Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Sechstes Kapitel

Fürst Jewgenij Petrowitsch Obolenskij, Leutnant im Finnländischen Leibgarde-Regiment, ältester Adjutant des Kommandeurs der Gardeinfanterie, des Generaladjutanten Bistrom, war einer der Gründer der Nordischen Geheimen Gesellschaft.

In Moskau, in der Gegend des Nowinskij-Boulevard, im Pfarrbezirk Mariä Schutz und Fürbitte, in einem beinahe ländlichen, weitläufigen Hause mit Seitenflügeln und Dienerschaftsgebäuden, mitten in einem dichten, verwilderten Garten wohnte die Familie Obolenskij ohne große Allüren, einfach und lustig. Der alte Fürst, Pjotr Nikolajewitsch, war früh Witwer geworden und führte ein richtiges Mönchsleben, in Fasten und Gebet. Äußerlich machte er einen vergrämten und strengen Eindruck. Aber nicht umsonst liebten ihn seine kleinen Enkel über alles und nannten ihn wegen seiner leichten, flaumweichen grauen Haare ›Löwenzahn‹: So war er auch, – ganz leicht, licht und zart, wie ein Kind unter den Kindern.

Fürst Jewgenij war der Erstgeborene aus der zweiten Ehe des Fürsten Pjotr Nikolajewitsch Obolenskij mit Anna Jewgenijewna Kaschkina, der Tochter eines Generals-en-Chef und Statthalters von Tula unter Kaiserin Katharina. Nach dem Tode der Fürstin Anna ersetzte ihre Schwester Alexandra Jewgenijewna, Hofdame der Kaiserin Maria Fjodorowna, den Kindern ihre verstorbene Mutter.

Als der junge Obolenskij ins Pawlowsche Garderegiment eintrat und nach Petersburg übersiedelte, betraute ihn seine Tante Anna Gawrilowna Kaschkina mit der Aufsicht über ihren einzigen Sohn, Sserjoscha, einen noch sehr jungen, ausgelassenen und mutwilligen Burschen, der im gleichen Regiment diente. Dieser Sserjoscha hatte eine furchtbar scharfe Zunge. Einmal erlaubte er sich einen Scherz über seinen Regimentskameraden, einen Leutnant Swinjin, und dieser forderte ihn zum Duell. Als Obolenskij davon erfuhr, begab er sich zum Beleidigten und erklärte ihm, daß das Duell nicht stattfinden dürfe. Sserjoscha sei ein grüner Junge, dem man nicht zürnen dürfe; wenn aber Swinjin unbedingt ein Duell wolle, so möchte er sich doch mit ihm, Obolenskij, schlagen. Swinjin nahm die Forderung an und fiel im Duell.

Fürst Jewgenij war ein guter Mensch und konnte selbst einer Fliege nichts zuleide tun; er war ganz seinem Vater, dem ›Löwenzahn‹ nachgeraten. Dieser Mord im Duell machte auf ihn einen solchen Eindruck, daß er krank wurde; aber er hielt sich nicht für schuldig und hatte auch keine Gewissensbisse: Er glaubte, daß ein Mord im Duell kein Verbrechen, sondern ein Unglücksfall sei; außerdem hatte er sich nicht für sich selbst, sondern für seinen Vetter, den einzigen Sohn seiner Tante, der noch ein Kind war und den man nicht anders retten konnte, geschlagen. Diese Gedanken beruhigten ihn so weit, daß er, als er wieder gesund wurde und sich seinen früheren Zerstreuungen hingab, alles vergaß. Aber er erinnerte sich dessen wieder. Vergaß es noch einmal und erinnerte sich wieder, und so ging es vielemal, bis er endlich fühlte, daß er es niemals vergessen könne und daß die Erinnerung immer lebendiger, schärfer und unerträglicher werden würde. Das Schlimmste aber war, daß er selbst nicht verstand, was mit ihm los war; er hielt sich nach wie vor für unschuldig, und doch hatte er Augenblicke, wo es ihm schien, er müsse verrückt werden oder Hand an sich legen.

In einem solchen Augenblick fing er zu beten an, fast unbewußt, die Worte der Gebete seiner Kindheit wiederholend – das Vaterunser, das Gebet zur heiligen Jungfrau, – und er fühlte sich erleichtert. Von nun an betete er oft und erwachte allmählich zu einem neuen Leben, wie ein halberstickter Mensch, der wieder zu atmen beginnt.

