Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Neuntes Kapitel

Alle im Prozeß vom Vierzehnten Verurteilten – außer den fünf Todeskandidaten waren es 116 Mann – wurden einer besonderen Zeremonie der öffentlichen Degradation unterzogen. Man versammelte sie auf dem Platz vor dem Münzhofe, ordnete sie in Abteilungen nach den Dienstressorts und führte sie aus der Festung durch das Peterstor auf das Glacis des Kronwerk-Walls, einen großen leeren Platz; dieser Platz diente einst zum Abladen von Unrat, und auch jetzt lagen hier noch Haufen von Abfällen herum.

Die Truppen des Gardekorps und die Artillerie mit geladenen Geschützen stellten sich um die Verurteilten im Halbkreise auf. Dumpf schlugen im Nebel die Trommeln, ohne die Stille des frühen Morgens zu stören. Vor jeder Abteilung brannte ein Feuer und stand ein Henker. Man verlas das Urteil und begann mit der Degradation.

Die Verurteilten mußten niederknien. Die Henker rissen ihnen die Uniformen, Achselklappen, Epauletts und Orden vom Leibe und warfen diese ins Feuer. Über ihren Köpfen brachen sie die Degen. Die Degen waren vorher angefeilt worden, damit sie leichter brechen; einige waren aber ungenügend angefeilt, und die Verurteilten fielen unter den Schlägen um. So fiel auch Golizyn, als der Henker ihn mit seinem Kammerjunkerdegen auf den Kopf schlug.

»Wenn du mich noch einmal so schlägst, bin ich tot«, sagte er dem Henker, aufstehend.

Dann gab man ihnen gestreifte Spitalröcke. Es war keine Zeit, sie anzuprobieren; ein Kleingewachsener bekam einen viel zu langen Rock, der ihn im Gehen hinderte; ein Langer bekam einen kurzen; ein Dicker einen engen, den er kaum anziehen konnte. Man kleidete sie als Hanswürste. Schließlich führte man sie in die Festung zurück.

Als sie am Kronwerk-Wall vorbeigingen und die beiden Pfähle mit dem Querbalken sahen, flüsterten sie:

»Was ist das?«

»Wissen Sie es denn nicht?«

»Es sieht dem so gar nicht ähnlich.«

»Haben Sie ihn denn gesehen?«

»Nein, noch nie.«

»Niemand hat einen gesehen: Er ist der erste, seit wir leben.«

»Der erste, aber wohl nicht der letzte.«

»Eine so einfache Sache, aber selbst das verstand man bei uns nicht zu machen: Ein Deutscher hat ihn gebaut.«

»Man hat keinen russischen Henker finden können und sich einen Letten oder Finnen verschrieben.«

»Man sagt, daß auch dieser nichts taugt; vielleicht wird er es gar nicht machen können.«

»Kutusow wird es ihm zeigen: Er ist Meister, er hat es an einem Zarenhalse gelernt!«

Sie lachten; so lachen die Menschen oft vor Entsetzen.

»Was machen die so lange Geschichten? Es ist für zwei angesetzt und die Uhr geht schon auf fünf.«

»Auf der Admiralität hat man ihn gebaut und auf sechs Fuhren verladen; fünf Fuhren sind angekommen, aber die sechste, die wichtigste, die mit dem Querbalken, ist irgendwo steckengeblieben. Sie haben einen neuen gezimmert, und das hat so lange gedauert.«

»Es wird nichts daraus. Sie machen nur Angst. ›Die Konfirmation ist nur eine Dekoration.‹ Es wird ein Bote vom Zaren mit der Begnadigung geritten kommen.«

»Da reitet jemand, seht ihr es?«

»Es ist der General Tschernyschow.«

»Nun, es ist gleich, der Bote wird doch noch kommen.«

Und sie sahen sich wieder um.

»Wie eine Schaukel sieht er aus.«

»Schaukeln Sie mal!«

»Nein, es ist keine Schaukel, sondern eine Waage«, sagte Golizyn. Niemand verstand ihn, er hatte sich aber gedacht: »Auf dieser Waage wird Rußland gewogen werden!«

Zu den Pfählen auf dem Wall kamen zwei Generäle, Tschernyschow und Kutusow, geritten. Sie stritten wegen der Dicke der Stricke.

»Sie sind zu dünn«, sagte Tschernyschow.

