Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Drittes Kapitel

Am nächsten Morgen brachte der Kommandant Ssukin Golizyn ein versiegeltes Kuvert mit dem Fragebogen, eine Feder, Papier und Tinte.

»Machen Sie es ohne Übereilung, überlegen Sie sich alles gut«, sagte er, indem er ihm das Paket einhändigte.

An diesem Tage bekam er nichts als Brot und Wasser. Er begriff, daß es die Strafe für das Gestrige war.

Spät am Abend kam zu ihm der Platz-Adjutant Trussow und stellte auf den Tisch einen Teller mit einer weißen, appetitlich gebräunten Semmel, wie man sie in den deutschen Bäckereien kauft.

»Essen Sie doch.«

»Ich danke, ich habe keinen Hunger.«

»Tut nichts, soll sie nur liegen. Sie werden schon Hunger bekommen.«

»Nehmen Sie sie weg«, sagte Golizyn sehr bestimmt; ihm fiel die Versuchung durch die Pfeife ein.

»Kränken Sie mich nicht, Fürst. Ich meine es gut mit Ihnen. Ich bitte Sie herzlich, essen Sie sie. Sonst können Sie Unannehmlichkeiten haben . . .«

»Was für Unannehmlichkeiten?« fragte Golizyn erstaunt.

Trussow antwortete nichts und grinste nur; sein hübsches, freches Gesicht erschien Golizyn in diesem Augenblick besonders abstoßend. Er verbeugte sich und ging, die Semmel ließ er auf dem Tisch zurück.

Golizyn unterhielt sich bis spät in die Nacht hinein durch Klopfen mit Obolenskij. Beiden schmerzten vom Klopfen die Finger. Golizyn klopfte mit einem Ästchen vom Besen, mit dem man den Boden kehrte, und Obolenskij mit einem Bleistiftstümpfchen.

»Ich habe mich entschlossen, zu schweigen, was sie mich auch fragen«, klopfte Golizyn und erzählte ihm vom Verhör.

»Du darfst nicht schweigen: So schadest du nicht nur dir selbst, sondern auch den andern«, antwortete Obolenskij.

»Tschernyschow sagt dasselbe«, entgegnete Golizyn.

»Er hat recht. Man muß antworten, lügen, schwindeln.«

»Ich kann nicht. Kannst du es?«

»Ich lerne es.«

»Rylejew ist ein Schurke: Er verrät alle.«

»Nein, er ist kein Schurke. Du weißt es nicht. Wurdest du mit ihm konfrontiert?«

»Nein.«

»Es kommt noch. Du wirst es sehen: Er ist besser als wir alle.«

»Ich verstehe es nicht.«

»Du wirst es schon verstehen. Wenn man dich über Kachowskij fragt, so sage nicht, daß er den Miloradowitsch getötet hat. Ich habe ihn ja auch mit dem Bajonett verletzt; vielleicht habe ich ihn getötet und nicht er.«

»Warum lügst du? Du weißt selbst, daß er es war.«

»Ganz gleich, verrate ihn nicht. Rette ihn.«

»Ihn soll ich retten und dich zu Grunde richten?«

»Du wirst mich nicht zu Grunde richten: Alle sind für mich und gegen ihn.«

»Ich will nicht lügen.«

»Du denkst immer nur an dich, denke auch an die anderen. Da kommt jemand. Leb wohl.«

Nach dem Gespräch mit Obolenskij wurde Golizyn so nachdenklich, daß er gar nicht merkte, wie er die Semmel zu essen begann. Er merkte es erst, als er die Hälfte gegessen hatte. Es hatte keinen Sinn, die andere Hälfte zurückzulassen, und er aß sie ganz auf.

In der Nacht erwachte er vor Leibschmerzen. Er stöhnte und ächzte. Die ganze Nacht quälte er sich. Gegen Morgen bekam er Erbrechen, es war so heftig und schmerzvoll, daß er glaubte, er müsse sterben. Aber dann kam eine Erleichterung, und er schlief ein.

