Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Siebentes Kapitel

Die spanische Wand stand vor einer Tür. Hinter der Tür klangen Schritte und Stimmen. Die andere Tür, durch die der Kaiser hinausgegangen war, ging plötzlich auf, jemand stürzte in den Saal, und die Stimme Ljewaschows rief:

»Ruft doch den Feldscher, damit er ihn zur Ader lasse!«

›In Rußland besteht noch die Folter‹, erinnerte sich Golizyn und begann zu horchen, was sich hinter der Tür abspielte. Ein schwerer Vorhang dämpfte die Töne. Er steckte den Kopf hervor. Im Saal war niemand außer den beiden Wachtposten an der Tür am anderen Ende des Saales, die wie zwei Bildsäulen standen.

Golizyn schob den Vorhang etwas auseinander und sah, daß die Tür dahinter nicht ganz geschlossen war. Er blickte in die Spalte: Er sah nichts, denn es war eine Doppeltür. Nun öffnete er die erste Tür und trat in den dunklen Zwischenraum. Er stieß hier auf einen Stuhl: Offenbar pflegte hier während der Verhöre jemand zu sitzen und zu horchen; auch die zweite Tür ließ einen Spalt offen, und auch von der anderen Seite war ein Vorhang. Golizyn öffnete die zweite Tür und schob auch den zweiten Vorhang auseinander.

Ein kleiner Saal voller Bilder – zum größten Teil Kopien nach italienischen Meistern der Schule Peruginos und Raffaels – war wie der erste von einer Menge von Kerzen erleuchtet. Gerade vor ihm lag jemand auf einem Sofa. Im Sessel, mit dem Rücken zu Golizyn, saß Benkendorf und verdeckte den, der auf dem Sofa lag; nur zwei mit einem Tuch bedeckte Beine und die Ecke eines weißen Kissens waren zu sehen. Hier standen und saßen noch einige Menschen: Ljewaschow, der Schloßkommandant Baschuzkij, der Ober-Polizeimeister Schulgin und noch ein Mann in schwarzem Zivilfrack, in einer Perücke, mit einer Brille auf der Nase, dem Ansehen nach ein Jude, wahrscheinlich ein Arzt. Dann trat noch ein anderer, dicker, rothaariger Zivilist in schmierigem braunem Frack mit einer Messingschüssel, wie man sie beim Aderlaß gebraucht, in den Saal.

»Wie fühlen Sie sich, mein Freund?« fragte Benkendorf.

»Gut, ausgezeichnet«, antwortete der auf dem Sofa Liegende: »Noch nie habe ich mich so gut gefühlt.«

»Haben Sie noch Kopfweh?«

»Nein, es ist vorbei. Alles ist vorbei. Der Geist ist frisch, der Kopf klar, die Seele ruhig. Das Herz wie früher jung und unschuldig. Noch niemals war ich so glücklich! Auch schon in der Kasematte hatte ich so selige Augenblicke, daß ich schier verrückt wurde – ich sprach und sprach fortwährend, erzählte den stummen Mauern von meinen Gefühlen: Sollen mich wenigstens die Steine hören, sollen die Steine schreien! Ich schrie, ich sang, ich tanzte, ich sprang wie ein Tier im Käfig, wie ein Betrunkener, wie ein Rasender! Der Kommandant Ssukin – ein ausgezeichneter Mensch –, aber welch ein scheußlicher Name: Wenn er einen Sohn hat, so kann man diesen gar nicht anständig beim Namen nennenSsuka heißt russisch – Hündin. Ein Sohn Ssukins würde also ›Sohn einer Hündin‹ heißen. Anm. d. Übers. – also dieser Ssukin, der Ärmste, erschrak und glaubte, ich sei wirklich verrückt geworden. Er ließ einen Arzt kommen, wollte mich binden lassen. Er verstand nichts. Niemand versteht etwas. Aber Sie verstehen es, Exzellenz? Mir gefallen so Ihre Augen! Kluge, gute Augen. Aber das eine ist gut, doch das andere ein klein wenig schlau . . .«

»Haha, Sie sind ein feiner Beobachter!« bemerkte Benkendorf lachend.

