Dmitrij Mereschkowskij
Der vierzehnte Dezember
Dmitrij Mereschkowskij

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Sechstes Kapitel

Aufzeichnungen von Ssergej Murawjow-ApostolMurawjow-Apostol – drei am Dekabristenaufstand beteiligte Brüder: 1. Matwej Iwanowitsch, geb. 1793, Oberstleutnant, wurde nach Sibirien verschickt; starb amnestiert 1886. 2. Ssergej Iwanowitsch, geb. 1796, Oberstleutnant, wurde gehenkt. 3. Ippolit Iwanowitsch, geb. 1805, fiel 1826 beim Aufstand in Südrußland. Anm. d. Übers.

Rußland geht zugrunde, Rußland geht zugrunde, Gott, rette Rußland!« so bete ich im Sterben.

*

Ich weiß, daß ich sterben werde. Alle sagen, daß man uns nicht hinrichten wird, aber ich weiß, daß es doch geschieht. Aber ich würde wohl auch ohne Hinrichtung sterben: Mit einem gebrochenen Bein kann man nicht gehen, mit einer gebrochenen Seele kann man nicht leben.

*

Nachdem das aufrührerische Tschernigower Regiment am 4. Januar geschlagen war, wurde ich, schwer verwundet, nach Petersburg gebracht. Niemand glaubte an mein Aufkommen. Ich bin aber doch am Leben geblieben: Ich bin dem ersten Tod entgangen, um den zweiten Tod zu sterben.

*

Ein Seefahrer, dessen Schiff in Eis geraten ist, wirft eine Flasche ins Meer mit dem letzten frohen Gedanken: Man wird erfahren, wie er zugrunde gegangen ist. So werfe auch ich in den Ozean der Zukunft diese letzten Aufzeichnungen – mein Vermächtnis an Rußland

*

Ich schreibe es auf einzelne Papierfetzen und verstecke sie in ein geheimes Verließ: Im Boden meiner Zelle ist ein Ziegelstein locker und läßt sich herausnehmen. Vor dem Tode werde ich es einem meiner Genossen übergeben: Vielleicht wird er es aufheben.

Ich kann schlecht russisch schreiben. Je dois avouer à ma honte, que j'ai plus d'habitude de la langue française que du russe. Ich werde in beiden Sprachen schreiben. So ist mal unser Los: Wir sind in unserer eigenen Heimat fremd.

*

Ich habe meine Kindheit in Deutschland, Spanien und Frankreich verbracht. Als mein Bruder Matwej und ich bei der Rückkehr nach Rußland an der preußischen Grenze den ersten Kosaken sahen, sprangen wir aus dem Wagen und fielen ihm um den Hals.

»Ich freue mich, daß der lange Aufenthalt im Ausland eure Liebe zur Heimat nicht abgekühlt hat«, sagte unsere Mutter, als wir weiterfuhren. »Kinder, nehmt euch zusammen, ich muß euch etwas Schreckliches sagen: Ihr werdet in Rußland etwas vorfinden, was ihr noch nicht kennt: leibeigene Sklaven.«

Wir begriffen erst später das Schreckliche: Freiheit ist die Fremde; Sklaverei ist die Heimat.

*

Wir sind Kinder des Jahres 1812. Damals hatte das russische Volk in einmütiger Erhebung das Vaterland gerettet. Jene Erhebung ist der Beginn der jetzigen; das Jahr 1812 ist der Beginn des Jahres 1825. Damals dachten wir: Das Jahrhundert des Kriegsruhmes ist mit Napoleon zu Ende; nun ist die Zeit der Befreiung der Völker angebrochen. Wird denn Rußland, das Europa vom Joche Napoleons befreit hat, nicht auch sein eigenes Joch abwerfen? Rußland drückt das Streben aller Völker nach Freiheit nieder; wenn Rußland sich befreit, so wird auch die ganze Welt frei werden.

*

Als Papa mich neulich in meiner Zelle besuchte und meine blutbefleckte Uniform sah, sagte er mir:

»Ich will dir neue Kleider schicken.«

»Ich will nicht«, antwortete ich, »ich will mit dem Blute sterben, das ich vergossen . . .«

Ich wollte sagen: ›das ich für das Vaterland vergossen habe‹, aber ich sagte es nicht: Ich hatte das Blut für mehr als das Vaterland vergossen.

*

Hier ist eine meiner ersten Kindheitserinnerungen. Ich weiß übrigens nicht, ob ich mich selbst daran erinnere oder nur die Erzählung meines Bruders Matwej wiedergebe. Am 12. März 1801 trat mein Bruder ans Fenster – wir wohnten damals an der Fontanka, bei der Obuchowschen Brücke, im Hause Jussupows –, blickte auf die Straße und fragte Mama:

»Ist heute Ostern?«

»Nein, wie kommst du darauf, Matjuscha?«

»Warum küssen sich alle Leute auf der Straße?«

In dieser Nacht war Kaiser Paul ermordet worden. So hatte Rußland Christus mit der Freiheit vereinigt: Der Zar ist ermordet, Christ ist erstanden.

Aus heil'gem Kelche – Blut empfangend,
›Christ ist erstanden!‹ sage ich.

Im Munde des Atheisten Puschkin ist es eine Blasphemie. Aber er wußte selbst nicht, was für ein Heiligtum er verspottete.

*

Hier ist meine Aussage vor der Untersuchungskommission über meine Unterredung mit Gorbatschewskij, dem Mitglied der Geheimen Gesellschaft der Vereinigten Slawen.