»Wie haben Sie geschlafen?« weckte ihn Ssukin.

»Sehr schlecht. Ich hatte Erbrechen.«

»Haben Sie irgendwas gegessen?«

»Trussow hat mir eine Semmel gebracht.«

»Haben Sie Wasser nachgetrunken?«

»Nein.«

»Also es kommt davon. Man muß nach Brot immer etwas Wasser trinken. Es wird schon vergehen. Gleich kommt der Arzt.«

»Ich brauche keinen Arzt.«

»Nein, Sie brauchen einen. Gott behüte, wenn etwas passiert. Es ist sehr streng: Wir haften für das Leben der Arrestanten mit dem Kopfe.«

Der »Namenlose« – so nannte Golizyn den Soldaten, der für ihn der barmherzige Samariter war – erklärte, als er vom nächtlichen Unwohlsein Golizyns hörte, man hätte ihn vergiften wollen.

»Vielleicht haben Euer Wohlgeboren die Obrigkeit geärgert, darum quält man Sie so.«

Später kam der Arzt, derselbe, der im Winterpalais bei der Vernehmung Odojewskijs dabei war, Salomon Moissejewitsch Elkan, wahrscheinlich ein getaufter Jude, mit schwarzen Haaren, dicken Lippen und unruhigen, schlauen und frechen Augen. ›Eine abscheuliche Fratze. So einer kann einen wirklich vergiften!‹ sagte sich Golizyn.

Der Arrestant bekam von nun an Krankenkost: Tee und eine dünne Suppe. Aber er nahm nichts zu sich außer Brot, das ihm heimlich der ›Namenlose‹ brachte.

Zwei Tage aß er nichts, aber am dritten Tage kam zu ihm Poduschkin. Er setzte sich zu ihm aufs Bett, seufzte, gähnte, bekreuzte sich den Mund und begann:

»Warum essen Sie nicht?«

»Ich habe keine Lust.«

»Ach, essen Sie doch – sonst wird man Sie zwingen!«

»Wie wird man mich zwingen?«

»Man steckt Ihnen so einen Apparat in den Mund und gießt Bouillon hinein – dann werden Sie gewaltsam schlucken. Man kann Sie auch in einen ›Sack‹ setzen.«

»Was ist das für ein Sack?«

»Es sind solche unterirdischen Karzer; oben ist eine Steinplatte mit einem Loch für die Luft. Dort ist es ganz anders als hier – finster, feucht, schlecht.«

Er schwieg eine Weile, gähnte wieder und fügte hinzu:

»Grämen Sie sich nicht, alles wird schon gut. Auch General Jermolow hat hier unter der Regierung des Kaisers Paul I. gesessen, als man ihn aber herausließ, grüßte er mich nicht mehr. Ebenso wird es auch Ihnen gehen. Alles wird sich zum Besten wenden.«

»Haben Sie den ›Candide‹ gelesen, Jegor Michailowitsch?«

»Meinen Sie das mit der Nase? Ja, ich teile mit Candide diesen Vorzug, daß man mich nicht an der Nase herumführen kann!«

Angesichts des Apparates und des Sackes fing Golizyn zu essen an.

Manchmal besuchte ihn Ssukin. Der alte Kommandant mit dem kurzgeschnittenen Haar und dem rauhen Soldatengesicht, das etwas von einem Mops hatte, stand vor ihm auf seinem Stelzbein und fing an, weit ausholend:

»Ich denke mir, mein Herr, folgendes: Wenn man überhaupt irgendwo glücklich leben kann, so nur in Rußland; wenn man bloß niemand was zuleide tut und seine Pflichten erfüllt, so lebt man so frei, wie nirgends in der Welt, wie im Himmelreiche.«

Er verstummte und fing dann, ohne eine Antwort zu bekommen, wieder an:

»Sie haben sich etwas ganz Dummes in den Kopf gesetzt, meine Herren: Rußland ist ein so großes Land, daß man es nicht anders regieren kann als mit absoluter Gewalt. Wenn der Vierzehnte sogar gelungen wäre, so hätte so ein Durcheinander begonnen, daß Sie selbst nicht froh wären.«

Er verstummte wieder, sah Golizyn lange an; holte dann sein Tuch aus der Tasche, schneuzte sich und wischte sich die Augen.

