was soll ich mich auch krank, wie ich bin, im Winter herumschleppen!«

»Nun, wie Sie wollen. Überlegen Sie es sich aber, vielleicht entschließen Sie sich doch noch? Ich komme noch einmal vorbei.«

»Gut, kommen Sie, ich will es mir überlegen«, sagte Golizyn, nur um ihn loszuwerden, während ihm ein böser Gedanke durch den Kopf ging: ›Er ist Deutscher, darum will er fliehen!‹ Aber er schämte sich gleich dessen, und sie verabschiedeten sich ebenso zärtlich, wie sie sich begrüßt hatten.

Als der Gast gegangen war, wurde Golizyn nachdenklich; er dachte aber nicht an die Flucht, sondern daran, was geschehen würde, wenn man ihn verhaftete. Er hatte noch kein einziges Mal ernsthaft daran gedacht. Er blickte nicht in die Zukunft, lebte von Tag zu Tag, wie in einer Wiege in seinem lustigen gelben Zimmer, und die Welt ging für ihn gleichsam nur bis zu den reifbedeckten Bäumen des alten Gartens. Manchmal ertappte er sich an der dummen Hoffnung: Vielleicht werden sie ihn auch nicht verhaften; das alte Haus ist eine sichere Zuflucht: Er ist hier geborgen wie auf dem Meeresgrunde. Er wird ruhig abwarten, dann mit Marinjka nach Tscherjomuschki gehen oder noch weiter, ans Ende der Welt; er wird sie heiraten, die Politik zum Teufel jagen und einfach glücklich sein.

Als aber Küchel gegangen war, wußte er auf einmal sicher, daß man ihn ganz bestimmt verhaften würde; was wird dann mit Marinjka geschehen?

Er mußte an sein gestriges Gespräch mit Nina Ljwowna denken.

Frau Tolytschowa, die vierzigjährige Institutsschülerin, die ihre ganze Lebensweisheit aus den empfindsamen Romanen von Susa und Janlis hatte, war in allen praktischen Dingen naiv wie ein kleines Kind. Als sie von Fryndin hörte, daß Tscherjomuschki wieder ihr gehörte, und sah, daß Golizyn Marinjka den Hof machte, war sie ganz außer sich vor Freude. Aber sie konnte nicht verstehen, warum er nicht mit ihr, der Mutter, von seinen Gefühlen für die Tochter sprach; sie hielt es für unanständig. Als sie aber von seiner Teilnahme am Aufstand erfuhr, erschrak sie. Sie behielt es lange für sich, schwieg und wartete, ob er nicht selbst die Rede darauf bringen würde; schließlich hielt sie es doch nicht aus.

Sie holte weit aus und sprach von ihrer Hilflosigkeit in ihrem Witwenstande und von der Verwaistheit Marinjkas; von ihrem Vertrauen zu Golizyn und von der Reinheit seiner Absichten; zum Schluß fragte sie unerwartet und geradeheraus:

»Wie glauben Sie, Fürst, wird die Sache für Sie glücklich ablaufen?«

»Was für eine Sache?« fragte er. Er verstand sie sofort, stellte sich aber so, als ob er nichts verstünde; er empfand Furcht und Scham: Als hätte ich die Tochter verführt, und die Mutter wüßte es!

»Entschuldigen Sie, daß ich so unvermittelt damit komme. Aber ich bin ja eine Mutter. Und Sie sind ein edler, empfindsamer Mensch, also müssen Sie das Herz der Mutter verstehen. Sprechen Sie doch, Valerian Michailowitsch, entscheiden Sie unser Schicksal!«

»Gerne, Nina Ljwowna. Sie haben mich geradeheraus gefragt, und ich werde Ihnen ebenso antworten. Nein, die Sache wird für mich nicht gut ablaufen: Man wird mich auffinden, verhaften, vor Gericht stellen und verurteilen, wenn nicht zum Tode, so zu Gefängnis oder Verbannung.«

Sie erbleichte so, daß er fürchtete, sie könnte ohnmächtig werden.

»Und wie ist es mit Marinjka?« Sie schlug die Hände zusammen und fing zu weinen an. »Was soll man tun? Was soll man tun? Helfen Sie doch, Fürst, geben Sie einen Rat . . .«

Ihr Gesicht bekam einige Ähnlichkeit mit dem Marinjkas, wenn diese weinte. Golizyn ergriff ihre Hände und küßte sie zärtlich und respektvoll.