›Ich hatte behauptet, daß im Falle einer Erhebung, in den Wirrnissen eines Umsturzes unsere festeste Stütze und Hoffnung in der Anhänglichkeit an den Glauben liegen müsse, die den Russen in so hohem Maße eigen ist; daß die Religion immer die stärkste bewegende Kraft des Menschenherzens bleiben und den Menschen den Weg zur Freiheit zeigen werde. Gorbatschewskij hatte mir darauf mit Erstaunen und Zweifel erwidert, er glaube, daß die Religion mit der Freiheit im Widerspruch stehe. Ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß diese Ansicht durchaus falsch sei; daß die echte Freiheit erst damals bekannt geworden sei, als die Predigt des Christentums begonnen hätte; und daß Frankreich, das während seiner Revolution gerade infolge des Unglaubens, der sich in den Geistern festgesetzt hatte, solches Unheil erfahren, uns als warnendes Beispiel dienen müsse.‹

*

Der Philosoph Hegel meint, daß die französische Revolution die höchste Entwicklung des Christentums sei und als Erscheinung ebenso wichtig wie die Erscheinung Christi. Nein, die französische Revolution war nicht so, aber die wahre Revolution wird so sein. Die jakobinische Freiheit ohne Gott ist in Wahrheit ein Schrecken, ›la terreur‹, unstillbarer Menschenmord, der blutige Kelch des Teufels.

*

Christentum mit der Freiheit vereinigen – das ist ein großer Gedanke, ein großes, alles erleuchtendes Licht.

*

›Toujours rêveur et solitaire,
Je passerai sur cette terre.
Sans que personne m'ai connu;
Ce n'est qu'au bout de ma carrière,
Que par un grand trait de lumière
On connaîtra ce qu'on a perdu.‹

So konnte nur ein dummer Junge prahlen. Nun ist mein Ende gekommen, aber die Welt ist von keinem Licht erleuchtet worden. Mir scheint aber auch jetzt noch, daß ich einen großen Gedanken, ein großes, alles erleuchtendes Licht gehabt habe; ich hatte nur nicht verstanden, es den Menschen mitzuteilen. Die Wahrheit wissen und sie nicht aussprechen können, ist die schrecklichste von allen menschlichen Qualen.

*

Der einzige Mensch in Rußland, der mich hätte verstehen können, ist Tschaadajew.Tschaadajew, Pjotr Jakowlewitsch (1796-1856), Philosoph, Verfasser der ›Philosophischen Briefe‹, nach deren Veröffentlichung er von Nikolai I. für wahnsinnig erklärt wurde; von Puschkin und Schelling hoch geschätzt; neigte dem Katholizismus zu und schrieb nur französisch. Anm. d. Übers. Ich erinnere mich noch gut unserer nächtlichen Gespräche im Jahre 1817, in der Kaserne des Ssemjonowschen Regiments, als wir zusammen dienten und in den »Bund der Glückseligkeit« eingetreten waren. Ich kann mich noch an sein blasses, zartes, wie aus Wachs geformtes oder aus Marmor gemeißeltes Gesicht erinnern, an die feinen Lippen mit dem ewigen spöttischen Lächeln, an die graublauen Augen, die so traurig blickten, als sähen sie schon das Ende der Welt.

»Die Gesellschaft dieser Welt vergeht, eine neue Welt beginnt«, pflegte Tschaadajew zu sagen. »Das Menschengeschlecht bereitet sich auf die Erfüllung der letzten Verheißungen vor: auf das Reich Gottes auf Erden wie im Himmel. Ist nicht Rußland, das leere, offene, wie ein unbeschriebenes Blatt weiße Land, das Land ohne Vergangenheit, ohne Gegenwart, das ganz in der Zukunft liegt – die unermeßliche Plötzlichkeit und immense spontanéité –, ist nicht Rußland berufen, diese Verheißungen zu verwirklichen, das Rätsel der Menschheit zu lösen?«

Und alle unsere Gespräche endeten mit dem Gebet: »Adveniat regnum tuum. – Dein Reich komme.«

*

›Es sei nur ein Zar auf Erden wie im Himmel – Jesus Christus.‹ Das sind Worte aus meinem Katechismus.

*

»Von Spekulation zum Handeln ist ein weiter Weg«, sagte einmal Pestel. Ein anderesmal sagte er meinem Bruder Matwej von mir: »Votre frère est trop pur.«

Ja, ich bin zu rein, denn ich bin zu spekulativ. Reinheit ist eine verfluchte Leere. Reine Spekulation im Handeln ist eine lächerliche und jämmerliche Don-Quichoterie. Ich habe nichts vollbracht, ich habe nur einen großen Gedanken erniedrigt, ein Heiligtum in Schmutz und Blut fallen lassen. Aber ich habe immerhin versucht, etwas zu vollbringen; Pestel hat es nicht einmal versucht.

*

Er wurde am Vierzehnten, am Tage des Aufstandes verhaftet. Einige Zeit hatte er geschwankt und den Plan erwogen, mit dem Wjatka-Regiment gegen Tultschin zu ziehen, den Höchstkommandierenden und den ganzen Stab der Zweiten Armee zu verhaften und die Fahne der Revolution zu erheben. Er endete aber damit, daß er sich in den Wagen setzte und nach Tultschin fuhr, wo man ihn sofort verhaftete.

Er hat klug gehandelt, klüger als wir alle: Er hat die Reinheit der Spekulation bewahrt.

*

Ich könnte Pestel lieben; aber er liebt mich nicht: Er fürchtet oder verachtet mich. Er hat einen unendlich klaren Verstand. Aber mit dem Verstand allein kann man nicht alles begreifen. Ich weiß manches, was er nicht weiß. Wir müßten uns zusammentun. Vielleicht ist der ganze Aufstand mißlungen, weil wir es nicht getan haben.