»Ach, junger Mann, junger Mann, wenn ich Sie so anschaue, krampft sich mir das Herz zusammen . . . Haben Sie doch Erbarmen mit sich selbst, seien Sie nicht so trotzig. Beantworten Sie die Fragen, wie es sich gehört. Der Kaiser ist gnädig, alles kann noch gut werden . . .«

Es nahm gar kein Ende. ›Wenn ich ihn am Kragen packen und hinauswerfen könnte!‹ dachte sich Golizyn mit stiller Wut.

Nach jenem nächtlichen Anfall konnte er sich lange nicht erholen. Er verheimlichte nicht seinen Widerwillen gegen den Doktor Elkan und ekelte ihn hinaus. Statt des Doktors besuchte ihn der Feldscher Awenir Pantelejewitsch Satrapesnyi, den er gleichfalls beim Verhör Odojewskijs gesehen hatte; ein kleines, dickes Männchen, unrasiert, ungekämmt, verkommen und versoffen, aber ehrlich, gar nicht dumm, und, wie er selbst sagte, ein ›eingefleischter Jakobiner‹. Von ihm erfuhr Golizyn alles, was in der Festung vorging.

Beim Obersten Pestel, den man vor kurzem in der Südarmee verhaftet hatte, fand man Gift: Er wollte sich vergiften, um der Folter zu entgehen. Leutnant Saikin versuchte, sich den Schädel an der Mauer einzuschlagen; er wußte, wo die ›Russische Wahrheit‹ vergraben war, und fürchtete gleichfalls die Folter.

Oberstleutnant Fallenberg, gegen den fast nichts vorlag, setzte sich in den Kopf, daß man ihn, falls er gestehe, sofort begnadigen und freilassen würde; er bezichtigte sich ohne jeden Grund der Absicht, den Zaren zu ermorden, und als man ihn in die Festung sperrte, wurde er verrückt.

Der neunzehnjährige Midshipman Diwow, das ›Kind‹, wie ihn die Gefängniswärter nannten, erzählte, er ermorde jede Nacht im Traume den Kaiser mit einem Dolche. Er hörte Stimmen und hatte Gesichte – auch das meldete er alles. Auf Grund seiner Aussagen wurden viele Menschen verhaftet und in die Festung gesperrt.

Leutnant Annenkow erhängte sich an einem Handtuch, aber das Handtuch riß, und man fand ihn bewußtlos auf dem Boden der Zelle liegen.

Kornet Swistunow verschluckte die Splitter eines zerbrochenen Lampenglases.

Oberst Bulatow glaubte an die Gnade des Zaren wie an die Gnade Gottes; als er sich aber betrogen sah, entschloß er sich, sich durch Hunger zu töten. Man stellte vor ihn die schmackhaftesten Speisen und die besten Getränke; er rührte aber nichts an und sog sich nur das Blut aus den Fingern, um den Durst zu stillen. Seine Qualen dauerten zwölf Tage; wahrscheinlich fütterte man ihn gewaltsam. Wie streng auch die Aufsicht war, es gelang ihm doch, die Wärter zu überlisten: Er zerschlug sich den Schädel an der Wand.

›Und was wird mit mir sein?‹ fragte sich Golizyn, als er diese Erzählungen hörte.

Die Fragen hatte er immer noch nicht beantwortet. Anfangs wollte er schweigen und alles leugnen. Aber je länger er darüber nachdachte, um so mehr fühlte er, daß er nicht schweigen dürfe. Gar zu zwingend waren die Gründe Tschernyschows und Obolenskijs, des Feindes und des Freundes, daß er mit seinem Schweigen nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen zugrunde richte.

