Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Zehntes Kapitel

Golizyn stand vor dem eisernen Gitter des Denkmals, mit dem Gesicht zur Batterie, als der erste Schuß krachte und die Kartätschen heulend über die Köpfe flogen und gegen die Mauern, Fenster und das Dach des Senats prasselten. Die Fensterscheiben klirrten, und Glasscherben fielen herab. Zwei Menschen, die auf eine Schale der Waage in den Händen der Göttin der Gerechtigkeit auf dem Giebel des Senats geklettert waren, fielen herunter, und einige Tote stürzten vom Dach und plumpsten auf das Pflaster wie Mehlsäcke. – Aber die Menge auf dem Platze rührte sich nicht.

»Hurra, Konstantin!« schrie die Menge triumphierend und herausfordernd.

»Kinder, mir nach! Formiert euch in eine Kolonne zur Attacke!« kommandierte Obolenskij, den Säbel schwingend.

»Hat er denn wirklich recht« dachte sich Golizyn. – Sie werden nicht wagen zu schießen, sie werden nicht den Mut haben? Wir haben sie im Stehen übertroffen? Gleich machen wir einen Bajonettangriff und nehmen ihnen die Geschütze weg! –

Aber da krachte schon der zweite Schuß, und die vorderste Reihe der Moskauer sank wie gemähtes Gras hin. Die hintern Reihen hielten sich noch. Die Menge lief aber schon auseinander wie die Ameisen in einem Haufen, in den ein Mensch getreten ist. Ein Teil der Menge flutete in die Galernaja; ein anderer zum Quai, und die Leute sprangen über das Geländer und fielen in den Schnee; andere wieder rannten zur Reitschule der Gardekavallerie. Nun kam aber auch von dort, aus der Batterie des Großfürsten Michaïl Pawlowitsch Geschützfeuer.

Die Fliehenden winkten mit Mützen und Tüchern, aber man fuhr fort, sie von beiden Seiten zu beschießen. Die Leute warfen sich in wilder Panik hin und her und erdrückten einander. Die Körper der Gefallenen lagen reihenweise, häuften sich zu Bergen. Die Menge wußte nicht mehr, wohin zu fliehen, und begann wie in einem rasenden Wirbel zu kreisen. Die Kartätschen drangen aber mit eisernem Knirschen in sie ein und zerfetzten und vierteilten die Körper, so daß blutige Fleischstücke, abgerissene Arme, Beine und Köpfe in die Luft flogen. Alles vermischte sich in einem wild brüllenden, heulenden und stöhnenden Chaos.

Golizyn stand regungslos da. Als die Moskauer wankten und die Flucht ergriffen, sah er in der Ferne die von ihnen mitgenommene Regimentsfahne flattern, die geschändete Fahne der russischen Freiheit.

»Halt, Kinder!« schrie Obolenskij, aber man hörte auf ihn nicht mehr.

»Wo läufst du hin?« schrie Michaïl Bestuschew, einen der Fliehenden am Kragen packend und fügte einen unflätigen Fluch hinzu.

»Euer Wohlgeboren, gegen Gewalt kann man nichts ausrichten!« antwortete jener. Er riß sich los und lief weiter.

Die Kugeln pfiffen Golizyn um die Ohren; sie rissen ihm den Hut vom Kopfe und durchlöcherten seinen Mantel. Er schloß die Augen und wartete auf den Tod.

»Nun, ich glaube, alles ist zu Ende«, hörte er die ruhige Stimme Puschtschins.

»Nein, nicht alles«, dachte sich Golizyn, »man muß noch etwas tun. Aber was?«

Zwischen zwei Schüssen trat eine augenblickliche Stille ein, und er hörte dicht über seinem Ohre ein leises Knacken. Er öffnete die Augen und erkannte Kachowskij. Dieser war auf den steinernen Vorsprung des Gitters gestiegen, hielt sich mit der einen Hand am Geländer fest und hatte in der anderen eine Pistole, deren Hahn er eben spannte.

Golizyn wandte sich um, um zu sehen, auf wen er zielte. Dort, am linken Flügel der Batterie, hinter den Rauchwolken sah er einen Reiter auf weißem Pferde. Golizyn erkannte Nikolai.

Kachowskij schoß und traf nicht. Er sprang vom Gitter herunter, holte aus dem Busen eine andere Pistole und lief davon.

Golizyn ihm nach. Im Laufen holte auch er aus der Seitentasche seines Mantels eine Pistole und spannte den Hahn. Jetzt wußte er, was noch zu tun war: Das Tier töten.

Sie waren aber noch keine zehn Schritte weit gelaufen, als die entgegenrennende Menge sie umringte, zusammenpreßte und mit sich fortzog.

Golizyn stolperte, fiel hin, und jemand wälzte sich ihm auf den Rücken; jemand schlug ihn so heftig mit dem Stiefelabsatz in die Schläfe, daß er das Bewußtsein verlor.

Als er zu sich kam, hatte sich die Menge zerstreut, Kachowskij war verschwunden. Golizyn tastete lange mit der Hand herum und suchte die Pistole: Er hatte sie wohl vorhin im Gedränge verloren. Endlich gab er das Suchen auf, stand auf und ging, ohne selbst zu wissen, wohin, wie ein Betrunkener taumelnd, weiter.

Die Kanonade war verstummt. Man schob die Geschütze vor, um in die Richtung der Galernaja und des Quai zu schießen.