»Ich stehe vor Ihnen schuldbeladen da, Nina Ljwowna. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich alles tun werde, damit Marja Pawlowna mich vergißt. Fahren Sie mit ihr so bald wie möglich nach Tscherjomuschki.«

Damit endete ihr Gespräch. Und als er sich jetzt dessen erinnerte, merkte er, daß er eine viel zu schwere Last auf sich genommen hatte. ›Ich werde alles tun, damit sie mich vergißt‹ – das ist leicht gesagt. Je mehr er darüber nachdachte, um so schwerer fühlte er sich von einer nicht wiedergutzumachenden Schuld bedrückt. Er nötigt ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, mit sich in eine Qual, der er vielleicht auch selbst nicht gewachsen ist. Er klammert sich an sie wie ein Ertrinkender und zieht sie mit sich hinab. Oder wie jener Wanderer in der Wüste, der sich auf der Flucht vor einem wilden Tier in einen Brunnen stürzte, an einem Ast hängen geblieben ist, Himbeeren pflückt und ißt, ohne an den Tod zu denken.

Er saß vor dem Fenster im gelben Zimmer. Die Uhr ging auf zwölf, aber es war noch nicht richtig Tag geworden. Der Sturm hatte das Fenster mit Schnee verklebt. Die alten Bäume im Garten schienen zu rauschen. Im Kamin heulte jämmerlich der Wind. Und er erinnerte sich, wie er damals, nach der Schießerei auf dem Platz, durch die Galernaja ging und, unter dem Kartätschenfeuer stehend, den Tod herbeisehnte: »Nun, schneller, schneller!« Es war ihm so furchtbar traurig zumute, er hatte die Pistole aus der Tasche genommen, den Hahn gespannt und die Mündung an die Schläfe gedrückt, da hatte er sich aber Marinjkas erinnert und die Waffe fallen lassen. Warum hatte er sie fallen lassen?

»Warum so nachdenklich?« Er hörte die Stimme Marinjkas und fuhr zusammen. Sie war so leise eingetreten, daß er es gar nicht gehört hatte.

Er lächelte ihr zu, wie er ihr immer zuzulächeln pflegte, wenn sie ins Zimmer trat, antwortete aber nichts.

Auf dem Kleiderrechen an der Wand hing sein Mantel, derselbe, den er auf dem Platz angehabt hatte. Marinjka nahm den Mantel vom Haken, setzte sich an das Nähtischchen und begann, die kleinen runden Löcher, die von den Kugeln herrührten, zu stopfen.

»Der Besuch hat Sie wohl aufgeregt? Wer war es?« fragte sie, ohne die Augen zu heben.

»Ein alter Freund, Wilhelm Karlowitsch Küchelbäcker.«

»War er auch mit auf dem Platz?«

»Ja.«

»Wovon sprachen Sie denn, wenn es kein Geheimnis ist?«

»Er machte mir den Vorschlag zu fliehen.«

»Nun, und Sie?«

»Ich will nicht.«

»Warum?«

»Ich kann nicht ohne Rußland sein und . . . ohne Sie . . .«

»Warum ohne mich? Ich bin doch mit Ihnen.«

»Und Nina Ljwowna?«

»Auch Mamachen wird mitkommen. Und wenn sie nicht will, dann ohne sie. Wohin Sie gehen, da gehe ich auch hin. Sehen Sie hier den Faden und die Nadel? Auch der Faden folgt überall der Nadel.«

Er beobachtete schweigend die schnellen Bewegungen der Nadel in ihren feinen Fingern. Ruhig und lustig stopfte sie die runden Löchelchen.

»Ich frage mich immer, Marinjka, was wohl mit Ihnen sein wird, wenn man mich verhaftet!«

»Vielleicht verhaftet man Sie gar nicht?«

»Nein, man wird mich ganz gewiß verhaften.«

»Nun, mit mir wird dasselbe sein wie mit Ihnen«, sagte sie so ruhig, als hätte sie alles schon längst beschlossen.

Sie schwiegen wieder.

»Marinjka, tun Sie das, um was ich Sie bitten werde.«

»Was denn?«

»Versprechen Sie es mir!«

»Warum? Sie wissen auch so, daß ich es tun werde.«

»Alles?«

»Aber natürlich!« antwortete sie mit ihrem reizenden Lächeln, das er so liebte.

Er wartete eine Weile und nahm sich zusammen.