*

Einen Stein hinunterzurollen, ist leicht; ihn hinaufzuwälzen, ist schwer. Pestel rollt den Stein hinunter, ich wälze ihn hinauf. Er will Politik, ich will Religion: Politik ist leicht, Religion ist schwer. Er will etwas, was schon gewesen ist, ich will etwas nie Dagewesenes.

*

›Ich bin kein Sklave und kein Christ,
Ich kann nicht Kränkungen verzeihen‹,

hat einmal Rylejew gesagt. Christentum ist Sklaverei: Das ist der Abgrund, in den alle stürzen.

Pestel im Süden, Rylejew im Norden – zwei Atheisten, zwei Führer im Kampf um Rußlands Freiheit. In der Mitte zwischen ihnen eine Menge ›dieser Geringsten‹. »Heutzutage glauben nur Dummköpfe und Schurken an Gott«, hat mir einmal ein russischer Jakobiner, ein neunzehnjähriger Fähnrich, gesagt.

*

Da sie keinen Gott haben, haben sie das Volk zu einem Gott gemacht.

»Mit dem Volk kann man alles machen, ohne Volk nichts«, hat einmal Gorbatschewskij gesagt, als wir über die Demokratie stritten.

»La masse n'est rien; elle ne sera que ce que veulent les individus qui sont tout«, hatte ich empört geantwortet.

Ich weiß, daß es nicht so ist; aber wenn es keinen Gott gibt, so soll man mir nur beweisen, daß es nicht so ist.

*

»Rußland ist einzig und unteilbar wie Gott«, sagt Pestel, der an Gott nicht glaubt. Wenn es aber keinen Gott gibt, so gibt es weder ein unteilbares noch überhaupt irgendein Rußland.

*

Ich wälze den Stein hinauf, und er rollt ihn hinunter – eine Sisyphusarbeit. Ich betrüge mich nicht, ich weiß: Wenn es in Rußland zu einer Revolution kommt, so wird sie sich nicht nach meinem Katechismus, sondern nach der »Russischen Wahrheit« Pestels abspielen. Seiner werden sich alle erinnern, mich wird man aber vergessen; ihm werden alle folgen, mir niemand. Es wird in Rußland dasselbe sein wie in Frankreich: eine Freiheit ohne Gott, ein blutiger Kelch des Teufels.

*

Man wird vergessen, sich später aber erinnern, man wird weggehen, aber zurückkehren. Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, wird zum Eckstein werden. Rußland wird nicht gerettet werden, ehe es mein Vermächtnis nicht erfüllt hat: Freiheit mit Gott.

*

La Divinité se mire dans le monde. L'Essence Divine ne peut se réaliser que dans une infinité de formes finies. La manifestation de l'Eternel dans une forme finie ne peut être qu'imparfaite: la forme n'est qu'un signe qui indique sa présence.

Alle menschlichen Handlungen sind nur Zeichen. Ich gab dir nur ein Zeichen, du mein ferner Freund in den kommenden Geschlechtern, wie ein Sterbender, der keine Stimme mehr hat, mit der Hand winkt. Richte mich nicht für mein Tun, sondern begreife, was ich wollte.

*

Wir dachten gar nicht an einen Aufstand und bereiteten uns zu einem solchen gar nicht vor, als wir, mein Bruder Matwej und ich, am 22. Dezember auf der Fahrt aus Wassilkow bei Kiew, wo das Tschernigower Regiment lag, nach Schitomir zum Korpsquartier, auf der letzten Station vom Senatskurier, der die Vereidigungsformulare nach den verschiedenen Städten brachte, die erste Nachricht über den Vierzehnten erhielten.

Im Korpsquartier erfuhren wir, daß die Regierung die Geheime Gesellschaft aufgedeckt und mit den Verhaftungen begonnen habe. Und auf der Rückreise nach Wassilkow teilte mir mein Freund Michail Pawlowitsch Bestuschew-Rjumin, Leutnant im Poltawa-Regiment, mit, daß der Regimentskommandeur Gebel mich mit Gendarmen verfolge.

Ich entschloß mich, mich zum Tschernigower Regiment durchzuschlagen, um es aufzuwiegeln. Ich begriff wohl die ganze Aussichtslosigkeit dieses Schrittes: Der Kampf eines Häufleins Menschen gegen die Riesenmacht der Regierung war der Gipfel der Unvernunft. Aber ich konnte die, die sich im Norden erhoben hatten, nicht im Stich lassen.

*

Wir fuhren nach Wassilkow auf entlegenen Feldwegen, um Gebel nicht in die Hand zu fallen. Es gab wenig Schnee, die Wege waren mit festgefrorenem Schmutz bedeckt; unser Wagen brach. Wir mieteten uns in Berditschew ein jüdisches Fuhrwerk und erreichten in der Nacht auf den 28. das Dorf Triljessy an der alten Kiewer Landstraße, 45 Werst von Wassilkow. Wir kehrten in einem Kosakenhause, in der Wohnung des Leutnants Kusmin, ein. Müde von der Reise, legten wir uns sofort schlafen.

Nachts kam Gebel mit dem Gendarmerie-Leutnant Lang an. Er stellte Posten auf, weckte uns und erklärte, daß er uns auf allerhöchsten Befehl verhafte. Wir gaben ihm unsere Degen ab – wir freuten uns, daß die Sache ohne unnötige Opfer ein Ende nahm –, und luden ihn ein, mit uns Tee zu trinken.