»Nein, nicht zu dünn. An einem dünnen Strick kann man die Schlinge viel fester zuziehen«, widersprach Kutusow.

»Und wenn sie reißen?«

»Aber erlauben Sie: Man hat Sandsäcke angehängt, sie halten je acht Pud aus.«

»Haben Sie selbst die Probe gemacht?«

»Ja.«

»Dann müssen es Exzellenz besser wissen«, bemerkte Tschernyschow mit einem giftigen Lächeln, Kutusow aber wurde über und über rot. Er verstand die Anspielung: Er hatte den Zaren umgebracht, also wird er auch die Zarenmörder umbringen können.

»He, du, hast du den Talg nicht vergessen?« rief er dem Henker zu.

Der Finne murmelte etwas Unverständliches, auf den Napf mit Talg zeigend.

»Er spricht ja gar nicht russisch«, sagte Tschernyschow und sah den Henker durch das Lorgnon an.

Der Henker war ein etwa vierzigjähriger Mann mit blondem Haar und einer Stutznase und hatte einige Ähnlichkeit mit dem Kaiser Paul I. Er blickte erstaunt und verlegen drein, als hätte er nicht ordentlich ausgeschlafen.

»Diese Schlafmütze, alles fällt ihm aus den Händen. Daß es nur kein Unglück gibt! Wo haben Sie bloß so einen Dummkopf aufgetrieben?«

»Warum haben Sie keinen Klugen aufgetrieben?« antwortete Kutusow bissig und ritt auf die Seite.

In diesem Augenblick traten die fünf Verurteilten aus dem Festungstor. Im Tor war eine Pforte mit hoher Schwelle. Sie hoben mit Mühe ihre kettenbeschwerten Füße, um über die Schwelle zu treten. Pestel war so schwach, daß die Soldaten ihn heben mußten.

Als sie auf den Wall kamen und am Galgen vorbeigingen, sah er das Gerüst an und sagte:

»C'est trop. Man könnte uns auch erschießen lassen.«

Er hatte bis zum letzten Augenblick nicht gewußt, daß man sie hängen würde.

Vom Walle aus sahen sie einen kleinen Haufen Menschen auf dem Trojizkij-Platz. In der Stadt wußte niemand, wo die Hinrichtung stattfinden würde: Die einen sagten: auf dem Wolkow-Feld, die anderen meinten: auf dem Senatsplatz. Die Leute sahen stumm und erstaunt zu: Man war die Todesstrafe nicht mehr gewöhnt. Manche zeigten Mitleid, seufzten und bekreuzigten sich. Aber fast niemand wußte, wer und warum hingerichtet werden sollte: Man glaubte, es seien Räuber oder Falschmünzer.

»Il n'est pas bien nombreux, notre publique«, bemerkte Pestel lächelnd.

Im letzten Augenblick war wieder etwas nicht fertig, und Tschernyschow und Kutusow gerieten in Streit.

Die Verurteilten mußten sich ins Gras setzen. Sie saßen in der gleichen Reihenfolge, wie sie gegangen waren: Rylejew neben Pestel, Murawjow neben Bestuschew, und Kachowskij ganz allein, abseits.

Rylejew sah Kachowskij nicht an, fühlte aber seinen starren Blick auf sich lasten; wenn sie auch nur einen Augenblick allein geblieben wären, hätte er sich wohl über ihn gestürzt und ihn erwürgt. Eine ungeheure Last bedrückte Rylejew; es war ihm, als hätten sich Riesensteine auf ihn gewälzt, er schleuderte sie aber nicht mehr wie leichte Bälle zurück, wie ein Mensch auf einem kleinen Planeten; die Steine wurden immer schwerer.

»Eine merkwürdige Mütze. Ist wohl kein Russe?« sagte Pestel, auf die lederne Klappenmütze des Henkers zeigend.

»Wahrscheinlich ein Finne«, erwiderte Rylejew.

»Das Hemd ist aber rot. C'est le gout national: Man kleidet bei uns die Henker immer rot«, fuhr Pestel fort. Nach einer Weile zeigte er auf den Gehilfen des Henkers und sagte: »Dieser Kleine sieht aber wie ein Affe aus.«

»Oder wie Nikolai Iwanowitsch Gretsch«,Gretsch, Nikolai Iwanowitsch (1787-1867), Journalist, Genosse Bulgarins. Anm. d. Übers. bemerkte Rylejew mit einem Lächeln.