»Fahren Sie so schnell als möglich nach Tscherjomuschki«, sagte er endlich entschlossen.

Sie hielt im Nähen inne, hob die Augen und sah ihn lange und aufmerksam an, so ruhig, als verstünde sie nichts und bemühte sich zu begreifen.

»Wollen Sie denn ohne mich sein?«

»Es ist mir leichter so.«

»Ist Ihnen leichter, wenn Sie allein sind?«

Er nickte stumm mit dem Kopf.

»Es ist nicht wahr! Warum sprechen Sie die Unwahrheit?«

»Nein, es ist wahr.«

Sie sah ihn noch aufmerksamer und ruhiger an und hatte auf einmal alles verstanden.

»Gut. Tun Sie aber auch das, um was ich Sie bitte. Sagen Sie mir, daß Sie mich nicht lieben . . . daß Sie mich nicht so lieben.«

»Was heißt, nicht so?«

»Nun: Wenn man die Hand einfach zusammendrückt, tut es weh, wenn man aber an eine Wunde rührt, ist es ganz unerträglich. Ich liebe so, Sie aber nicht so. Sagen Sie bloß ›nicht so‹, und ich fahre gleich weg.«

In ihrem Gesicht und in ihrer Stimme war ruhige Entschlossenheit. Er begriff, daß sie die Wahrheit sprach; wenn er nur die beiden Worte sagt: ›nicht so‹, so fährt sie gleich weg, und alles ist zu Ende.

Sie schwieg und wartete; dann stand sie plötzlich auf, ging auf ihn zu, beugte sich über ihn, umarmte seinen Kopf und küßte ihn auf die Stirn.

»So dumm! Mein Gott, wie dumm Sie sind!« Sie lächelte ihm zu wie während seiner Krankheit; und es kam ihm wieder vor, als sei er in der Tat ein kleiner dummer Junge, sie aber eine Erwachsene: Sie werde ihn gleich auf den Arm nehmen und tragen, wie die Mutter das Kind trägt.

Sie ging ans Nähtischchen und machte sich wieder an die Stopfarbeit.

»Nun, jetzt sollen Sie mir erzählen, was Sie angestellt haben. Ich will alles wissen.«

»Was soll ich erzählen, Marinjka? Es ist ja Politik, eine furchtbar langweilige Sache . . .«

»Von der ich nichts verstehe? Macht nichts, vielleicht werde ich es doch verstehen.«

Mit einem Fräulein von achtzehn Jahren über Politik zu sprechen, ist doch eine Strafe Gottes! dachte er sich. Und er fing ohne jede Lust an, nur um sie abzufertigen; er war überzeugt, daß sie nichts verstehen würde. Solange er davon überzeugt war, verstand sie ihn wirklich nicht und stellte so kindische Fragen, daß er ganz stutzig wurde und nicht wußte, was zu antworten.

»Nun sehen Sie, wie dumm ich bin!« lachte sie. »Auf einem Ball fragte einmal ein Herr ein junges Mädchen aus der Provinz, was sie lese. ›Ich lese ein rosa Buch‹, antwortete sie ihm, ›und meine Schwester liest ein blaues‹. So bin auch ich!«

Als er aber auf Ssofja Naryschkina zu sprechen kam, wurde sie ganz Ohr, und ihre Augen fingen so zu leuchten an, daß er sich dachte: Sie ist eifersüchtig!«

»Sie lieben sie doch auch jetzt noch wie eine Lebendige?«

»Ja, wie eine Lebendige.«

»Sie und mich zugleich?«

»Ja, beide zugleich.«

Sie dachte eine Weile nach und fragte:

»Haben Sie ein Bild von ihr?«

»Ja.«

»Zeigen Sie es.«

Er nahm das Medaillon mit Ssofjas Bildnis vom Halse und gab es ihr. Sie sah es lange schweigend an; dann küßte sie es und fing zu weinen an.

»Was für ein böses, schlimmes Mädel bin ich doch!« rief sie, unter Tränen lächelnd. »Aber natürlich, beide zugleich . . . wir werden Sie beide zugleich lieben!«

»Wissen Sie, Marinjka, das rosa Buch haben, glaube ich, nicht Sie gelesen, sondern ich . . . Alle klugen Menschen sind furchtbare Dummköpfe!« Auch er lächelte unter Tränen. Jetzt wußte er schon, daß sie alles verstand, alles von innen sah, als dringe sie mit ihrem Herzen in sein Herz ein.