Während wir am Teetisch saßen, brach der Morgen an, und ins Haus traten vier Offiziere, die Kompagniechefs meines Bataillons: Kusmin, Ssolowjow, Ssuchinow und Schtschepilo, Mitglieder der Geheimen Gesellschaft, die aus Wassilkow gekommen waren, um mich zu befreien. Gebel ging zu ihnen in den Flur und schimpfte, weil sie sich eigenmächtig von ihren Posten entfernt hätten. Es kam zu einem Streit. Die Stimmen klangen immer lauter. Plötzlich rief jemand:

»Schlagt den Schurken tot!«

Alle vier stürzten sich über Gebel, entrissen den Wachtposten die Gewehre und begannen, ihn mit den Kolben zu schlagen und mit den Bajonetten und Degen zu stechen – in die Brust, den Bauch, Arme und Beine, in den Rücken und in den Kopf. Der riesengroße Gebel, ein wahrer Hüne, erschrak so, daß er sich fast nicht wehrte und nur schluchzte und auf polnisch jammerte:

»Ach, heilige Mutter Gottes! Ach, heilige Maria!«

Gustav Iwanowitsch Gebel war polnischer Abstammung, hielt sich aber für einen Russen und sprach niemals polnisch; doch bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich plötzlich seiner Muttersprache.

Die Wachtposten, zum größten Teil junge Rekruten, dachten gar nicht daran, ihren Kommandeur zu verteidigen. Alle Soldaten haßten ihn wegen der grausamen Stock- und Rutenstrafen, die er ihnen zudiktierte, und nannten ihn nicht anders als ›Tier‹.

Die Offiziere schlugen und schlugen, konnten ihn aber nicht erschlagen. Im Flur war es eng und finster, und sie waren einander im Wege. Von Wut geblendet, schlugen sie planlos ein, wie Betrunkene oder Verschlafene.

»Der Satan ist zäh!« schrie jemand mit fürchterlicher Stimme.

Gebel erreichte die Tür und wollte sich retten. Aber man packte ihn bei den Haaren, warf ihn zu Boden, fiel im ganzen Haufen über ihn her und schlug ihn weiter. Sie glaubten schon, es sei sein Ende, aber er nahm seine letzten Kräfte zusammen und trug förmlich zwei Offiziere, Kusmin und Schtschepilo, auf seinen Schultern aus dem Flur in den Hof.

*

Um diese Zeit waren wir, mein Bruder und ich, schon auf dem Hofe: Wir hatten ein Fenster eingeschlagen und waren herausgesprungen.

Ich weiß gar nicht, was mit mir geschah, als ich den blutiggeschlagenen Gebel und die schrecklichen, wie verschlafenen Gesichter der Kameraden sah.

Manchmal sieht man im Traum den Teufel; man sieht ihn eigentlich nicht, aber man merkt an der schweren Last, die sich auf einen wälzt, daß er es ist. Eine solche Last wälzte sich plötzlich auf mich. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal als Kind ein Tausendfüßchen töten wollte, das mich beinahe gestochen hätte; ich schlug es lange mit einem Stein und konnte es doch nicht erschlagen: Halb zerquetscht regte es sich noch immer so ekelhaft, daß ich es schließlich nicht ertragen konnte und weglief.

Ebenso war wohl mein Bruder Matwej von Gebel weggelaufen. Ich aber blieb; beim Anblick der verschlafenen Gesichter war ich wohl selbst in Schlaf gesunken.

Ich ergriff ein Gewehr und fing an, ihn mit dem Kolben auf den Kopf zu schlagen. Er lehnte sich an die Wand, duckte sich und schützte den Kopf mit den Händen. Ich schlug ihn auch auf die Hände. Ich erinnerte mich noch, wie das Holz des Kolbens dumpf auf die Knochen seiner Finger schlug; ich erinnere mich an den goldenen Ring mit dem Chrysolith an seinem weißen, dicken Zeigefinger, und wie unter dem Ring das Blut hervorquoll; ich erinnere mich, wie er auf polnisch jammerte:

»Ach, heilige Mutter Gottes! Ach, heilige Maria!«

Ich weiß nicht, vielleicht tat er mir leid, und ich wollte seinen Qualen ein Ende machen und ihn töten. Aber ich fühlte, daß meine Schläge viel zu schwach seien, daß ich ihn nicht töten könne, daß es so kein Ende nehmen würde; und doch fuhr ich fort, vor Ekel und Entsetzen ermattend, zu schlagen.

»Hören Sie doch auf, Ssergej Iwanowitsch! Was tun Sie?« rief jemand, mich am Arm packend und von ihm losreißend.

Ich kam zu mir und fühlte, daß ich mir die Finger am Gewehrlauf im Froste erfroren hatte.

Die anderen konnten aber noch immer nicht aufhören. Bald kamen sie zu sich, hörten zu schlagen auf und fingen bald wieder zu schlagen an. Kusmin bohrte seinen Degen so tief in ihn hinein, daß es ihm jedesmal Mühe kostete, ihn wieder herauszuziehen. Es war, als dringe der Degen in Gebels Körper wie in ein Gespenst ein, ohne ihn zu verletzen, als sei es nicht Gebel, sondern jemand anderer, Unsterblicher.

»Zäh ist der Satan!«

Endlich, als alle von ihm abließen, schwankte er zum Tor und trat auf die Straße. Nebenan befand sich eine Schenke, und vor der Schenke stand ein Bauernschlitten. Er fiel bewußtlos in den Schlitten. Die Pferde liefen auf ihren Hof, zum Dorfvorsteher. Hier nahm man Gebel vom Schlitten, brachte ihn in Sicherheit und schickte ihn später nach Wassilkow.

Gebel hatte dreizehn schwere Verwundungen erhalten und eine Menge leichter, aber er ist am Leben geblieben und wird wohl uns alle überleben.

*

So haben wir ›aus heil'gem Kelche Blut empfangen‹.