P. Myslowskij besuchte ihn nach wie vor jeden Tag, blieb aber immer nur eine Minute. Er kam in die Zelle, sprach einige Worte, schwieg eine Weile, als erwartete er etwas von ihm, und ging dann wieder.

»Wie glauben Sie, P. Pjotr, tue ich gut, daß ich nichts aussage?« fragte einmal Golizyn.

»Valerian Michailowitsch, mein Liebster«, entgegnete Myslowskij erfreut; er hatte offenbar nur auf diese Frage gewartet: »Warum soll es gut sein? Es ist gar nicht gut, gar nicht gut, unvernünftig, ich sage es offen: Es ist nicht edel. Sie richten zugrunde . . .«

»Ja, ich weiß, ich weiß! Ich richte nicht nur mich selbst, sondern auch die anderen zugrunde. Es ist, als hättet ihr euch alle verschworen . . . Ach, P. Pjotr, auch Sie sind gegen mich! Das hätte ich von Ihnen nicht erwartet . . .«

»Mein Freund, handeln Sie nach Ihrem Gewissen, wie Gott es Ihnen eingibt!« rief P. Pjotr und umarmte ihn.

Golizyn schickte am gleichen Tage seine Antwort an die Kommission. Er bestätigte alles, was ihm vorgeworfen wurde, und antwortete auf alle anderen Fragen, daß er nichts wisse. Er schickte den Fragebogen am Morgen ab, und am Abend brachte ihm der Namenlose einen Zettel von Kachowskij:

»Golizyn, mein Schicksal ist in Ihren Händen. Rylejew, der Schuft, verrät uns alle. Wenn Sie mit ihm konfrontiert werden, wird er sich auf Sie berufen, daß ich den Miloradowitsch getötet habe. Verraten Sie mich nicht. Alle sind Schurken; außer Ihnen.«

Nach Empfang dieses Zettels konnte Golizyn die ganze Nacht nicht einschlafen; er quälte sich, suchte Rat, was er zu tun habe, konnte sich aber für nichts entscheiden; er sah, daß alles sich von selbst entscheiden würde.

Des Morgens schrieb er an die Kommission und bat um Rückgabe des Fragebogens. Man schickte ihn ihm zurück. Er fing an, eine neue Antwort zu schreiben. Er tat so, wie Obolenskij geraten hatte: Er beantwortete jede Frage mit der größten Genauigkeit, nur um das eine besorgt, daß er niemand schade, niemand verwickle; und er log und wandte jede List an.

Er schrieb bis spät in die Nacht hinein. Als er fertig war, legte er sich hin. Im Dunkeln, beim trüben Schein des Nachtlämpchens, schimmerten die Blätter seiner Antwort weiß auf dem Tisch. Und sooft er sie ansah, fühlte er einen solchen Ekel, daß er nahe daran war, aufzuspringen und sie zu zerreißen. Er zerriß sie aber nicht. Er drehte sich zur Wand, um sie nicht zu sehen, und schlief endlich ein.

Am anderen Tag schickte er seine neue Antwort an die Kommission, und nach zwei Tagen gratulierte ihm Ssukin zu der ersten kaiserlichen Gnade: der Befreiung von den Fußfesseln. Die zweite Gnade war eine Sendung von zu Hause: Sie enthielt Wäsche, seinen geliebten alten Schlafrock, denselben, den er während seiner Genesung im Hause der Großmutter, im gelben Zimmer, getragen hatte, und einen erbrochenen Zettel von Marinjka:

»Mein Freund, ich bin gesund, und es geht mir gut, soweit es in meiner Lage möglich ist. Schone dich; gib dich um Gottes willen nicht der Verzweiflung hin. Glaube nicht, daß ich ohne dich leben kann. Der Tod allein kann unser Band zerreißen. Ich werde immer dort sein, wo du bist. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: Mein Leben hängt von dem deinen ab; wohin die Nadel geht, dorthin folgt auch der Faden. Gott und die Allerreinste Mutter mögen dich beschützen. Für ewig deine Fürstin Marja Golizyna.«

Nach weiteren zwei Tagen brachte man ihn wieder vor die Kommission. Man führte ihn mit den gleichen Zeremonien in den gleichen Saal.

