Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Achtes Kapitel

Stehende Revolution‹ – diese Worte Kachowskijs fielen Golizyn ein.

Sie stehen da und tun nichts. Sie frieren wie früher in ihren bloßen Waffenröcken, treten, um sich zu erwärmen, von dem einen Fuß auf den anderen und schlagen die Hände gegeneinander. Sie warten, sie wissen selbst nicht, worauf.

Mehr als vier Stunden stehen sie so ohne die geringste Bewegung, bis man alle Regimenter versammelt hat, um sie zu erdrücken. Sie sind vom Zauber der Unbeweglichkeit wie verhext. Solange sie stehen, sind sie eine unerschütterliche Feste, der Fels Petri; wenn sie sich aber nur zu rühren versuchen, werden sie gleich schwach und matt und können keinen Schritt tun. Wie in einem schrecklichen Traum bewegen sie die Beine und wollen laufen, stehen aber auf dem gleichen Fleck.

Auch der Gegner steht. Als bestünde darin der ganze Kampf: Wer wird den andern im Stehen übertreffen?

›Hat denn Kachowskij recht?‹ dachte sich Golizyn. ›Ist denn unser Aufstand eine stehende Revolution?‹

Der Sieg fällt ihnen ganz von selbst zu, sie nehmen ihn aber nicht, sie lassen sich eine Gelegenheit nach der andern entgehen, sie machen eine Dummheit nach der andern.

Als das Moskauer Regiment meuterte, sollte es zu den andern Regimentern gehen, um sie für sich zu gewinnen; aber es ging auf den Platz in der Meinung, daß alle schon dort seien; erst als es auf dem Platze eintraf, sah es, daß noch niemand da war.

Als die Flottenequipage auszog, hätte sie ihre Artillerie mitnehmen können: Geschütze gegen Geschütze könnten den Ausgang der Erhebung entscheiden; sie hätten sie mitnehmen können, hatten sie aber nicht mitgenommen.

Die Leibgrenadiere hätten aber die Festung besetzen können, die das Palais und die Stadt beherrschte; sie hätten das Palais besetzen können, in dem sich damals der Senat, der Reichsrat, die beiden Kaiserinnen und der Thronfolger befanden, – sie hätten es tun können, taten es aber nicht.

Aber trotz aller dieser Fehler verfügten die Aufrührer über ungeheure Kräfte: Sie hatten dreitausend Mann Truppen und eine zehnfache Menge Volkes, das auf den ersten Wink eines Befehlshabers zu allem bereit war.

»Gebt uns nur Waffen, wir werden euch in einer halben Stunde die ganze Stadt auf den Kopf stellen!« rief man aus der Menge.

»Man wird schießen. Was braucht ihr in den Tod zu gehen?« sagten die Soldaten, indem sie die Menge auseinandertrieben.

»Soll man nur schießen! Wir werden mit euch sterben!« antwortete die Menge.

Den Willen zum Handeln hatte das Volk, ihn hatten auch die Truppen und die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft, aber nicht die älteren; diese hatten den einen Wunsch: zu leiden, zu sterben, aber nicht zu handeln.

»Spielen Sie Schlagdame?« wandte sich Kachowskij an Golizyn.

»Was für eine Schlagdame?« fragte jener erstaunt.

»Es ist so ein Damespiel: Wer mehr geschlagen wird, der hat gewonnen.«

»Was soll das heißen?«

»Es soll heißen, daß wir Schlagdame spielen. Wir lassen uns voneinander schlagen, wir von ihnen, und sie von uns. Wir machen um die Wette Dummheiten, und wer sich dümmer anstellt, der hat gewonnen.«

»Nein, es ist keine Dummheit.« – »Was ist es denn?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht kämpfen wir nicht nur gegen sie; vielleicht ist auch in uns selbst . . . Nein, ich weiß nicht, ich verstehe es nicht zu sagen . . .«