»Was für ein Gretsch?«

»Der Schriftsteller.«

»Ach ja: Gretsch und Bulgarin.«Bulgarin, Faddej Wenediktowitsch (1789-1859), Romanschriftsteller und Journalist, als Lockspitzel und Denunziant gehaßt und gefürchtet. Anm. d. Übers.

Pestel schwieg wieder eine Weile, gähnte und fügte hinzu:

»Tschernyschow ist heute gar nicht geschminkt.«

»Ist noch zu früh: Er hat noch nicht Toilette gemacht«, erklärte Rylejew.

»Und wozu brennen die Feuer?«

»Bei der Degradation wurden die Uniformen verbrannt.«

»Seht: Musik!« sagte Pestel und zeigte auf die Musikanten, die hinter dem Galgen an der Spitze der Schwadron der Pawlowsker Leibgrenadiere standen. »Wird man uns vielleicht mit Musik hängen?« – »Wahrscheinlich.«

So sprachen sie die ganze Zeit von den gleichgültigsten Dingen. Rylejew fragte nur einmal Pestel nach der ›Russischen Wahrheit‹ jener gab aber keine Antwort und winkte nur abwehrend mit der Hand.

Der kleine, hagere Bestuschew mit dem zerzausten roten Haar, dem sommersprossenbesäten Kindergesicht und nicht etwa erschrockenen, sondern nur erstaunten Augen, glich einem kleinen Jungen, den man gleich bestrafen, vielleicht aber auch laufen lassen würde. Er atmete kurz und schnell, als stiege er einen Berg hinauf; zuweilen zuckte er zusammen und schluchzte wie früher im Schlafe; es hatte den Anschein, daß er gleich in Tränen ausbrechen und wieder mit wilder Stimme schreien würde: »Ah – ah – ah! Was ist das? Was ist das?« Wenn er aber Murajow ansah, wurde er still und fragte ihn stumm mit den. Augen: »Wann kommt der Bote?«

»Gleich«, antwortete ihm Murawjow gleichfalls stumm; und er streichelte ihm den Kopf und lächelte.

Nun näherte sich ihnen P. Pjotr mit dem Kreuz. Die Verurteilten erhoben sich.

»Schon?« fragte Pestel.

»Noch nicht, man wird es schon sagen«, antwortete Rylejew.

Bestuschew sah P. Pjotr so an, als wollte er ihn fragen: »Wann kommt denn der Bote?« Aber P. Pjotr wandte sich weg und blickte ebenso verlegen wie Bestuschew selbst. Er zog das Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Sie vergessen doch das Taschentuch nicht?« erinnerte ihn Rylejew an seine Bitte, das Taschentuch dem Kaiser abzugeben.

»Ich vergesse es nicht, Kondratij Fjodorowitsch, seien Sie unbesorgt . . . Worauf warten die noch . . . Mein Gott!« rief P. Pjotr und sah sich um: Vielleicht hoffte er noch immer auf den Boten oder dachte sich: ›Daß es doch schneller ein Ende nimmt!‹ Dann ging er auf den Ober-Polizeimeister Tschichatschow zu, der neben dem Galgen stand und die letzten Anordnungen gab. Er tuschelte mit ihm und kehrte zu den Verurteilten zurück.

»Nun, meine Freunde . . .« Er hob das Kreuz, wollte etwas sagen und konnte es nicht.

»Sie geben uns wie Räubern das Geleit, P. Pjotr«, sagte Murawjow für ihn.

»Ja, ja, wie Schächern«, stammelte Myslowskij. Dann sah er Murawjow gerade in die Augen und rief feierlich:

»Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!«

Murawjow kniete nieder, bekreuzigte sich und sagte:

»Gott, rette Rußland! Gott, rette Rußland! Gott, rette Rußland!«

Er bückte sich und küßte die Erde und dann das Kreuz.

Bestuschew machte alle seine Bewegungen nach wie ein Schatten, war sich aber wohl nicht mehr bewußt, was er tat.

Pestel ging auf das Kreuz zu und sagte:

»Ich bin zwar nicht griechisch-orthodox, aber ich bitte Sie, P. Pjotr, segnen Sie auch mich vor der weiten Reise.«

Er kniete ebenfalls nieder, bekreuzigte sich mit schwerfälliger Gebärde, wie im Traum, und küßte das Kreuz.