Er ging durch den nun leeren Platz, zwischen den Körpern der Gefallenen. Er war selbst wie ein Toter unter Toten. Alles war still, keine Bewegung, kein Stöhnen; über die Erde rieselte das noch nicht erkaltete Blut, den Schnee schmelzend und dann auch selbst einfrierend.

Er erinnerte sich, daß die Moskauer in die Galernaja gelaufen waren, und ging hin, zu seinen Genossen, um mit ihnen zu sterben. Unterwegs trat er im Finstern auf etwas; er beugte sich und fand eine Pistole; er hob sie auf, untersuchte sie – sie war geladen – und steckte sie sich, er wußte selbst nicht warum, in die Manteltasche.

Als er in die Galernaja kam, setzte das Geschützfeuer von neuem ein, – hier in der Enge zwischen den Häusern war die Wirkung noch mörderischer. Die Kartätschen flogen längs der engen, langen Straße, holten die Menschen ein und warfen sie um. Sie liefen in die Häuser, versteckten sich hinter jedem Vorsprung, hinter jede Ecke, klopften an die Tore, aber alles war fest verschlossen und wurde auf kein Geschrei geöffnet. Und die Kugeln prallten von den Wänden zurück und verschonten keine Ecke.

»Man wird uns alle in diesem Teufelsmörser zerstoßen!« brummte ein Grenadier mit grauem Schnurbart. Er holte gewohnheitsmäßig aus dem Stiefelschaft seine Schnupftabaksdose, steckte sie aber gleich wieder ein: Er sagte sich wohl, daß es eine Sünde sei, kurz vor dem Tode Tabak zu schnupfen.

»Blutsauger, Mörder, Verruchte! Fluch über euch!« schrie wie besessen, mit der Faust drohend, derselbe Handwerker mit ausgemergeltem Gesicht, im Schlafrock, der vorhin von der Freiheit geredet hatte, – und plötzlich fiel er hin, von einer Kugel durchbohrt.

Ein alter, kahlköpfiger Beamter im Frack, ohne Pelz, mit dem Annenorden am Halse, drückte sich an die Mauer und winselte mit hoher, durchdringender Stimme, – man konnte nicht erkennen, ob vor Schmerz oder Entsetzen.

Eine dicke Dame mit falschen Locken, in schwarzem Hut mit einer Rose, hockte sich hin, bekreuzigte sich, weinte und gluckte wie eine Henne.

Ein Ladenjunge mit schmutziger Schürze und einem leeren Korb auf dem Kopfe – vielleicht derselbe, der Golizyn am Morgen beobachtet hatte, als jener ›auf der Zusammenkunft Minute‹ wartete – lag tot in einer Blutlache.

Dicht neben Golizyn zermalmte ein Geschoß jemand den Kopf. Es klingt, wie wenn man ein nasses Handtuch gegen die Wand wirft, – dachte er sich mit gefühllosem Erstaunen.

Er schloß wieder die Augen. ›Daß es nur schneller ein Ende nimmt!‹ Er rief den Tod, der Tod kam aber nicht. Es schien ihm, daß alle seine Genossen gefallen seien und nur er allein noch lebe. Ihn überkam eine Trauer stärker als der Tod. ›Sich selbst töten‹, dachte er sich, holte die Pistole aus der Tasche, spannte den Hahn und drückte die Mündung an die Schläfe. Aber er besann sich auf Marinjka und ließ die Hand sinken.

Michaïl Bestuschew hatte unterdessen die Reste der Soldaten auf der Newa versammelt und formierte sie zu einer Kolonne, um über das Eis der Newa eine Attacke gegen die Festung zu unternehmen. Er wollte die Festung besetzen, die Geschütze auf das Winterpalais richten und so den Aufstand von neuem beginnen.

Drei Züge hatten sich schon formiert, als eine Kanonenkugel heulend ins Eis schlug. Die Batterie, die auf der Isaaksbrücke stand, schoß längs der Newa. Eine Kanonenkugel nach der andern mähte die Reihen hin. Aber die Soldaten formierten sich zu einer Kolonne.

Plötzlich ertönte der Schrei:

»Wir ertrinken!«

Das von den Kanonenkugeln überschüttete Eis barst. Die Ertrinkenden zappelten in einem großen Eisloch. Die andern stürzten sich ans Ufer.

»Hierher, Kinder!« kommandierte Bestuschew, auf das Tor der Akademie der Künste zeigend.

Ehe sie aber das Tor erreichten, wurde es geschlossen. Sie rissen einen Balken aus dem Boden einer zerschlagenen Barke und versuchten damit die Torflügel aus den Angeln zu heben. Das Tor krachte schon unter den Schlägen, als die Soldaten eine Schwadron der Chevaliergarden erblickten, die gerade auf sie heransprengten.

»Kinder, rette sich, wer kann!« schrie Bestuschew, und alle liefen auseinander. Nur der Fahnenträger blieb zurück. Bestuschew umarmte und küßte ihn, befahl ihm, die Fahne dem an der Spitze der Schwadron reitenden Leutnant zu übergeben, und lief davon.

Als er sich im Laufen umwandte, sah er, wie der Fahnenträger die Fahne dem Offizier übergab und gleich darauf, von einem Säbelhieb getroffen, hinfiel, der Offizier aber mit der eroberten Fahne davonritt.

 


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