»Sie sind mir doch nicht böse? Seien Sie um Gottes willen nicht böse . . . Ich spreche immer nicht das Richtige . . . Aber das Richtige wird schon kommen. Erlauben Sie mir zu sprechen, Exzellenz!«

»Sprechen Sie, regen Sie sich aber nicht zu sehr auf, sonst wird Ihnen wieder schlecht werden.«

»Nein, es ist gut, jetzt ist alles gut! Ich werde alles sagen. Früher glaubte ich, ich müßte die anderen schonen. Jetzt frage ich mich aber: vor wem? Vor dem Engel! Der Kaiser ist doch ein Engel und kein Mensch, jetzt sehe ich es selbst. Auch Sie – was für einen Sinn hätte es, vor solchen Menschen die Namen der anderen zu verheimlichen? Man kann von Ihnen doch nur Gutes erwarten. Sie sollen alles erfahren. Ich will alles sagen. Ich will alle Wurzeln aufdecken. Die Sache wird in Schwung kommen. Jetzt tue ich es mit Überzeugung . . . Es ist mir angenehm. Ich werde mir Mühe geben, Exzellenz! Sie werden es schon sehen. Ich werde alles systematisch aufdecken. Ich werde ein Regiment nach dem anderen durchnehmen. Niemand werde ich verschweigen. Ich werde auch solche Namen nennen, die Sie sonst niemals erfahren haben würden. Wo ist aber er? Warum sehe ich ihn nicht? Ich will ihm selbst . . .«

»Erst erzählen Sie es uns, und dann ihm«, sagte Benkendorf.

»Nein, zuerst ihm, dem Engel! Ich will zu ihm . . . Warum lassen Sie mich nicht zu ihm? Sie müssen mich zu ihm lassen. Ich verlange es!«

Er richtete sich plötzlich auf dem Sofa auf, als wollte er aufspringen und weglaufen. Als Golizyn sein Gesicht, das unerkannte und unerkennbare Gesicht, wie vorhin das Gesicht Rylejews, sah – es war der Fürst Alexander Iwanowitsch Odojewskij –, taumelte er zurück, fiel in den Stuhl, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu, um nichts zu hören und nichts zu sehen. Aber die Neugier zwang ihn bald wieder aufzustehen, den Vorhang auseinanderzuschieben und hinauszublicken.

Odojewskij lag halb auf dem Sofa, und Golizyn konnte jetzt sein Gesicht sehen. Er schien fast ganz wohl, denn seine Wangen waren von einer fieberhaften Röte übergossen. Immer noch der ›liebe Sascha‹ der ›stille Junge‹; immer noch die halb kindliche, halb mädchenhafte Anmut:

›Wie eine Blüte unter eines Schnitters Stahl . . .‹

»Bis zum Vierzehnten war ich vollkommen unverdorben«, erzählte er so zutraulich, ruhig und lustig, als unterhielte er sich mit seinen besten Freunden. »Ich habe meine Erziehung zu Hause genossen. Maman m'a donné une éducation exemplaire. Bis zu ihrem Tode ließ sie mich nicht aus den Augen. Ich habe ja meine Mama . . . Aber was soll ich davon reden – als sie starb, war ich nahe daran, ihr in den Tod zu folgen. Ich trat ins Regiment ein. Mit zwanzig Jahren, fast noch ein Kind. Ich bin von Natur sorglos, leichtsinnig und faul. In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Unannehmlichkeiten erfahren. Ich war zu glücklich. Mein Leben blühte. Ich schrieb Verse und träumte vom goldenen Zeitalter Asträas. Wie alle jungen Leute redete ich von der Freiheit, ohne jede Absicht. Ebenso Rylejew. So kamen wir zusammen.«

»Hat Sie Rylejew in die Geheime Gesellschaft aufgenommen?« fragte Benkendorf.

»Nein, nicht er. Ich weiß nicht mehr, wer. Es war ja auch keine richtige Aufnahme. Es war nur eine dumme Kinderei, eine Ausgeburt des erhitzten Geistes Rylejews. Was konnten auch dreißig oder vierzig Menschen, fast noch Kinder, Träumer, ›Schlafwandler‹, wie uns Golizyn nannte, anstellen?«

»Was für ein Golizyn? Der Fürst Valerian Michailowitsch?« fragte Ljewaschow.