Ihr zu sagen, daß er Ssofjas Vater, den Kaiser Alexander Pawlowitsch hatte töten wollen, war ihm doch schrecklich. Er wollte es verschweigen, konnte es aber nicht. Er sagte ihr auch das. Anfangs glaubte sie es ihm nicht; sie fragte, als verstünde sie es nicht:

»Sie wollten ihren Vater töten? Und sie wußte es?«

»Sie wußte es.«

»Es kann nicht sein!« Sie schlug verzweifelt die Hände zusammen. »Nein, wir wollen davon nicht sprechen! Jetzt werde ich es nicht verstehen – vielleicht später . . .«

Ab und zu trat jemand ins Zimmer und störte sie; kaum waren sie wieder allein, als sie ihn wieder bestürmte:

»Nun, erzählen Sie, erzählen Sie. Was war weiter?«

Als es dunkel geworden war und die Kerzen angezündet wurden, gingen sie ins blaue Sofazimmer hinüber, in dasselbe, wo sie zum letztenmal vor dem Vierzehnten gesprochen hatten.

Marinjka setzte sich auf denselben Platz wie damals, ans Fenster vor die angefangene Stickerei – den weißen Papagei auf grünem Grunde; das gelbe Schöpfchen Potap Potapytschs war noch immer nicht fertig. In einer Ecke brannte trübe eine Lampe unter einer runden Glocke, und durch die Fenster fiel auf den Boden das Mondlicht in schrägen Vierecken. Gegen Abend hatte sich der Schneesturm gelegt. Zerrissene Wolken, bald dunkel, bald hell mit Perlmutterschimmer trieben über den Himmel wie Gespenster, und die durchsichtigen Eisblumen am Fenster funkelten wie Saphire.

Golizyn erzählte von der Geheimen Gesellschaft des Südens, von Ssergej Murawjow und von dessen ›Katechismus‹. Marinjka hörte ihm zu, und er fühlte, daß sie es verstand, daß es für sie das Wichtigste war.

»Die Zaren sind von Gott verflucht als die Bedrücker des Volkes«, zitierte er ihr aus dem Katechismus. »Zur Befreiung der Heimat müssen sich alle zusammen gegen die Tyrannei wappnen und den Glauben und die Freiheit in Rußland wiederherstellen. Wir wollen unseren langjährigen Sklavensinn bereuen und schwören: Es sei ein Zar im Himmel und auf der Erde – Jesus Christus.«

»Christus ist doch im Himmel?« fragte sie mit einfältigem Erstaunen.

»Und auf der Erde, Marinjka.«

»Wo ist er denn auf der Erde? Man sieht ihn gar nicht!« sagte sie noch einfältiger.

»Darum sieht man ihn eben nicht, weil statt des Zaren-Christus das Zar-Tier herrscht. Man muß das Tier töten.«

»Darf man denn für Christus töten?«

Vorhin hatte er gefürchtet, daß sie ihn nicht verstehen würde; und nun fürchtete er, daß sie ihn zu gut verstehe. Das achtzehnjährige Mädchen, fast noch ein Kind, enthüllte seine tiefste Qual.

Sie stand plötzlich auf, neigte sich über ihn, legte ihm die Hände auf die Schultern und blickte ihm in die Augen.

»Valerian Michailowitsch, glauben Sie an Christus?«

»Wie können Sie nur, Marinjka . . .«

»Glauben Sie an ihn? Ja?«

»Ich glaube an den Herrn und Heiland Jesus Christus, den Eingeborenen Sohn Gottes«, sagte Golizyn feierlich.

»Gott sei Dank!« Sie atmete erleichtert auf und bekreuzigte sich. »Alle sagen, die Aufrührer seien gottlos. Darum glaubte auch ich . . . Seien Sie mir nicht böse, ich weiß selbst, daß ich dumm bin. Papachen pflegte zu sagen: ›Glaube nicht alles, was die Leute erzählen, lebe mit deinem eigenen Verstand.‹ Nun habe ich keinen eigenen Verstand, das ist mein Unglück!«

Sie verstummte und wurde nachdenklich, als wollte sie sich auf etwas besinnen.