Nach ihm Rylejew, der immer noch den starren drückenden Blick Kachowskijs auf sich fühlte.

Kachowskij stand noch immer abseits und kam nicht zu P. Pjotr. Jener ging selbst auf ihn zu. Kachowskij kniete langsam, wie widerwillig nieder, bekreuzigte sich ebenso langsam und küßte das Kreuz. Dann sprang er plötzlich auf, umarmte P. Pjotr und drückte ihm den Hals so fest zusammen, als wollte er ihn erwürgen.

Er ließ ihn los und sah Rylejew an. Ihre Blicke begegneten sich. »Er wird es nicht verstehen«, dachte sich Rylejew, und die schreckliche Last erdrückte ihn schier. Aber im steinernen Gesicht Kachowskijs zuckte etwas. Er stürzte zu Rylejew und umarmte ihn schluchzend.

»Kondrat . . . Bruder . . . Kondrat . . . Ich habe dich . . . Vergib, Kondrat . . . Zusammen? Zusammen?« stammelte er unter Tränen.

»Petja, Liebster . . . Ich habe es ja gewußt . . . Zusammen! Zusammen!« antwortete Rylejew, gleichfalls schluchzend.

Der Ober-Polizeimeister Tschichatschow verlas das Urteil. Es endete mit dem Satz:

»Diese Verbrecher sind wegen ihrer schweren Missetaten mit dem Strang hinzurichten.«

Man zog den Verurteilten lange weiße Totenhemden an, die vom Halse bis zu den Fersen reichten, und befestigte sie mittels Riemen am Halse, in der Mitte unterhalb der Ellenbogen und unten an den Knöcheln, so daß ihre Körper wie in Windeln gewickelt aussahen. Jeder bekam eine spitze weiße Mütze auf den Kopf und ein viereckiges schwarzes Lederstück um den Hals; auf jedem war mit Kreide der Name des Verbrechers und das Wort »Zarenmörder« geschrieben. Die Namen Rylejews und Kachowskijs wurden verwechselt. Tschichatschow merkte das Versehen und ließ die Lederstücke umhängen. Allen anderen erschien es als ein schrecklicher Scherz, aber sie selbst faßten es als eine zarte Liebkosung des Todes auf.

Kutusow gab ein Zeichen. Die Musik begann zu spielen. Man führte die Verurteilten zum Galgen. Dieser stand auf einem Brettergerüst, und sie mußten eine sehr abschüssige, mit Brettern belegte Böschung hinaufgehen. Sie gingen langsam, denn sie konnten mit ihren kettenbeschwerten und mit Stricken gefesselten Füßen nur ganz kleine Schritte machen. Die Soldaten stützten sie und trieben sie vorwärts.

Um diese Zeit rieben die Henker die Stricke mit Talg ein. Ein alter Unteroffizier, der als letzter in der Reihe der Grenadiere stand, sah immer die Henker an und runzelte die Stirn. Er verstand sich aufs Hängen: Während des Feldzuges Ssuworows hatte er in Polen wohl ein ganzes Dutzend jüdischer Spione gehängt. Er sah, daß die Stricke vom Tau durchnäßt waren und den Talg nicht annahmen: Die Schlinge wird sich nicht ordentlich zuziehen lassen und kann vom Halse rutschen.

Die Verurteilten bestiegen das Gerüst und stellten sich in einer Reihe mit den Gesichtern zum Trojizkij-Platz auf. Sie standen in dieser Reihenfolge, von rechts nach links: Pestel, Rylejew, Murawjow, Bestuschew, Kachowskij.

Der Henker legte ihnen die Schlingen um die Hälse. In diesem Augenblick waren die Gesichter aller Verurteilten gleich ruhig und wie versonnen.

Als Pestel schon die Schlinge auf dem Halse hatte, wurde sein schläfriges Gesicht wie von einem Gedanken durchzuckt. »Wenn man diesen Gedanken in Worte kleiden könnte, so würde er lauten: ›Sterbe ich für nichts oder doch für etwas?‹ Gleich werde ich es erfahren.«

Man stülpte ihnen die Mützen über die Augen.

»Mein Gott, wozu?« sagte Rylejew. Es schien ihm, daß nicht nur die Hand, sondern auch das gelbe, mit glänzender Haut umspannte Gesicht des Finnen nach Talg rieche. Die schreckliche Last wälzte sich wieder über ihn. Aber Kachowskij lächelte ihm zu, und er schleuderte diese letzte Last von sich wie einen leichten Ball.