*

Als die Offiziere den Soldaten von meiner Befreiung mitteilten, hatten sie damit einen ungewöhnlichen Erfolg. Alle gesellten sich wie ein Mann zu uns und waren bereit, mir zu folgen, wohin ich sie auch führen würde. Am gleichen Tag, dem 29. Dezember, zog ich mit der fünften Musketier-Kompanie gegen Wassilkow.

*

Am 30. Dezember nachmittags näherten wir uns der Stadt. Gegen uns war eine Schützenkette aufgestellt. Als wir aber so nahe gekommen waren, daß wir die Gesichter der Soldaten unterscheiden konnten, schrien diese »Hurra« und vereinigten sich mit uns. Wir traten in die Stadt und erreichten den Hauptplatz, ohne auf Widerstand zu stoßen. Wir besetzten die Hauptwache, den Regimentsstab, das Gefängnis, das Rentamt und die Schlagbäume und stellten überall Posten auf.

*

Am Abend erließ ich den Befehl an alle Kompanien, sich am nächsten Morgen um 9 Uhr auf dem Platze zu versammeln.

Meine Genossen bereiteten sich die ganze Nacht auf den weiteren Marsch vor und kamen jeden Augenblick zu mir gelaufen, um Befehle zu holen. Ich hatte mich aber in meinem Zimmer eingeschlossen und ließ niemand herein. Bestuschew und ich korrigierten die ganze Nacht den ›Katechismus‹ und schrieben ihn ins reine.

Diesen Gedanken hatten wir dem Werke des Herrn de Salvandi ›Don Alonso ou l'Espagne‹ entnommen, in dem der Katechismus wiedergegeben ist, mit dem die spanischen Mönche im Jahre 1809 das Volk gegen Napoleon aufwiegelten.

Meine früheste Kindheit hatte ich in Spanien verbracht: Mein Vater Iwan Matwejewitsch Murawjow-Apostol war Botschafter in Madrid. So wollte ich meine Kindheit im Mannesalter wiederholen und Spanien nach Rußland verpflanzen.

»Ce sont vos châteaux d'Espagne, qui vous sont perdus, mon ami«, sagte mir im Scherz der General Benkendorf beim Verhör vor der Untersuchungskommission.

*

Als wir mit dem Katechismus fertig waren, diktierten wir ihn drei Regimentsschreibern und ließen zwölf Abschriften anfertigen. Am Morgen ließ ich den Leutnant Masalewskij kommen, händigte ihm ein versiegeltes Paket mit den Abschriften ein und gab ihm den Auftrag, Zivilkleider anzuziehen, mit drei Gemeinen in Mänteln ohne Achselstücke nach Kiew zu gehen und den Katechismus im Volke zu verbreiten.

*

Masalewskij führte den Auftrag gewissenhaft aus. Er kam auf Umwegen nach Kiew und befahl den Soldaten, in verschiedenen Richtungen durch die Vorstädte Petschorsk und Podol zu gehen und die Abschriften in den Torwegen, Wirtschaften und Schenken fallenzulassen. Und sie machten es so.

Mein Katechismus, die frohe Botschaft vom Reiche Gottes liegt wohl auch jetzt noch in den Torwegen und Schenken herum. Oh, die grenzenlose Donquichotterie!

*

Als die Kompanien sich auf dem Stadtplatze versammelt hatten, schickte ich nach dem Regiments-Pfarrer.

P. Danilo Kaiser (ein sonderbarer Name, vielleicht stammt er von deutschen Kolonisten ab?) ist ein blutjunger Bursche, vielleicht sechsundzwanzig Jahre alt, schwindsüchtig, mit flachsblonden dünnem Zopf; solche Zöpfe haben manchmal kleine Bauernmädchen.

Als ich ihm die Ziele des Aufstandes auseinandersetzte, wurde er blaß, begann zu zittern und vor Angst zu schwitzen.

»Richten Sie mich nicht zugrunde, Euer Hochwohlgeboren! Ich habe Frau und Kinder . . .«

Als ich dieses erschrockene Häslein, den Streiter für das Reich Gottes, sah, begriff ich wieder, wie weit es vom Spekulieren zum Handeln ist.

*

Hier ist die Aussage des P. Danilo selbst, wie sie auf dem mir von der Untersuchungskommission vorgelegten Fragebogen zu meiner Überführung wiedergegeben ist. Als ich die Fragen beantwortete, schrieb ich diese Aussage ab, um sie den kommenden Geschlechtern zu übermitteln.