Endlich begriff er, daß er sich nur von dem Augenblick an erleichtert fühlte, als er aufgehört hatte, sich zu entschuldigen, als er die ganze Last der Schuld auf sich nahm und sich für einen ganz gewöhnlichen Mörder hielt, durchaus nicht besser, sondern vielleicht auch schlimmer, als es die Räuber an den Landstraßen sind; er begriff, daß er seine Schuld nicht rechtfertigen, sondern nur sühnen könne. Er wußte noch nicht, wie. Er hatte die Absicht, alles aufzugeben und ins Kloster zu gehen; aber er fühlte, daß dies noch nicht genüge: Es sei leichter, ins Kloster zu gehen, als in der Welt zu bleiben. Er mußte aber irgendwo hin und trat in eine Freimaurerloge ein; aus dieser kam er dann in die Nordische Geheime Gesellschaft. Und bald fühlte er, daß er hier das finden würde, was er suchte – seine sühnende Tat.

Innerlich hatte er sich bis zur Unkenntlichkeit verändert, war aber äußerlich der gleiche glänzende Gardeleutnant geblieben, mit dem recht angenehmen, aber gewöhnlichen gesunden, glatten, weißen, rotbackigen, runden, bartlosen Gesicht; er sah auch jünger aus, als er in Wirklichkeit war: Er war aber neunundzwanzig Jahre alt.

Als Golizyn aus Wassilkow angekommen war, kam Obolenskij mit ihm oft zusammen und hörte mit Gier seine Berichte über die Südliche Gesellschaft, den Sklavenbund, über Ssergej Murawjow und dessen ›Katechismus‹. Den Grundgedanken Murawjows von der Freiheit mit Gott hatte er sofort begriffen.

Am 13. Dezember früh begaben sich Obolenskij und Golizyn zu Trubezkoi.Trubezkoi, Fürst Ssergej Petrowitsch (1790-1860), Gardeoffizier und einer der Hauptverschwörer vom Vierzehnten, wurde 1826 nach Sibirien verbannt und 1856 amnestiert. – Seine Frau Katharina folgte ihm freiwillig in die Verbannung und starb 1853 in Sibirien. Anm. d. Übers.

Zum Englischen Quai, an dem Trubezkoi wohnte, konnte man von der Blauen Brücke direkt durch den Wosnessenskij-Prospekt gelangen. Aber nach der schwülen Luft bei Rylejew wollten die beiden frische Luft atmen und gingen längs des Moika-Quais in der Richtung zur Pozelujew-Brücke, um dann an der Ecke der Marinekaserne nach rechts abzubiegen und auf die Galernaja zu kommen.

Im Stadtinnern gab es noch wenig Schnee, aber hier, an der entlegenen Moika war schon alles weiß, verschlafen und weich. Zwischen dem weißen Federbett der Erde und der grünen Decke des Himmels lagen die gelben, kleinen Häuschen im tiefen Schlafe. In dieser anheimelnden, gleichsam ländlichen Stille, Farblosigkeit und Verschlafenheit erschien der für morgen angesetzte Aufstand ebenso unmöglich wie ein Blitz aus dem winterlichen Himmel.

Man sah keine Menschenseele und konnte ebenso ungeniert sprechen wie bei sich im Zimmer.

»Weiß Trubezkoi, was morgen geschehen soll?« fragte Golizyn.

»Nein. Wir wollen es ihm sagen.«

»Ist es wahr, daß man sagt, seine Begeisterung für die Gesellschaft sei abgekühlt?«

»Vielleicht ist es wahr.«

»Hat er Angst oder was?«

»Das glaube ich nicht. Auf der Redoute von Schewardino stand er im Geschützfeuer vierzehn Stunden lang so ruhig als spielte er Schach. Aber der Mut eines Soldaten ist nicht der Mut eines Verschwörers. Bei Lützen, als die Franzosen unsere Garde aus vierzig Geschützen bombardierten, fiel es Trubezkoi plötzlich ein, dem Leutnant von Bock einen Streich zu spielen; er ging auf ihn von hinten zu und warf nach ihm mit einem Erdklumpen; jener fiel sofort bewußtlos hin. So wird er vielleicht auch selbst morgen hinfallen. Für ein Unternehmen wie das unsrige gibt es keinen ungeeigneteren Menschen. Er ist unentschlossen und höflich, höflich bis zum Wahnsinn. Er ist bereit, sich selbst und die anderen ins Verderben zu stürzen, nur um keine Unhöflichkeit zu begehen. Das ist das eine; außerdem geht es ihm zu gut: Er ist jung, reich, vornehm und hat eine entzückende Frau. Er ist wie der Jüngling im Evangelium, der den Herrn in Trauer verließ, weil er zu reich war . . .«

»In einem solchen Augenblick zurücktreten ist eine Gemeinheit!« rief Golizyn aus.