Auch Murawjow lächelte Bestuschew zu: »Wird der Bote kommen?« – »Er wird kommen.«

Die Henker liefen vom Gerüst herunter.

»Fertig?« rief Kutusow.

»Fertig!« antwortete der Henkersknecht.

Der Finne zog mit aller Kraft am eisernen Ring, der seitwärts in einer runden Öffnung im Gerüst angebracht war. Das Brett unter den Füßen der Delinquenten senkte sich wie eine Falltüre, und die Körper hingen in der Luft.

»U – uh!« dröhnte es dumpf vom Menschenhaufen auf dem Trojizkij-Platze bis zu den Truppen, die um den Galgen standen: Die ganze Menge erzitterte wie die Erde unter der schweren Last, die auf sie niederfiel. Man konnte es anfangs gar nicht fassen: Es waren ihrer fünf gewesen, am Galgen hingen aber nur zwei – wo blieben die drei?

»Teufel! Was ist das? Was ist das?« schrie Kutusow mit vor Entsetzen verzerrtem Gesicht. Er gab dem Pferd die Sporen und sprengte heran.

P. Pjotr ließ das Kreuz fallen, lief auf das Gerüst und blickte erst in das Loch und dann auf die drei baumelnden Schlingen. Nun begriff er es: Sie waren abgerissen.

Der Unteroffizier hatte recht: Die nassen Schlingen hatten sich nicht ordentlich zuziehen lassen und waren von den Hälsen gerutscht. Nur zwei: Pestel und Bestuschew hingen, aber Kachowskij, Rylejew und Murawjow waren abgerissen.

Dort unten, im schwarzen Loch regten sich die schrecklichen, weißen Gestalten in weißen Totenhemden.

Die Mützen waren ihnen von den Gesichtern gefallen. Rylejews Gesicht blutete. Kachowskij stöhnte vor Schmerz. Aber er blickte Rylejew an, und sie lächelten wieder wie vorhin einander zu: »Zusammen?« – »Zusammen.«

Murawjow wurde fast ohnmächtig, er erwachte aber mit ungeheurer Anstrengung wie aus einem tiefen Schlaf, öffnete die Augen, und sah hinauf; er sah Bestuschew hängen: Er erkannte ihn an seinem kleinen Wuchs. ›Gott sei Dank!‹ sagte er sich: ›Ein anderer Bote von einem anderen Zaren hat ihm schon das Leben verkündet!‹ Daß er aber selbst gleich nicht den zweiten, sondern den dritten Tod sterben werde, daran dachte er nicht. Er schloß wieder die Augen und beruhigte sich beim letzten Gedanken: ›Ippolit . . . Mamachen . . .‹

Die Musik verstummte. In der Stille erklang vom Menschenhaufen auf dem Trojizkij-Platze her ein Schreien und Kreischen: Eine Frau hatte einen Anfall bekommen. Und wieder ging durch die ganze Menge vom Platze bis zum Galgen das dumpfe Dröhnen des Entsetzens. Es schien: Nur noch ein Augenblick, und die Menschen ertragen es nicht; sie erschlagen die Henker und fegen den Galgen weg.

»Hängen! Hängen! Schneller!« schrie Kutusow. »He, Musik!«

Die Musik fing wieder zu spielen an. Man zog die drei Abgestürzten aus dem Loch. Sie waren nicht mehr imstande selbst das Schafott zu besteigen: Man mußte sie hinauftragen. Man hob das Fallbrett. Als Pestel es mit den Füßen berührte, wurde er wieder lebendig: Durch seinen erstarrten Körper lief ein neues Zucken. Bestuschew erreichte infolge seines kleinen Wuchses das Brett nicht: So blieb er allein vom zweiten Tod verschont.

Man legte ihnen wieder die Schlingen um die Hälse und ließ das Brett herab. Diesmal blieben alle ordentlich hängen.

Es war die sechste Morgenstunde. Die Sonne ging im Nebel wie an allen diesen Tagen trübrot auf. Der Sonne gerade gegenüber hingen zwischen zwei schwarzen Pfählen an fünf Stricken fünf unbewegliche lange, weiße, in Windeln gewickelte Körper. Und die trübrote Sonne befleckte die weißen Totenhemden nicht mit Blut.

 


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