»Ja. Warum?«

»Hat er nicht auf den Vorschlag Pestels, alle Mitglieder des regierenden Hauses auszurotten, geantwortet: ›Ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden‹?«

»Vielleicht. Ich kann mich nicht mehr erinnern.«

»Bemühen Sie sich, darauf zu kommen.«

»Was brauchen Sie es?«

»Es ist sehr wichtig.«

»Es ist gar nicht wichtig. Unsinn! Exzellenz, warum fragt er mich so? Sagen Sie ihm doch, daß er es lassen soll. Wir sind doch keine Spione und keine Spitzel.«

Benkendorf winkte Ljewaschow mit den Augen.

»Seien Sie nicht böse, mein Freund, er wird es nicht mehr tun. Sie wollten uns erzählen, wie Sie den Vierzehnten verbracht haben.«

»Ja, ich wollte es. Aber alles war wie ein Traum – einen Traum kann man niemals richtig erzählen. Die ganze Nacht stand ich Posten im Schlosse; machte kein Auge zu, war müde wie ein Hund. Das Blut stieg mir zu Kopf, das habe ich öfters nach schlaflosen Nächten. Am Morgen fuhr ich in das Kaffeehaus Loreda und kaufte mir säuerliche Zitronenbonbons. Ich liebe diese Sorte. Dann ging ich nach Hause schlafen. Plötzlich geriet ich auf den Platz. Man schleppte mich ins Karree. Zwanzigmal wollte ich weggehen, aber sie umarmten und küßten mich, und so blieb ich, ich weiß selbst nicht, wozu . . .«

»Hatten Sie eine Pistole in der Hand?« fragte Benkendorf.

»Eine Pistole? Vielleicht. Jemand hat mir wohl eine in die Hand gedrückt . . .«

Ljewaschow schrieb etwas mit einem Bleistift auf einen Zettel.

»Exzellenz, warum schreibt er es auf? Das mit der Pistole ist Unsinn. Ich erinnere mich nicht mehr daran. Vielleicht hatte ich auch keine.«

»Sahen Sie, wie man auf den Grafen Miloradowitsch schoß?«

»Ja, ich sah es.«

»Wer war es?«

»Das sah ich nicht.«

»Schade. Sie könnten einen Unschuldigen retten.«

»Ach, meine Herren, was reden Sie immer von solchen Sachen . . . Müssen Sie das unbedingt wissen?«

»Unbedingt.«

»Dann sage ich es Ihnen ins Ohr . . .«

Benkendorf beugte sich zu ihm, und Odojewskij flüsterte ihm etwas zu.

»Und später, als man auf die Menge schoß«, erzählte er wieder laut, ruhig und lustig, »ging ich über die Newa auf die Wassiljewskij-Insel und von dort auf die Moika zum Schriftsteller Gendre. Als mich die alte Frau Gendre sah – sie liebt mich sehr –, schrie sie: ›Fliehen Sie!‹ und steckte mir Geld zu. Ich verlor noch mehr den Kopf. Ich ging, wohin meine Augen sahen. Ich wollte mich unter die Erde, unter das Eis verstecken. Die Menschen blickten mir in die Augen wie die Raben in die eines Sterbenden. Ich übernachtete am Kanal unter einer Brücke. Ich geriet in ein Eisloch und wäre um ein Haar ertrunken und erfroren. Ich fühlte schon den Tod. Als ich aus dem Loch herauskam, war ich wie verrückt. Am Morgen ging ich wieder herum, Gott weiß wo. Ich war in Katherinenhof, auch in Krassoje. Ich kaufte mir einen Schafpelz und eine Bauernmütze, verkleidete mich als Bauer. Dann kehrte ich nach Petersburg zurück und ging zu meinem Onkel Wassja Lanskoi, dem Minister. Er versprach, mich zu verstecken, ging aber auf die Polizei und zeigte mich an. Die Sache ist faul, sagte ich mir. Und so kam ich zu Ihnen . . .«

»Sie kamen nicht von selbst, wir haben Sie hergebracht«, korrigierte ihn Baschuzkij.

»Sie haben mich hergebracht? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich wollte auch selbst. In Rußland kann man gar nicht fliehen. Das habe ich selbst erfahren. Der Russe ist tapfer wie ein Degen und fest wie Feuerstein, solange er in seiner Seele Gott und den Zaren hat. Ohne sie ist er aber ein Waschlappen und ein Schurke. So ist es jetzt auch mit mir. Ich bin doch ein Schurke, Exzellenz, nicht wahr?« wandte er sich plötzlich an Benkendorf und sah ihm gerade in die Augen.