»Die Aussage Rylejews weicht in manchen Punkten von der Ihrigen ab. Sie werden mit ihm konfrontiert werden«, sagte Tschernyschow und schellte. Soldaten führten Rylejew herein.

»Bestätigen Sie, Golizyn, daß Rylejew in der Nacht auf den Vierzehnten zu Kachowskij sagte, indem er ihm den Dolch einhändigte: ›Töte den Zaren‹?«

»Ich bestätige es.«

»Und was sagen Sie dazu, Rylejew?«

»Ich habe Euer Exzellenz schon gesagt, daß ich im voraus mit allem einverstanden bin, was Golizyn sagen wird. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich damals gesagt habe; wenn er sich aber dessen erinnert, so wird es so gewesen sein . . . Golizyn, können Sie sich darauf besinnen?«

»Ja, Rylejew«, sagte Golizyn und sah ihn an.

Es war wieder wie damals in der Eremitage: Es war er und zugleich nicht er. Jetzt spürte aber Golizyn keine Entrüstung und keine Verachtung, sondern nur unendliches Mitleid. Was hatte man mit ihm gemacht? Er war abgemagert und heruntergekommen wie nach einer schweren Krankheit oder Folter. Aber nicht das war das Schrecklichste, sondern die wolkenlose Heiterkeit seines Gesichtes, wie man sie manchmal bei Toten sieht. ›Du kennst ihn nicht: er ist besser als wir alle‹, ging es Golizyn durch den Kopf.

»Rylejew, Sie haben also Kachowskij angestiftet?«

»Angestiftet? Nein. Er hat es selbst beschlossen, und ich wußte es. Meine Schuld ist größer als die seine«, antwortete Rylejew und fügte nach kurzem Schweigen hinzu:

»Exzellenz, ich verheimliche nicht nur meine Handlungen und Worte nicht, sondern enthülle auch meine heimlichsten Gedanken. Ich hatte mir oft gedacht, daß die dauerhafte Einführung der neuen Ordnung die Ausrottung des ganzen regierenden Hauses erheische. Ich hatte geglaubt, daß die Ermordung des Kaisers allein nicht nur keinen Nutzen bringen würde, sondern im Gegenteil den Zielen der Gesellschaft schaden könne, denn sie würde die Geister trennen, die Bildung von Parteien herbeiführen und die Anhänger der Allerhöchsten Familie empören; dies alles müsse aber unvermeidlich zu einem Bürgerkrieg führen. Nach Ausrottung der ganzen Familie würden sich aber alle Parteien notwendig vereinigen müssen. Soweit ich mich erinnere, habe ich dies niemand eröffnet und mich zuletzt meinem früheren Gedanken zugewandt, daß nur die Große Versammlung das Recht habe, über das Schicksal des regierenden Hauses zu entscheiden. Darum bitte ich die Kommission ergebenst, es nicht meiner Verstocktheit zuzuschreiben, daß ich dies alles nicht schon früher enthüllt habe. Wenn ich manches verheimlichte, so doch nur um die anderen und nicht mich selbst zu schonen. Ich gestehe es aufrichtig: Ich halte mich selbst für den wichtigsten und vielleicht sogar für den einzigen Schuldigen an den Ereignissen vom Vierzehnten. Denn hätte ich meine Mitwirkung gleich vom Anfang verweigert, so hätte niemand angefangen. Mit einem Wort: Wenn das Wohl Rußlands eine Hinrichtung erheischt, so verdiene ich allein eine solche, und ich bete zu Gott, daß alles mit mir ein Ende nehme.«

»Kachowskij behauptet, daß Graf Miloradowitsch von Obolenskij durch einen Bajonettstich getötet worden sei«, fuhr Tschernyschow fort. »Bestätigen Sie nun, Rylejew, daß ihn nicht Obolenskij, sondern Kachowskij getötet hat, wie er es auch selbst in Ihrer Wohnung am Abend des Vierzehnten erzählt hat?«

»Ich bestätige es.«

»Bestätigen Sie es auch, Golizyn?«

Golizyn wußte, daß er durch seine Antwort einen von beiden, Obolenskij oder Kachowskij zugrunde richten würde. Wen sollte er wählen?