Obolenskij sah ihn durchdringend mit seinen klugen und gütigen, ein wenig zusammengekniffenen, scheinbar lächelnden, in Wirklichkeit aber ernsten und sogar traurigen Augen an.

»Nein, darin ist keine Gemeinheit.«

»Was denn?«

»Vielleicht ist es dasselbe, wovon Rylejew vorhin sprach: Wir handeln nicht, sondern wir philosophieren. ›Pläneschmiede‹, Theoretiker, Nachtwandler. Wir spazieren auf den Dächern, hart am Rande, und wenn man einen von uns beim Namen ruft, so stürzt er ab und schlägt sich tot. Unser ganzer Aufstand ist wie Maria ohne Martha, Seele ohne Körper. Nicht wir allein, alle Russen sind so. In den Gedanken herrliche Menschen, aber im Handeln knochenlose Mollusken, weich wie Brei. Das kommt von der Sklaverei. Wir sind zu lange Sklaven gewesen.«

»Hören Sie mal, Obolenskij, die Sache steht schlecht. Morgen ist der Aufstand, aber unser Diktator denkt nur daran, wie er uns auf eine möglichst höfliche Weise im Stich lassen kann. Und warum hat man einen solchen gewählt? Wie hat es Rylejew zugelassen?«

»Was weiß Rylejew? Er kennt ja die Menschen nicht. Er kennt auch sich selbst nicht. Sie haben doch gesehen, wie er sich quält, aber warum er sich quält, das weiß er nicht.«

»Wissen Sie es?«

»Mir scheint, ich weiß es!«

»Warum denn?«

»Wegen des Blutes«, sagte Obolenskij leise, mit etwas veränderter Stimme.

»Wegen welchen Blutes?«

»Man muß Blut vergießen, man muß töten«, fuhr jener noch leiser fort. »Er hat sich alles überlegt, hat alles beschlossen, an den Fingern abgezählt. Erinnern Sie sich noch an die Berechnung Pesteis, wieviel Opfer es geben wird? Damals wollte Rylejew nichts davon wissen und schrak zurück, heute rechnet er aber selbst: Den Kaiser allein zu töten genügt nicht; man müsse auch alle Mitglieder der kaiserlichen Familie umbringen. Die Ermordung eines einzelnen werde nicht nur nichts nützen, sondern auch den Zielen der Gesellschaft schaden: Sie werde die Geister trennen, zur Bildung von Parteien führen, die Anhänger des kaiserlichen Hauses erregen und einen Bürgerkrieg heraufbeschwören. Mit der Ermordung aller werden sich aber alle, ob sie es wollen oder nicht, abfinden, und so werde eine neue Regierung zustandekommen können. Ja, so hat er sich alles überlegt, alles erwogen und an den Fingern abgezählt, aber etwas ist ihm noch immer im Wege. Er weiß selbst nicht, was es ist, und darum quält er sich so.«

»Und Sie wissen auch das?«

»Ich weiß es«, antwortete Obolenskij und verstummte. Auch Golizyn schwieg, und beide fühlten sich auf einmal verlegen, als schämten sie sich, einander in die Augen zu blicken. Irgendeine Last legte sich auf sie, und je länger das Schweigen dauerte, um so schwerer wurde die Last.

Sie schwenkten von der Moika zum Krjukow-Kanal ab. Hier war es noch öder und stiller; man hörte nur den Schnee unter den Füßen knirschen. Sie sahen niemand, und doch war es ihnen zumute, als verfolge und belausche sie jemand.

»Ich weiß, daß man nicht töten darf«, sagte Obolenskij endlich, so seltsam unvermittelt, daß Golizyn ihn erstaunt ansah.

»Warum nicht? Ist es eine Sünde?«

»Nein, keine Sünde, aber man kann es einfach nicht, es ist unmöglich.«

»Warum unmöglich? Die Menschen töten doch einander.«

»Sie töten im Wahnsinn, in Bewußtlosigkeit, aus Versehen, – aber mit Absicht, bei vollem Bewußtsein ist es unmöglich. Sich sagen: Ich werde töten, und dann wirklich töten, – das kann der Mensch nicht.«

»Nein, er kann es wohl.«

»Führen Sie ein Beispiel an.«

»Nun zum Beispiel, der Krieg oder die Todesstrafe.«

»Das ist etwas ganz anderes. Da tötet das Gesetz, das Gesetz ist aber blind und sieht die Menschengesichter nicht, – das Gesetz ist für alle gleich. Auch im Kriege tötet ein jeder alle; wen er aber tötet, weiß er nicht, denn er sieht sein Gesicht nicht. Hier sieht man aber das Gesicht, das Gesicht, und das ist die Hauptsache! Einem Menschen ins Gesicht sehen und ihn töten, – das ist unmöglich. Sie verstehen es nicht?«