»Warum denn? Im Gegenteil, der edelste Mensch: Sie waren auf Abwege geraten und haben es dann bereut.«

»Es ist nicht wahr! Ich lese es in Ihren Augen, daß es nicht wahr ist. Sie sagen ›der edelste Mensch‹, denken sich aber dabei: ›Schurke‹. Aber auch Sie, meine Herren«, sagte er langsam, alle im Kreise ansehend, während sein Gesicht erbleichte und sich verzerrte »hören einem Schurken zu! Auch Sie sind nett! Ich werde verrückt, und Sie nützen es aus und hören mir zu! Mein Gott! Mein Gott! Was tut ihr mit mir! Henker! Henker! Peiniger! Verflucht sollt ihr sein!«

Golizyn taumelte wieder zurück, schloß die Augen und hielt sich die Ohren zu, um nichts zu sehen und nichts zu hören. Aber die unstillbare Neugier zwang ihn bald wieder, den Vorhang auseinanderzuschieben und zu horchen.

Odojewskij lag bewegungslos, stumm, mit geschlossenen Augen, wie in einer Ohnmacht. Dann öffnete er die Augen und sprach sehr schnell und undeutlich, wie im Fieber:

»Nun, es sei! Alle sind Schurken und alle sind edel. Unschuldig und unglücklich. Tiere und Engel zugleich. Gefallene Engel, aufrührerische Engel. Man muß es bloß verstehen. ›Es herrscht eine allweise Güte über die Welt.‹ So heißt es auf deutsch bei Schelling. Russisch heißt es aber: ›Der allerreinsten Mutter Schutz und Fürbitte . . .‹ Da ist sie auch selbst, sehen Sie sie . . .?«

An der Wand ihm gegenüber hing eine Kopie der Sixtinischen Madonna von Raffael. Golizyn sah sie an, und es fiel ihm plötzlich ein, an wen ihn die Augen Marinjkas erinnert hatten, als er nach seiner Verhaftung die Treppe hinunterging und sie, über das Geländer gebeugt, ihn zum letzten Male ansah.

»Was für Augen!« fuhr Odojewskij fort, die Madonna mit feierlicher Rührung ansehend. »Wie heißt es noch in den russischen Volksliedern: ›Mutter feuchte Erde‹? Rußland ist die Mutter. Die Mutter aller Leidenden. Man soll aber darüber nicht . . . Exzellenz, seien Sie mir nicht böse. Ich will alles sagen, Sie sollen alles erfahren. Ich will nur ein wenig ausruhen, dann fange ich wieder an. Kachowskij hat geschossen, Obolenskij hat mit dem Bajonett das Pferd verwundet. Küchelbäcker hat nach dem Großfürsten gezielt, aber die Pistole versagte. Es macht nichts, es macht nichts, schreiben Sie es auf, sonst vergessen Sie es. Was wollte ich noch sagen . . .? Es ist übrigens Unsinn! Es ist wieder nicht das Richtige . . . Aber als ich im Eisloch lag, unter der Brücke, dann war es so: Goldene und grüne Tassen, als Kinder tranken wir aus ihnen Milch auf dem Lande, im Sommer, bei Mamachen, im Entresol mit den halbrunden Fenstern, die auf das Birkenwäldchen gingen. So schön war es! Auch jetzt . . . Seien Sie mir nur nicht böse, meine Lieben, meine Guten! Man soll sich nicht ärgern, alles wird gut werden. Wir wollen einander alles verzeihen, wir wollen einander lieben! Fassen wir uns doch bei den Händen und singen und tanzen wir wie die Kinder, wie die Engel Gottes im Paradiese, im goldenen Zeitalter Asträas . . .«

Er sprach immer leiser und leiser und wurde zuletzt ganz still und schloß die Augen, als wäre er eingeschlafen oder ohnmächtig geworden. Er lächelte im Schlafe, und stille Tränen liefen ihm über die Wangen. Benkendorf küßte ihn auf den Kopf, vielleicht mit ungeheuchelter Zärtlichkeit.

Am anderen Ende des Saales bewegte sich plötzlich ein ebenso schwerer Vorhang wie der, hinter dem Golizyn lauschte, und in den Saal trat der Kaiser.

Alle gingen auf ihn zu und sprachen leise, um den Kranken nicht zu wecken. Golizyn konnte nur einzelne Worte hören.