»Nun, was schweigen Sie wieder?« sagte Tschernyschow, ihn lächelnd anblickend: Er glaubte, er hätte ihn schon gefangen; nun wird er sich nicht mehr herauswinden.

»Ich flehe Sie an, Golizyn, antworten Sie«, sagte Rylejew. »Das Schicksal Obolenskijs ist in Ihrer Hand. Retten Sie den Unschuldigen!«

»Ich bestätige es«, antwortete Golizyn.

»Haben Sie es mit eigenen Augen gesehen?« fragte Tschernyschow.

»Ich habe es gesehen«, sagte Golizyn mit einem Gefühl, als spreche er das Todesurteil über Kachowskij.

Tschernyschow schellte wieder und sagte:

»Man bringe Kachowskij her.«

Kachowskij trat ein. Er war noch immer derselbe: das Gesicht starr, wie aus Stein, die Unterlippe hochmütig aufgeworfen, die Augen unglücklich wie bei einem kranken Kind oder einem Hund, der seinen Herrn verloren hat, mit dem nichts sehenden Blick eines Schlafwandlers.

Man führte Golizyn ins Nebenzimmer und setzte ihn in die Ecke hinter eine spanische Wand. In diesem Zimmer befanden sich Doktor Elkan und der Feldscher Awenir Pantelejewitsch. Golizyn erfuhr später, daß sie hier immer während der Sitzungen der Kommission anwesend waren: Die Vernommenen wurden manchmal in bewußtlosem Zustand herausgetragen, und man ließ sie gleich zur Ader.

Die Stimmen klangen anfangs gedämpft, aber später, als die Tür etwas geöffnet wurde, konnte Golizyn alles hören.

»Sie hatten also gelogen, Kachowskij, und einen Unschuldigen verleumdet?«

»Verleumdet? Ich? Ich konnte in der Raserei wohl ein Verbrecher sein, aber zu einem Schurken und Verleumder kann mich niemand machen. Die andern, die selbst schuldig sind, wagen es, mich zu beleidigen und einen Mörder zu nennen. Damals hatten sie mich geküßt und gesegnet, und jetzt meiden sie mich wie einen Mörder. Aber es ist mir gleich! Sie mögen gegen mich aussagen, was sie wollen, ich werde mich nicht rechtfertigen. Dieser . . .«

Golizyn begriff, daß »dieser« – Rylejew war: Kachowskij haßte ihn so, daß er nicht mal seinen Namen nennen wollte.

»Dieser kann mich nicht beleidigen. Beleidigt er nicht sich selbst noch mehr? Ich will nur das eine sagen: Ich erkenne ihn nicht wieder oder habe ihn überhaupt niemals gekannt . . .«

»Die Hauptfrage haben Sie aber noch immer nicht beantwortet: Wer hat den Grafen Miloradowitsch getötet?«

»Ich hatte schon die Ehre, Euer Exzellenz zu sagen: Ich hatte auf Miloradowitsch geschossen, aber nicht ich allein: Die ganze Flanke des Karrees schoß auf ihn; Fürst Obolenskij verwundete ihn aber mit dem Bajonett. Ob ich ihn getötet habe oder wer anders, weiß ich nicht. Niemand und nichts kann mich zwingen, etwas anderes zu sagen. Ich bitte, mich nicht mehr zu fragen. Ich werde nicht antworten.«

»Leugnen Sie lieber nicht, Kachowskij. Alle sagen gegen Sie aus.«

»Wer alle?«

»Rylejew, Bestuschew, Odojewskij, Puschtschin, Golizyn.«

»Golizyn? Es kann nicht sein . . .«

»Wollen Sie mit ihm konfrontiert werden?«

»Nein, ich will nicht . . .«

Plötzlich verstummte er.