»Ach, jetzt weiß ich, wem Sie ähnlich sind!« rief sie plötzlich erfreut. »Warten Sie, ich will es Ihnen zeigen . . .«

Sie lief hinaus und brachte ein kleines Poesiealbum in schwarzem Ledereinband mit Goldpressung, eines von denen, in die die jungen Provinzdamen Verse aufzuschreiben pflegen. Auf der ersten Seite war eine Zeichnung: ein Amor als Schäfer, am Ufer eines Baches sitzend, und darunter die Verse:

›In allem ist Verrat zu spüren,
Und Treue wohnt in keinem Sinn:
Selbst Amor zeichnet lachend Schwüre
Mit seinem Pfeil aufs Wasser hin.‹

Gleich danach kam ein Kompliment: »Ihre schwarzen Augen, Marie, tragen Trauer um den, dem Sie das Lebenslicht genommen haben.«

Sie fand die Stelle und zeigte sie ihm. Er las die verblichenen, mit einer runden, altmodischen Handschrift geschriebenen Zeilen:

»Meiner geliebten Tochter Marinjka. Gott schicke dir einen Lebensgefährten, der weder reich noch vornehm sei, doch mit Herzenstugenden ausgezeichnet, nach folgendem Ausspruch des hervorragendsten russischen Autors Alexander Nikolajewitsch Radischtschew:Radischtschew, Alexander Nikolajewitsch (1744-1802), Publizist, wurde wegen seiner freiheitlichen Gesinnung von Katharina II. zum Tode verurteilt und zur Verbannung nach Sibirien begnadigt. Rostowzew, Jakow Iwanowitsch (1803-1860), hatte die Verschwörer beim Kaiser Nikolai denunziert, machte sich später unter Alexander II. um die Vorarbeiten zur Bauernbefreiung verdient. Anm. d. Übers.

›Wenn das Gesetz oder der Kaiser oder irgendeine Gewalt auf Erden dich zu bewegen sucht, eine Ungerechtigkeit zu begehen oder die Tugend zu verletzen, so verharre in dieser unwankbar. Fürchte weder Spott noch Pein, noch Krankheit, noch Kerker, und nicht einmal den Tod. Die Wut deiner Peiniger wird an deiner Festigkeit zerschellen, und du wirst in der Erinnerung der edlen Seelen bis ans Ende der Zeiten fortleben.

Pawel Tolytschow.‹

»Herr Radischtschew war Papachens Freund«, erklärte sie stolz und wendete das Blatt um.

»Hier noch etwas.«

Er las:

                                  ›Jungfrau Marie,
                                    Vergiß es nie:
Der Same des Weibes wird den Kopf der Schlange zertreten.
                                                            Alexander Labsin.‹

»Auch ein Freund Papachens«, prahlte sie wieder.

»Sie sind also Labsins und Radischtschews Patenkind!« sagte Golizyn mit freudigem Lächeln. Es war ihm, als hätte er eine neue geheimnisvolle Verwandtschaft mit ihr entdeckt.

»Was haben Sie denn geglaubt?« Sie lachte und errötete. »Nun, erzählen Sie, erzählen Sie, was kam weiter?«

Er erzählte ihr, wie Nikolai am Vierzehnten auf die wehrlose Menge auf dem Platze schießen ließ. Sie erbleichte und flüsterte:

»Ja, das Tier töten!«

Nun fragte sie nicht mehr, ob man für Christus töten dürfe. Und er fühlte, daß sie es nicht nur verstanden, sondern alles bis ans Ende erfaßt hatte, daß sie ihn in diesem letzten Geheimnisse, in dieser letzten Qual weder vor dem menschlichen Gericht noch vor dem Gericht Gottes verlassen würde.

Als er zu Ende war, setzte sich Marinjka zu ihm auf die Armlehne des Sessels und schmiegte ihre Wange an die seine, wie damals, während seiner Krankheit. Beide schwiegen und sahen, wie die zerrissenen Wolken über den Himmel trieben, wie der Mond bald zum Vorschein kam, sich bald wieder versteckte, und wie die Eisblumen an den Fenstern bald erloschen, bald als blaue Saphire funkelten.

»Erinnern Sie sich noch, Marinjka, wie Sie sagten, es sei Sünde, die Erde zu lieben, man müsse nur das Himmlische lieben?«

»Nein, ich kann mich nicht erinnern. Warten Sie . . . Ach ja, nachts, auf der Fahrt aus Moskau. Warum ist es Ihnen plötzlich eingefallen? Was ist denn dabei?«

»Das Vaterland ist aber auch Erde. Ist denn die Liebe zum Vaterland eine Sünde?«

»Was fällt Ihnen ein! Ich habe wohl eine große Dummheit gesagt?«

»Nein, es ist keine Dummheit, es ist bloß nicht alles. Alles darüber weiß vielleicht niemand . . .«

Er sprach sehr ruhig. Aber Marinjka fühlte wie vorhin, daß dies für ihn das Wichtigste sei. Sie hob den Kopf und blickte ihm in die Augen.