»Am 31. Dezember um 11 Uhr vormittags kam zu mir in die Wohnung ein Unteroffizier der 2. Grenadier-Kompanie in feldmarschmäßiger Ausrüstung und übergab den mündlichen Befehl des Oberstleutnants Murawjow-Apostol, unverzüglich mit dem Kreuz zwecks Abhaltung eines Gottesdienstes, bei dem auch der Katechismus verlesen werden sollte, zu ihm zu kommen. Ich hatte die größte Angst und wußte nicht, wo Schutz suchen; aber ich wagte nicht, mich zu weigern und schickte den Küster Iwan Ochlestin in die Regimentskirche, um ein Gebetbuch und den kurzen Katechismus zu holen. Als der Küster die Bücher brachte, begab ich mich mit ihm in die Wohnung Murawjows, wo sich ziemlich viele Offiziere befanden. Da ich erst seit kurzem bei diesem Regiment amtierte, waren mir nicht nur diese Offiziere unbekannt, sondern auch Murawjow selbst, den ich zum ersten Mal im Leben sah. Er befahl mir, in seiner Wohnung zu bleiben, und so stand ich etwa eine halbe Stunde an der Schwelle vor ihm und den anderen Offizieren. Als einer von diesen auf mich zuging und mich fragte, ob ich fertig sei, antwortete ich ihm: »Ich habe ein Gebetbuch und den kurzen Katechismus bei mir.« Der Offizier nahm aber den erwähnten Katechismus dem Küster aus der Hand, schlug ihn auf und sagte, daß sie ihren eigenen geschriebenen Katechismus hätten. Murawjow widerrief nun seinen ersten Befehl und sagte, daß ich keinen Gottesdienst abzuhalten brauche, sondern irgendeine andere, kürzere Handlung vornehmen solle. Als ich diesen sonderbaren Sachverhalt merkte, was sie untereinander auf französisch sprachen, zwar nicht verstand, aber mehrere geladene Pistolen auf dem Tisch liegen sah, erschrak ich noch mehr und wollte mich schon entfernen, wagte es aber nicht. Murawjow setzte sich aber eine Art armenische Mütze auf, band sich eine Schärpe um, ging mit den Offizieren zu den auf dem Platz aufgestellten Kompanien hinaus und sagte mir, ich solle ihm folgen; er ritt auf die Front zu und befahl den Soldaten, sich im Kreise aufzustellen; die Offiziere traten, mit geladenen Pistolen, einige auch mit Dolchen bewaffnet, in die Mitte und umringten mich; auf Befehl Murawjows legte ich nun den Ornat an und sang mit dem Küster das Vaterunser, ›Himmlischer König‹, den Psalm auf die Geburt Christi und einen kurzen Lobgesang; sonst sang ich nichts. Dann gab mir irgendein Offizier ein Papier, das ich bis dahin nie gesehen hatte, und ich weiß auch jetzt nicht, was darauf stand; denn dieser selbe oder ein anderer Offizier, der hinter mir stand, las es auswendig vor, während ich, von großer Angst ergriffen, Wort für Wort nachsprach, ohne zu verstehen, was darin enthalten war. Ob ich dabei auch noch andere Worte sprach, weiß ich nicht mehr.«

Armer P. Danilo, unfreiwilliger Märtyrer für die russische Freiheit!

*

Der Tag war sonnig. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Der Winter hatte sich eingestellt, aber wie es in der Ukraine oft vorkommt, spürte man mitten im Winter einen Hauch des Frühlings. Im Schatten fror es, aber in der Sonne taute es. Die Spatzen zwitscherten, die Tauben girrten in der Sonne auf den goldenen Kirchenkuppeln. Die Kirschbäume und Apfelbäume standen, vom Reif geschmückt, da wie in weißer Blütenpracht. Unter dem Schnee erschienen die weißen Wände der Lehmhütten der Kosaken dunkel und die schmutzigen Judenhäuser noch schmutziger.

Beim Anblick des blauen, tiefen Himmels erinnerte ich mich der Lieder, die die ukrainischen Mädchen in der Nacht vor Weihnachten zu singen pflegen: ›Sei gesund, aber nicht allein, sondern mit dem lieben Gott!‹ Im lieben Himmel ein lieber Gott.

Die Kompanien standen auf dem Platze in feldmarschmäßiger Ausrüstung in einer gedrängten Kolonne. Ich saß im Sattel vor der Front und den Fahnen.

P. Danilo las, mehr tot als lebendig, den Katechismus mit so schwacher Stimme, daß man fast nichts hören konnte. Brestuschew ging auf ihn zu, nahm ihm das Papier aus der Hand und begann laut und feierlich:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Wozu hat Gott den Menschen erschaffen?

Damit er an Ihn glaube und frei und glücklich sei.

Warum sind das russische Volk und Heer unglücklich?

Weil die selbstherrschenden Zaren ihnen die Freiheit geraubt haben.

Was befiehlt unser heiliges Gesetz dem russischen Volke und Heere zu tun?

Ihren langjährigen Sklavensinn zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Entehrung zu rüsten und eine Regierung herzustellen, die dem Gesetze Gottes entspricht.«

Es schien, daß nicht nur die mit gieriger Aufmerksamkeit lauschenden Soldaten und die erschrockenen Einwohner von Wassilkow – der Stadthauptmann Pritulenko, der Richter Dragantschuk, der Postmeister Besnossikow, der Kanzlist mit verbundener Backe, der Gutsbesitzer aus der Steppe, der alte Kosak mit grauem Schnauzbart, die dicke Händlerin und zwei magere Juden in schwarzen Käppchen mit roten Schläfenlocken –, daß nicht nur alle diese Leute, sondern auch die melancholisch gelben Mauern des Kreisrentamtes, des Regiments-Zeughauses und der Proviant-Magazine mit unsagbarem Erstaunen zuhörten, als wollten sie sagen: »Es ist nicht das Richtige! Nicht das Richtige!« Aber die in der Sonne girrenden Tauben, die mit Reif wie mit Blüten bedeckten Kirschbäume, die mit hellem Klingen von den Dächern fallenden Tropfen und der blaue, tiefe Himmel antworteten: »Es ist das Richtige!«

»Christus hat gesagt: Werdet nicht der Menschen Knechte, denn ihr seid erkauft durch mein Blut«, las Bestuschew weiter, immer lauter und feierlicher. »Die Welt folgte aber diesem heiligen Befehle nicht und stürzte in einen Abgrund von Unglück. Aber unsere Leiden rührten den Höchsten: Heute schickt Er uns Freiheit und Rettung. Das russische Heer zieht aus, um in Rußland den Glauben und die Freiheit wiederherzustellen, auf daß ein Zar im Himmel und auf der Erde sei – Jesus Christus.«

Als er zu Ende war, trat Stille ein, und in der Stille erklang meine Stimme. Was ich sagte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß es einen Augenblick gab, wo ich glaubte, alle hätten alles verstanden. Mag ich sterben, ohne etwas vollbracht zu haben, aber für diesen Augenblick lohnte es sich zu sterben!

