Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

»Majestät, alles ist zu Ende!« meldete Benkendorf.

Der Kaiser schwieg und hielt die Augen gesenkt. ›Was war es? Was war es?‹ fragte er sich, wie aus einem Fiebertraum erwachend und fühlend, daß etwas Schreckliches, nie wieder gutzumachendes geschehen war.

»Alles ist zu Ende, der Aufstand ist niedergeschlagen, Majestät!« wiederholte Benkendorf, und in seiner Stimme klang ein so neuer Ton, daß der Kaiser staunte, es aber noch nicht begriff und nicht glaubte.

Er hob ängstlich die Augen und senkte sie gleich wieder; dann hob er sie wieder, etwas kühner, und plötzlich hatte er es begriffen. Es war nichts Schreckliches geschehen, alles war in Ordnung: Er hatte den Aufstand niedergeschlagen und die Aufrührer bestraft. »Wenn ich auch nur eine Stunde Kaiser bin, so werde ich zeigen, daß ich dessen würdig war!« Und er hatte es gezeigt. Erst jetzt war er wirklich Zar geworden; kein Usurpator, sondern Autokrat.

Auf seinen blassen Wangen waren zwei rote Flecke hervorgetreten; die wundgebissenen Lippen hatten sich gerötet, als wären sie voller Blut. Und das ganze Gesicht war lebendig geworden.

»Ja, Benkendorf, es ist zu Ende, ich bin Kaiser, aber um welchen Preis, mein Gott!« rief er seufzend und die Augen zum Himmel hebend. »Gottes Wille geschehe!«

Er fühlte sich wieder in seiner Rolle und wußte, daß er aus ihr nicht mehr fallen würde; wieder klebte eine Maske an seinem Gesicht, und sie sollte nicht mehr fallen.

»Hurra! Hurra! Hurra, Nikolai!« rollte es tausendstimmig vom Senatsplatz her und erreichte die inneren Gemächer des Winterpalais; auch hier verstanden nun alle, daß der Aufstand niedergeschlagen war.

Im kleinen runden Kabinett, dessen Fenster auf den Schloßplatz gingen, saß die junge Kaiserin Alexandra Fjodorowna(Alexandrine) Alexandra Fjodorowna (1798-1860), Großfürstin und spätere Kaiserin, Tochter des Königs Friedrich Wilhelm III. von Preußen, Gemahlin des Kaisers Nikolai I. Anm. d. Übers. stumm und totenblaß auf dem Fensterbrett. Sie blickte hinaus und sah einen von Truppen bedeckten Teil des Platzes.

Die Kaiserin Maria Fjodorowna schwatzte und rannte wie immer sinnlos hin und her. Sie versuchte jedem ein kleines Bildnis des verstorbenen Kaisers Alexander Pawlowitsch in die Hand zu drücken und wollte, daß man es den Aufrührern bringe:

»Zeigt ihnen, zeigt ihnen diesen Engel, vielleicht werden sie noch zur Besinnung kommen!«

Hier befanden sich auch Nikolai Karamsin und Alexander Golizyn. – Karamsin war schon draußen auf dem Platze gewesen.

»Was für Gesichter habe ich gesehen, was für Worte habe ich gehört!« berichtete er später. »Diese unsinnige Tragödie unserer wahnsinnigen Liberalisten! Wir wollen jedoch für das Heilige Rußland sterben! Fünf oder sechs Steine fielen zu meinen Füßen nieder. Ich friedlicher Historiograph lechzte nach Kanonendonner, denn ich war überzeugt, daß es kein anderes Mittel gab, den Aufstand zu unterdrücken.«

»Wissen Sie, Nikolai Michailowitsch, was hier vorgeht, ist eine Kritik Ihrer ›Geschichte des Russischen Reiches‹ mit bewaffneter Hand«, hatte ihm einer der ›wahnsinnigen Liberalisten‹ noch dort auf dem Platze ins Ohr geflüstert, und er erinnerte sich später oft dieser unverständlichen Worte.

Als die Geschütze krachten, schlug Kaiserin Maria Fjodorowna die Hände zusammen.

»Mein Gott, was haben wir erlebt! Mein Sohn besteigt den Thron unter Kanonendonner! Es fließt Blut, russisches Blut!«

»Verdorbenes Blut, Majestät«, tröstete sie Golizyn. Sie aber wiederholte untröstlich:

»Was wird Europa sagen! Was wird Europa sagen!«

Die junge Kaiserin war aber gleich bei den ersten Schüssen in die Kniee gefallen und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt; so lag sie regungslos da, nur ihr Kopf zitterte unaufhörlich. ›Wie eine Lilie vor dem Sturme!‹ dachte sich Karamsin.

Und auch später, als alles schon zu Ende war, zitterte und schwankte ihr Kopf noch immer wie eine Blüte auf gebrochenem Stengel. Sie selbst fühlte es nicht, aber alle sahen es. Sie glaubten, es würde vergehen, es verging aber nicht und blieb ihr fürs ganze Leben.

Im Nebenzimmer saß vor einem runden Tischchen ein kleiner Junge mit rundem Gesicht, blauen Augen, in einer roten goldgestickten Husarenjacke und aß unter Aufsicht der Engländerin Mimi ein Kotelett – es war der Thronfolger Alexander Nikolajewitsch.

Er hörte als erster das Hurra auf dem Platze, lief zum Fenster, klatschte in die Hände und rief:

»Papachen! Papachen!«

Der goldene Bienenschwarm unter den feurigen Trauben der Kronleuchter in den Prunkräumen des Palais verstummte, als der Kaiser eintrat.

›Man kann ihn nicht wiedererkennen, er ist ein ganz anderer Mensch geworden: eine solche Veränderung im Gesicht, im Gang, in der Stimme‹, bemerkten sofort alle.

»Tout de suite il a pris de l'aplomb«, dachte sich Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn. »Er ist nicht als der gleiche zurückgekehrt, als der er gegangen ist: Er ging als Usurpator hin und kam als Autokrat wieder.«

»Gesegnet sei, der da im Namen des Herrn kommt!« begrüßte der Metropolit Seraphim feierlich den Kaiser bei seinem Eintritt in die Kirche.

»Dem allerfrömmsten Selbstherrscher und Kaiser aller Reußen, Nikolai Pawlowitsch ein langes Leben! Gebe ihm Gott ein glückliches und friedliches Leben, Gesundheit und Schutz und Sieg über die Feinde!« dröhnte zum Schluß des Gottesdienstes die donnerähnliche Stimme des Diakons.

›Ja, von Gottes Gnaden Kaiser und Selbstherrscher aller Reußen . . .! Was Gott mir gab, wird mir kein Mensch nehmen!‹ dachte sich der Kaiser und glaubte nun endgültig daran, daß alles in bester Ordnung sei.

 


 << zurück weiter >>