»Sie verstehen es nicht zu sagen? Ach, Golizyn, auch Sie sind so . . . Übrigens ist es vielleicht wirklich keine Dummheit, sondern etwas anderes. Sie haben gesehen: Eben hat man einen Spion gefangen, den Adjutanten Bibikow hat man beinahe erdrückt und halbtot geschlagen; Michaïl Küchelbäcker nahm sich aber seiner an: Er führte ihn mit der größten Liebenswürdigkeit aus der Menge vor die Schützenkette hinaus, zog sich sogar den Mantel aus und gab ihn ihm, hüllte ihn sorgfältig ein, damit sich der Ärmste nicht erkälte! Wir üben uns in der christlichen Tugend: Man schlägt uns auf die linke Backe, und wir bieten die rechte dar. Wir sind selbst verdorben und haben auch unsere Soldaten verdorben: Da schießen sie in die Luft und schonen ihre Feinde. Eine menschenfreundliche Revolution, ein philantropischer Aufstand! Wir retten unser Seelenheil! Wir fürchten das Blut, wir wollen es ohne Blut machen. Es wird schon Blut geben, doch unschuldiges Blut, und es wird auf unsere Köpfe fallen! Man wird uns wie Narren zusammenschießen, und wir verdienen es auch. Ewige Knechte! Gemeines Land, gemeines Volk! Niemals wird es in Rußland eine Revolution geben.«

Er verstummte plötzlich, wandte sich weg, ergriff mit beiden Händen die Eisenstangen des Gitters – sie standen vor dem Denkmal Peters – und fing an, mit dem Kopf gegen das Gitter zu schlagen.

»Hör doch auf, Kachowskij! Die Sache ist ja noch nicht verloren, ein Erfolg ist möglich . . .«

»Möglich? Das ist eben das Gemeine, daß der Erfolg möglich ist! Aber man darf keine Minute verlieren, sonst wird es zu spät! Golizyn, helfen Sie um Gotteswillen, sagen Sie ihnen . . . was tun sie? Was tun sie . . . Aber Sie sind ja auch mit ihnen! Sie sind alle zusammen, aber ich . . .«

Seine Lippen zitterten, und er verzog das Gesicht wie ein kleines Kind, das weinen will. Er ließ sich auf die steinerne Schwelle des Gitters sinken, stützte die Ellenbogen auf die Knie, preßte den Kopf mit den Händen zusammen und wiederholte mit dumpfem Schluchzen:

»Allein! Allein! Allein!«

Als Golizyn ihn ansah, begriff er, daß wenn es unter ihnen überhaupt einen Menschen gab, der seine Seele der gemeinsamen Sache opfern könnte, dieser Mensch nur Kachowskij sei; er begriff auch, daß es keine Worte gab, mit denen man ihn trösten und ihm helfen könnte. Er beugte sich schweigend über ihn, umarmte und küßte ihn.

»Meine Herren, kommen Sie schnell! Obolenskij ist zum Diktator gewählt. Gleich ist der Kriegsrat!« erklärte Puschtschin ebenso ruhig, als befänden sie sich nicht auf dem Platz, sondern am Teetisch bei Rylejew.

Obolenskij war fast gewaltsam zum Diktator ernannt worden. Als ältester Adjutant der Garde-Infanterie und eines der drei Mitglieder des Obersten Rates der Geheimen Gesellschaft hatte er mehr Anspruch als irgend jemand, Diktator zu sein. Wenn aber niemand den Oberbefehl übernehmen wollte, so wollte er es noch weniger als die anderen. Lange weigerte er sich; als er aber sah, daß die entschiedene Weigerung die ganze Sache verderben könnte, willigte er endlich ein und entschloß sich, einen ›Kriegsrat‹ abzuhalten.

Man rief die Leute zum Kriegsrat zusammen und konnte sie doch unmöglich zusammenrufen. Sie gingen und blieben unterwegs nachdenklich stehen, immer vom gleichen Zauber der Unbeweglichkeit verhext.