Ich nahm die Mütze ab, bekreuzigte mich, hob den Degen und rief:

»Kinder! Für Glauben und Freiheit! Für den Zaren Christus! Hurra!«

»Hurra!« antworteten sie erst schüchtern und zweifelnd, dann aber ohne jeden Zweifel, wie rasend:

»Hurra, Konstantin!«

Es wäre dumm zu schreien: »Hurra, Jesus Christus!« Darum kam jemand der kluge Gedanke: »Hurra, Konstantin!« Und alle fielen erfreut in diesen Ruf ein; sie begriffen, daß es das Richtige sei.

Auch ich begriff es, als wäre ich wieder in den schrecklichen Schlaf gesunken wie neulich, und ich sah vor mir den verwundeten, blutenden Gebel: Er stand an die Wand gelehnt, duckte sich, schützte sich den Kopf mit den Händen, und ich schlug mit dem Gewehrkolben auf ihn ein, wollte ihn erschlagen und konnte es nicht: ›Zäh ist der Satan!‹

Der Satan lachte über mich triumphierend:

»Hurra, hurra, Konstantin!«

*

Nein, ich kann nicht mehr davon sprechen! Ich schäme mich, und es ist mir schrecklich. Ich habe auch keine Zeit: Bald kommt der Tod.

Mögen die anderen erzählen, womit mein Feldzug für den Zaren Christus oder für den Zaren Konstantin geendet hat; wie wir vier Tage lang immer auf dem gleichen Fleck zwischen Wassilkow und Bjelaja-Zerkow, um Triljessy herum, wo man Gebel geschlagen hatte, wie festgebannt im Kreise herumzogen; alle warteten auf Hilfe, aber niemand half uns: Alle hatten uns betrogen und verraten. Anfangs hatten wir so viel Freiwillige, daß wir gar nicht wußten, wie sie uns vom Halse zu schaffen, aber dann fingen die Offiziere an, uns einer nach dem andern zu verlassen, zu der Obrigkeit nach Kiew zu fliehen, manche sogar in Schlafröcken. Auch der Geist der Truppen war gesunken. Als die Soldaten mich baten, ich möchte ihnen erlauben, »ein wenig zu plündern«, und ich es ihnen untersagte, fingen sie zu murren an: »Murawjow ist nicht für den Zaren Konstantin, sondern für irgendeine Freiheit!« – »Es ist ein Gott im Himmel, ein Zar auf Erden – Murawjow betrügt uns!«

Schon in Wassilkow gab es in den Schenken manchen wüsten Auftritt. Aber während des Marsches mußten wir unterwegs vor jeder Schenke Posten aufstellen, und diese betranken sich als die ersten.

Niemals vergesse ich, wie ein betrunkener Soldat aus einer Schenke kam und unter unflätigen Flüchen schrie:

»Ich fürchte niemand! Vergnüge dich, du Seele! Jetzt ist die Freiheit!«

*

In allen Schenken spricht man vom bevorstehenden Gemetzel: »Man sollte zwei Tage die Messer schleifen und dann losziehen: Es ist ein Ukas vom Zaren gekommen, daß man alle Herren und Juden abschlachte, damit sie ganz aus der Welt verschwinden.«

In der Schenke des Mordko Schmulis sagte ein Kosak aus Tschugujew: »Wenn das Schlachten losgeht, werde ich keine Pike und keine andere Waffe verlangen, sondern einen Pfahl zuspitzen, mit Teer bestreichen und siebzig Herren und siebzig Juden darauf aufspießen.« Ein Soldat aus Bjelaja-Zerkow erklärte aber: »Wenn man bei der heiligen Ostermesse ›Christ ist erstanden‹ anstimmt, so wird das Gemetzel losgehen.«

So vereinigte das Volk Christus mit der Freiheit!

*

Mögen die anderen erzählen, wie die sechs besten Kompanien meines Bataillons, der Stolz des Regiments, sich in eine Räuberbande, in betrunkenes Gesindel verwandelten. Ehe ich es mir versah, war es schon geschehen: Ebenso wie die Milch beim Gewitter sauer wird, so war plötzlich alles sauer geworden.

Nun begriff ich erst das Schrecklichste: Für das russische Volk bedeutet die Freiheit Ausgelassenheit, Zügellosigkeit, Frevel, unendlichen Brudermord; die Sklaverei ist mit Gott, die Freiheit mit dem Teufel.

Wer weiß: Hätte ich mich bereit erklärt, zu einem Hauptmann dieser Räuberbande, zu einem neuen Pugatschow zu werden, so hätten sie mich vielleicht nicht verraten; von allen Seiten wären mir die Teufel zu Hilfe gekommen. Wir wären gegen Kiew, Moskau, Petersburg gezogen und hätten vielleicht ein neues russisches Zarenreich zu errichten versucht.

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Am 3. Januar, um die zweite Nachmittagsstunde, traten uns auf der Ustimowschen Höhe, in der Nähe des Dorfes Pologi, vier Schwadronen der Mariupoler Husaren mit zwei Geschützen, unter Befehl des Generalmajors Geismar entgegen. Die Obrigkeit hatte solche Angst bekommen, daß sie gegen meine tausend Mann fast alle Regimenter des Dritten Armeekorps aus Kiew schickte. Die Abteilung Geismars war nur zum Rekognoszieren ausgesandt. Wir wußten, daß alle Offiziere dieser Abteilung Mitglieder der Geheimen Gesellschaft waren; daß man sie aber einen Tag vorher verhaftet und durch andere ersetzt hatte, wußten wir nicht. Wir wurden schier wahnsinnig vor Freude; wir dachten, daß sie uns zu Hilfe kämen, wir glaubten an ein Wunder. Und nicht wir allein, sondern auch alle Soldaten ohne Ausnahme.