»Entschuldigen Sie, Exzellenz«, fing er wieder an, und seine Stimme zitterte vor Tränen, »es war eine vorübergehende Schwäche, eine Kinderei . . . Man soll nicht weinen, sondern lachen. ›Alles ist in dieser besten aller Welten zum Besten‹, wie unser nasenloser Philosoph sagt. Der letzte Schlag ist versetzt, das letzte Band ist zerrissen. Es ist zu Ende, zu Ende, zu Ende! Ich habe allein gelebt und werde allein sterben!«

»Sie gestehen also die Ermordung des Grafen Miloradowitsch?«

»Ich gestehe und unterschreibe es mit beiden Händen. Ich habe den Grafen Miloradowitsch getötet. Und wäre der Kaiser zum Karree gekommen, so hätte ich auch ihn getötet. Und alle, alle! Meine Absicht war auf die Ermordung aller Mitglieder des regierenden Hauses gerichtet . . . Meine Herren, was wollen Sie noch mehr? Lassen Sie mich hinrichten, tun Sie mit mir alles, was Sie wollen. Ich bitte Sie nur um die eine Gnade: Fällen Sie das Urteil so schnell wie möglich. Ich fürchte den Tod nicht und werde anständig zu sterben wissen.«

»Wir werden zusammen sterben, Kachowskij! Nicht du allein, merke es dir, beide zusammen!« rief Rylejew, und seine Stimme klang so flehend, daß Golizyn das Herz stillstand: Wird ihn jener begreifen, wird er ihm antworten?

»Was sagt er? Was sagt er? Exzellenz, tun Sie mir die Gnade und befreien Sie mich davon . . . Es ist ekelhaft zu hören . . .«

»Beruhigen Sie sich, Kachowskij, ereifern Sie sich nicht so«, sagte Tschernyschow. Er stand auf und ergriff seine Hand.

Poduschkin blickte zur Tür herein; Golizyn ebenfalls.

»Seien Sie unbesorgt: Ich werde ihn nicht anrühren, ich will mir nicht die Hände beschmutzen«, antwortete Kachowskij. Plötzlich wandte er sich zu Rylejew um, als hätte er ihn erst eben bemerkt, und sagte: »Nun, sprich!«

Rylejew sah ihn lächelnd an.

»Ich wollte sagen, Kachowskij, daß ich dich immer . . .«

»Was? Was? Was?« rief Kachowskij, mit geballten Fäusten auf ihn losgehend.

»He, Burschen!« rief Tschernyschow.

Der Platz-Major stürzte mit den Wachsoldaten herein.

»Geliebt habe und liebe«, sprach Rylejew den Satz zu Ende.

»Du liebst mich? Da hast du was für deine Liebe, Schurke!« schrie Kachowskij und stürzte sich auf Rylejew. Man hörte eine Ohrfeige.

Golizyn sprang auf und taumelte, als hätte man ihn geschlagen. Jemand stützte ihn und setzte ihn auf den Stuhl. Er verlor das Bewußtsein.

Als er zu sich kam, hielt ihm der Feldscher Satrapensnyj ein Glas Wasser vor den Mund. Seine Zähne klapperten gegen das Glas; lange konnte er den Rand nicht mit den Lippen fassen, endlich gelang es ihm, er trank das Wasser aus und fragte:

»Was hat er mit ihm getan? Hat er ihn erschlagen?«

»Niemand hat er erschlagen, er hat nur dem Schurken ordentlich in die Fresse gehauen«, antwortete Satrapesnyj.

Golizyn war es wieder, als hätte man ihn selbst geschlagen: Er fühlte auf seinem Gesicht die Ohrfeige brennen, er freute sich des Schmerzes und der Schande und sagte sich:

›Ganz recht ist dir geschehen, Schurke!‹

 


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