»Daß es nur kein Nervenfieber wird . . .«

»Zur Ader lassen und Eis auf den Kopf . . .«

»Sehr wichtige Aussagen . . .«

»Aber er phantasiert ja, man darf den Worten eines Verrückten nicht zu viel Bedeutung beimessen, er kann ja auch einen Unschuldigen angeben . . .«

»Tut nichts, wir werden uns schon zurechtfinden . . .«

Golizyn wußte selbst nicht, wie er auf seinen früheren Platz hinter die spanische Wand im großen Saal zurückkehrte. Lange saß er wie starr da.

Plötzlich bemerkte er Ljewaschow. Dieser saß vor dem L'Hombre-Tischchen und sah irgendwelche Papiere durch. Golizyn sprang auf und stürzte so plötzlich auf ihn zu, daß Ljewaschow zusammenfuhr, sich umwandte und gleichfalls aufsprang.

»Was ist los? Was haben Sie, Golizyn?«

»Führen Sie mich zum Kaiser!«

»Der Kaiser ist beschäftigt. Wenn Sie etwas zu sagen haben, so können Sie es mir sagen.«

»Nein, ich will zum Kaiser! Sofort, sofort, gleich auf der Stelle!«

»Was schreien Sie, Herr? Sind Sie von Sinnen?«

»Ich bin von Sinnen! Ich bin von Sinnen! Einen habt ihr schon verrückt gemacht, und ich bin der zweite! In Rußland besteht noch die Folter! Den einen habt ihr zu Tode gefoltert, nehmt nun den anderen vor! Beide zugleich! Reißt die Sehnen heraus, röstet die Fersen! Ihr Schurken, Henker, Peiniger!« schrie Golizyn wie rasend, stampfte mit den Füßen und hob die Fäuste.

Ljewaschow packte ihn bei den Händen, aber er riß sich los, stieß ihn zurück und lief, er wußte selbst nicht, wohin und wozu. Ihn durchzuckte der Gedanke: das Tier töten, und wenn nicht töten, so beschimpfen, verprügeln, anspeien.

»Haltet ihn!« rief Ljewaschow den beiden Wachtposten zu, die noch immer vor der Tür am anderen Ende des Saales wie zwei Bildsäulen standen. Diese wurden plötzlich lebendig, begriffen, was man von ihnen wollte, und liefen hin, um Golizyn einzufangen.

»Mikulin! Mikulin!« schrie Ljewaschow mit einem so erschrockenen Gesicht, als ob drei Männer nicht genügten, um mit dem einen fertig zu werden.

»Hier, Exzellenz!« rief der diensthabende Wachoffizier, Oberst Mikulin, mit fünf kräftigen Chevalier-Gardisten in Messinghelmen und Messingpanzern wie aus dem Boden gestampft auftauchend: gegen den einen Wehrlosen ein ganzes Heer. Irgendwo in der Ferne erschien das Gesicht des Kaisers und verschwand sofort wieder.

Man umringte und packte Golizyn. Jemand umfaßte ihn von hinten so fest mit den Armen, daß er beinahe erstickte; jemand packte ihn bei der Gurgel; jemand schlug ihn ins Gesicht. Aber er ergab sich noch immer nicht und kämpfte verzweifelt, mit verzehnfachter Kraft, die ihm die Wut gab.

Plötzlich erklang in der Ferne ein Geschrei. Golizyn erkannte die Stimme Odojewskijs. Aber er konnte weder damals noch später begreifen, was eigentlich vorging: ob der Kranke aus seiner Ohnmacht erwachte und vor dem Lärm erschrak; oder ob er, als man ihn zur Ader ließ, glaubte, daß man ihn foltere – der Schrei war jedenfalls entsetzlich. Golizyn antwortete darauf mit einem ebensolchen Schrei. Hätte es ein Fremder gehört, so müßte er glauben, daß hier eine Folterkammer oder ein Irrenhaus sei.

»Stricke! Stricke! Bindet ihn! Was schreit er, diese Kanaille! Verstopft ihm doch die Gurgel!«

Golizyn fühlte, wie man ihm ein Taschentuch in den Mund stopfte, wie man ihm Arme und Beine fesselte, ihn aufhob und forttrug.

Er schickte sich drein, wurde still und schloß die Augen. ›Nun ist es gut. Alles ist gut‹, sagte eine Stimme.

Langsam schwebte im roten Nebel das weiße Gesicht des Tieres vorbei, und Golizyn verlor das Bewußtsein.

 


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