»Warum stehen wir, Obolenskij? Worauf warten wir?« fragte Golizyn, an den Tisch in der Mitte des Karrees unter der Fahne tretend.

»Was sollen wir denn tun?« antwortete Obolenskij träge und unwillig, als dächte er an etwas anderes.

»Was heißt, was? Eine Attacke!«

»Nein, Golizyn, Sie können sagen, was Sie wollen, ich unternehme keine Attacke. So verderben wir die ganze Sache und zwingen die Regimenter, die uns wohlgesinnt sind, gegen uns vorzugehen. Die bitten ja nur um das eine, daß wir bis zum Anbruch der Nacht warten. ›Wartet nur, bis es Nacht wird‹, sagen sie, ›und wir gehen alle einzeln zu euch über.‹ Wir haben auch zu wenig Truppen, die Kräfte sind viel zu ungleich.«

»Und das Volk? Das ganze Volk geht mit uns, geben Sie ihm nur Waffen!«

»Gott behüte! Wenn wir ihnen Waffen geben, werden wir selbst nicht froh sein: Es wird ein Handgemenge beginnen, ein Schlachten, ein Plündern; unschuldiges Blut wird fließen.«

»Man muß das Blutvergießen auf jede Weise zu vermeiden suchen und die gesetzlichsten Mittel anwenden«, wiederholte jemand die Worte des Diktators Trubezkoi.

»Wenn man uns aber vor Anbruch der Nacht zusammenschießt?« fragte Golizyn.

»Man wird uns nicht zusammenschießen; sie haben jetzt auch keine Munition«, entgegnete Obolenskij noch immer träge und unwillig.

»Die Munition ist schnell geholt.«

»Sie werden es sowieso nicht wagen, sie werden keinen Mut dazu haben.« – »Und wenn sie doch Mut haben?«

Obolenskij antwortete nicht, und Golizyn sah, daß es zwecklos war, noch weiter zu sprechen.

»Seht, seht«, rief Michaïl Bestuschew, »sie haben eine Batterie vorgeschoben!«

Das Bataillon des Preobraschenskij-Leibgarderegiments, das vor den anderen Regimentern stand, teilte sich in der Mitte, und in den freien Raum rollten drei Geschütze; man nahm sie von den Protzen und richtete sie mit den Mündungen auf die Aufrührer.

Bestuschew sprang auf den Tisch, um besser sehen zu können.

»Da ist auch die Munition! Gleich werden sie laden!« schrie er und sprang, den Säbel schwingend, vom Tisch. »Jetzt muß man sie attackieren und ihnen die Geschütze wegnehmen!«

Die Geschütze standen in einer Entfernung von weniger als hundert Schritten, von einem Zuge von Chevaliergarden gedeckt, der vom Oberstleutnant Anenkow, einem Mitglied der Geheimen Gesellschaft, kommandiert wurde. Man brauchte nur hinzulaufen und sich der Geschütze zu bemächtigen.

Alle wandten sich nach Obolenskij um und warteten auf sein Kommando. Er stand aber noch immer ebenso stumm und unbeweglich, mit gesenkten Augen da, als hörte und sähe er nichts.

Golizyn ergriff seine Hand.

»Obolenskij, was ist nun?«

»Wie?«

»Sehen Sie es denn nicht? Die Kanonen stehen vor unserer Nase, gleich werden sie schießen.«

»Sie werden es nicht. Ich sage Ihnen: Sie werden es nicht wagen.«

Golizyn wurde wütend. »Verrückter! Verrückter! Was tun Sie!«

»Beruhigen Sie sich, Golizyn. Ich weiß, was ich tue. Sollen sie nur anfangen, wir kommen nach. So muß es sein.«

»Warum muß es so sein? Sprechen Sie doch! Was lallen Sie so, hol Sie der Teufel!« schrie Golizyn voller Wut.