»Ich verstehe es nicht«, antwortete Golizyn, der sich, er wußte nicht warum, zu ärgern anfing. Er erinnerte sich seines Einverständnisses mit Pestel: »Alle mit der Wurzel ausrotten«, – und es erschien ihm leicht im Vergleich zu der Last, die sich jetzt auf ihn wälzte. »Sie sprechen so sonderbar, Obolenskij, als wüßten Sie etwas!« sagte er und blickte ihm gerade ins Gesicht. Dabei sah er, daß jener über und über rot wurde, bis über die Ohren, bis zu den Haarwurzeln: So erröten kleine Kinder, bevor sie zu weinen anfangen.

»Ja, ich weiß«, wiederholte Obolenskij mit Anstrengung. Und plötzlich wurde er so blaß wie Leinwand. »Sie wissen vielleicht, Golizyn, daß ich einen Menschen getötet habe«, flüsterte er fast lautlos, und seine blaßgewordenen Lippen lächelten so, daß Golizyn das Herz stillstand.

»Entschuldigen Sie, Jewgenij Petrowitsch, um Gottes willen! Sie haben mich nicht richtig verstanden . . . Was ist es denn für ein Mord – im Duell!«

»Es ist ganz gleich. Ich habe einen Menschen getötet und weiß es.«

Wieder verstummten beide, und die Last wurde noch unerträglicher.

»Mir will aber Trubezkoi nicht aus dem Sinn. Er ist vielleicht noch schlimmer als Rostowzew«, sagte Golizyn, um die Rede auf andere Dinge zu bringen und die Last von sich zu werfen; es geriet ihm aber unnatürlich, und er fühlte es auch selbst. Er wurde wieder böse. Er fühlte Mitleid mit Obolenskij, aber je mehr er ihm leid tat, um so mehr ärgerte er sich über ihn.

»Wissen Sie was, Obolenskij«, sagte er trocken, beinahe grob: »Wenn man die Wölfe fürchtet, soll man nicht in den Wald gehen: Wenn man nicht töten darf, soll man auch nicht revoltieren.«

»Nein, man soll es«, entgegnete Obolenskij wieder so leise wie vorhin; je mehr sich der eine ereiferte, um so stiller wurde der andere.

»Was ist das für eine Revolte ohne Blut? Vielleicht mit Rosenwasser à la Trubezkoi?«

»Haben Sie keine Angst, Golizyn, es wird auch Blut geben. Man kann nicht absichtlich töten, unbeabsichtigte Morde hat es aber immer viel gegeben und wird es auch bei uns geben.«

»Ach so! Jetzt fange ich an zu verstehen. Die Dummköpfe werden töten, die Klugen aber abseits stehen, um sich nicht zu beschmutzen?«

»Warum sprechen Sie so!« Obolenskij sah ihn vorwurfsvoll an. »Sie wissen ja, daß uns die Kreuzespein erwartet und daß wir alle, alle in diese Pein gehen. Eine größere Pein gibt es auf Erden nicht.«

»Was für eine Pein? Was für eine Pein? Sagen Sie es gerade heraus: Soll man töten oder nicht?«

»Man soll.«

»Und darf man es?«

»Nein, man darf nicht.«

»Man darf nicht und soll, beides?«

»Ja, beides.«

»Das ist ja Wahnsinn!« Golizyn blieb stehen und stampfte wie rasend mit den Füßen. »Hol uns alle der Teufel! Was tun wir! Was tun wir! Rylejew quält sich, Trubezkoi wird uns untreu, Rostowzew denunziert, und wir beide werden verrückt. Breiweiche Mollusken, ohne Knochen, wir gemeinen, gemeinen Russen! Eine heilige Sache in gemeinen Händen!«

»Nun, Golizyn, man nehme uns, wie wir sind«, sagte Obolenskij und lächelte, und vor diesem Lächeln erhellte und veränderte sich sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. »Und doch, und doch muß man anfangen. Mögen wir weich sein, – wir werden schon fester werden; mögen wir gemein sein, wir werden schon rein werden. Und wenn wir auch nichts vollbringen, – die andern werden es vollbringen. ›Es wird nur einen König auf der Erde und im Himmel geben – Christum!‹ Das wird einmal ganz Rußland sagen und danach auch handeln. Gott wird Rußland nicht verlassen. Wenn wir nur mit Ihm sind, wenn wir nur mit Ihm sind, so wird es eine solche Revolution geben, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat!«

 


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