»Was weiß niemand?« fragte sie flüsternd.

»Das vom Himmel und von der Erde. Wie man den Himmel und die Erde zugleich lieben kann«, antwortete er gleichfalls flüsternd.

»Zugleich?« wiederholte sie und hielt inne. »Sie lieben ja auch mich und Ssofja zugleich?«

Sie verstummte wieder und wurde nachdenklich. Dann begann sie mit einem Gesichtsausdruck, wie er ihn bei ihr noch niemals wahrgenommen hatte:

»Vor vielen Jahren – ich entsinne mich dessen wie an einen Traum –, als ich noch ganz klein war, fuhr ich einmal mit Papachen Boot. In Tscherjomuschki steht die Mühle dicht neben dem Herrenhause, der Fluß ist durch einen Damm gesperrt; das Wasser ist still und glatt wie ein Spiegel. Wir fuhren lange spazieren, bis zum Abend; die Sonne war schon untergegangen, und der Abend brach an. Das Wasser war noch unbeweglicher geworden, es war wie verschwunden, man sah nur die Luft, das Boot glitt durch die Luft. Die Wolken am Himmel waren groß, rund und weiß, und zwischen ihnen blinkten die Sterne. Auch unten, unter dem Boot, waren Wolken und Sterne. Es waren zwei Himmel, der eine unten, der andere oben, und wir waren in der Mitte. Es war so unheimlich und so schön. So schön, wie jetzt mit Ihnen . . . Das ist doch dasselbe? Sag doch, sag, ist es nicht dasselbe?«

»Es ist dasselbe, Marinjka, dasselbe!«

Beide verstummten; sie hatten keine Worte mehr, sie waren zu Ende, wie ein schmaler Pfad am Rande eines Abgrundes ein Ende nimmt. Sie sahen einander an und lächelten stumm. Die beiden Lächeln näherten sich immer mehr und flossen schließlich in einem Kuß zusammen.

Als er zu sich kam, stand sie am Fenster und sprach etwas zu ihm; er konnte lange nicht verstehen, was sie sagte. Endlich verstand er es.

»Erinnerst du dich noch, am Tage vor dem Vierzehnten sagtest du mir, du gingest auch für mich in den Tod? Warum auch für mich? Ich fragte dich damals, du sagtest es mir aber nicht.«

»Weil ich für Rußland in den Tod gehen wollte. Aber auch du bist . . . Marinjka, weißt du, was du bist?« – »Nun, was?«

Er antwortete nicht und sah sie an: Sie stand ganz weiß, im weißen Mondlicht, im Schein der saphirblauen, monddurchleuchteten Eisblumen da; es war sie und zugleich nicht sie, die Nahe und die Ferne, die Irdische und die Himmlische.

»Nun, was bin ich?« Sie blickte ihn verstohlen an und schlug gleich darauf die Augen nieder: Es war ihr unheimlich, als sähe er nicht sie, sondern durch sie eine andere.

Etwas drang ihm ins Herz wie ein Blitz. Er sank in die Knie.

»Meine Liebe! Meine Nahe! Meine Traute!« wiederholte er, als läge in diesen Worten alles, was er fühlte, und küßte ihre Füße.

Wie an der letzten Grenze Himmel und Erde eins sind, so waren auch Ssofja und Marinjka eins; beide zugleich, die Irdische und die Himmlische; und in den beiden – sie, die einzige.

Er fürchtete nichts mehr, weder Ketten noch Folter, noch den Tod. Er wußte, daß sie ihn vor allem schützen würde – die Unwankbare Mauer, die Ewige Fürbitterin, die Unverhoffte Freude. Und wenn man ihn in die Hölle wirft, so wird sie zu ihm in die ewige Finsternis hinabsteigen, und die Finsternis wird sich in Licht verwandeln. Und der Same des Weibes wird den Kopf der Schlange zertreten.

Am siebenten Januar, am ersten Tage nach den Weihnachtsfasten, wo die Trauungen wieder erlaubt sind, wurden Golizyn und Marinjka getraut, und in der folgenden Nacht wurde er verhaftet.

 


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