»Hören Sie, Golizyn«, sagte Obolenskij, noch immer mit gesenkten Augen. »Gleich werden wir zusammen sterben. Zürnen Sie mir nicht, Liebster, daß ich es nicht zu sagen weiß. Ich weiß es ja selbst nicht, aber es muß so sein, anders dürfen wir nicht, wenn wir mit Ihm sind . . .«

»Mit wem?«

»Haben Sie Ihn vergessen?« fragte Obolenskij und hob die Augen mit einem stillen Lächeln, Golizyn schlug aber die seinen nieder.

Ein plötzlicher Schmerz durchdrang sein Herz wie ein scharfes Messer. Derselbe Schmerz, dieselbe Frage, aber schon an einen andern gerichtet. »Mit Ihm oder gegen Ihn?« Sein ganzes Leben lang hatte er sich nur gewünscht, in einem solchen Augenblick mit Ihm zu sein; nun war dieser Augenblick gekommen, und er hatte Ihn vergessen.

»Tut nichts, Golizyn, alles wird gut werden, alles wird gut werden«, sprach Obolenskij. »Christus sei mit Ihnen! Christus sei mit uns allen! Vielleicht sind wir auch nicht mit Ihm, aber Er ist gewiß mit uns! Und was die Attacke betrifft«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »so werden wir schon einen Bajonettangriff machen, wir werden die Courage nicht verlieren, wir werden sehen, wer wen unterkriegt . . .! Nun muß ich an die Front, ich bin doch immerhin Diktator!« Er lachte lustig und lief, den Säbel schwingend, davon. Und alle ihm nach.

Als sie die Front erreichten, erblickten sie den General Ssuchosanet, der von der Batterie hergeritten kam. Vor der Schützenkette angelangt, rief er den Soldaten etwas zu, mit dem Finger dorthin, wo der Kaiser stand, weisend, und sie ließen ihn durch.

»Kinder!« rief Ssuchosanet, dicht an die Front der Moskauer heranreitend. »Die Geschütze stehen vor euch. Der Kaiser ist aber gnädig, er verschont euch, und wenn ihr gleich die Waffen streckt . . .«

»Ssuchosanet, wo ist denn die Konstitution?« rief man ihm aus dem Karree zu.

»Ich bin mit der Verzeihung gekommen, und nicht zum Unterhandeln . . .«

»Dann scher dich zum Teufel!«

»Und schick jemand her, der sauberer ist als du!«

»Stecht ihn, Kinder, haut ihn!«

»Rührt den Schurken nicht an, er ist keine Kugel wert!«

»Zum letzten Male sage ich euch: Streckt die Waffen, sonst werden wie schießen!«

»Schieß nur!« riefen alle und schimpften unflätig.

Ssuchosanet gab seinem Pferde die Sporen, wandte es um und ließ es Galopp laufen, – die Menge machte ihm Platz, und er ritt zurück. Man gab auf ihn eine Salve ab, aber er war schon wieder bei der Batterie, und man sah nur die weißen Federn von seinem Hute fliegen.

Golizyn sah mit Entzücken, daß auch Obolenskij geschossen hatte.

Plötzlich erschien am linken Flügel der Batterie ein Reiter auf weißem Pferde – es war der Kaiser. Er ritt auf Ssuchosanet zu, beugte sich zu ihm vor und sagte ihm etwas ins Ohr.

Es trat eine Stille ein, und man hörte Ssuchosanet kommandieren:

»Batterie, ladet die Geschütze!«

»Hurra, Konstantin!« schrien die Aufrührer wie rasend.

In der weißlichen Dämmerung glühten neben den bronzenen Mündungen der Geschütze die roten Sternchen der rauchenden Lunten. Golizyn blickte gerade auf sie, dem Tod in die Augen, und die alten Worte hatten für ihn einen ganz neuen Klang:

»Gott mit uns! Gott mit uns! Nein, Kachowskij hat unrecht: Es wird in Rußland wohl eine Revolution geben, und zwar eine, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!«

 


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