Der Tag war wieder so strahlend wie der 31.; der Himmel ebenso blau, tief, lieb, mit einem ›lieben Gott‹. Und wieder gab es wie damals auf dem Platze von Wassilkow einen Augenblick, wo es mir schien, sie hätten alles begriffen, die Räuberbande sei eine Heerschar Gottes.

Die Soldaten zogen mit unerschütterlichem Mut gegen die Geschütze. Ein Schuß krachte, und das Geschoß pfiff über unseren Köpfen hinweg. Wir gingen immer vor. Da heulten die Kartätschen. Das Feuer war mörderisch. Viele sanken verwundet um. Wir gingen immer weiter vor, wir glaubten an ein Wunder.

Plötzlich war es mir, als hätte ich einen Stockhieb über den Kopf bekommen. Ich stürzte vom Pferde und fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Als ich zu mir kam, erblickte ich Bestuschew. Er half mir aufstehen und wischte mir das Gesicht mit einem Tuche ab; es war blutüberströmt. Das Tuch war ganz durchnäßt, aber das Blut floß noch immer. Ich war von einer Kartätschenkugel am Kopf verwundet.

Mein Liebling, der Gefreite Lasykin, ging auf mich zu. Ich erkannte ihn nicht: So unnatürlich war sein Gesicht verzerrt und so seltsam weibisch schluchzte er:

»Warum hast du uns zugrunde gerichtet, Unmensch, Hundesohn, Anathema!«

Plötzlich hob er das Bajonett und fiel über mich her. Jemand schützte mich vor ihm. Die Soldaten umringten uns und führten uns zu den Husaren.

Später erfuhr ich, daß sie ihre Gewehre weggeworfen und sich ohne einen Schuß ergeben hatten, als sie eingesehen, daß kein Wunder geschehen werde.

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Am Abend brachte man uns unter Bewachung nach Triljessy – wieder dieser verdammte Ort – und sperrte uns in eine leere Dorfschenke. Bruder Matwej trieb irgendwo ein Bett auf und legte mich darauf. Infolge des Blutverlustes aus der unverbundenen Wunde hatte ich fortwährend Ohnmachtsanfälle. Es war mir schwer zu liegen: Mein Bruder hob meinen Kopf und legte ihn sich auf die Schulter.

In der Ecke uns gegenüber lag auf dem Stroh Kusmin, ebenfalls verwundet: Alle Knochen seiner rechten Schulter waren von einer Kartätschenkugel zersplittert. Er litt wohl entsetzliche Schmerzen, zeigte es aber nicht, er stöhnte sogar nicht, so daß niemand merkte, daß er verwundet war.

Der Abend brach an. Man machte Licht. Kusmin bat meinen Bruder, er möchte näher kommen. Jener zeigte schweigend auf meinen Kopf. Nun kroch Kusmin mit großer Mühe zu ihm heran, drückte ihm die Hand mit jenem geheimen Zeichen, an dem die Vereinigten Slawen einander erkannten, und kroch wieder in seine Ecke zurück. Niemand hatte Lust zu sprechen; alle schwiegen.

Plötzlich krachte ein Schuß. Ich wurde bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, sah ich durch den Pulverrauch, der die Stube noch füllte, Kusmin in der Ecke auf dem Stroh mit blutendem Kopf liegen. Er hatte sich aus der Pistole, die er im Ärmel seines Mantels versteckt hatte, eine Kugel in die Schläfe gejagt. ›Freiheit oder Tod‹, hatte er geschworen; und er hat den Eid gehalten.

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Auf der Ustimowschen Höhe fiel auch mein jüngster Bruder Ippolit Iwanowitsch Murawjow-Apostol, ein neunzehnjähriges Jüngling.

Am 31. Dezember, unmittelbar vor unserm Ausmarsch war er mit einer Posttroika auf den Stadtplatz von Wassilkow gekommen. Kurz vorher hatte er die Schlußprüfung an der Schule der Kolonnenführer glänzend bestanden und war zum Offizier befördert und zum Stab der Zweiten Armee kommandiert worden. Er hatte Petersburg am 13. Dezember verlassen, um uns von der Nordischen Gesellschaft die Nachricht zu überbringen, daß der Aufstand ausgebrochen sei, und uns um Hilfe zu bitten.

Ich wollte ihn retten, flehte ihn an weiterzufahren, aber er blieb bei uns. Er glaubte mehr als alle an ein Wunder. Gleich auf dem Platz tauschte er mit Kusmin die Pistolen und leistete auch den Eid: ›Freiheit oder Tod‹ – und er hielt den Eid. Als er auf der Ustimowschen Höhe sah, wie ich von der Kartätschenkugel getroffen hinfiel, glaubte er, daß ich tot sei und tötete sich selbst durch einen Schuß in den Mund.

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Am 4. Januar beim Morgengrauen fuhr ein Schlitten vor, der mich und meinen Bruder Matwej nach Bjelaja-Zerkow bringen sollte. Wir baten die Begleitmannschaften um die Erlaubnis, von der Leiche Ippolits Abschied zu nehmen. Sie wollten es uns lang nicht erlauben; endlich brachten sie uns in eine unbewohnte Hütte. In der leeren, dunklen, kalten Hütte lagen auf dem nackten Boden die nackten Körper der Toten: Die Husaren hatten sich wohl nicht geschämt, sie auszuplündern und nackt auszuziehen. Unter ihnen lag auch die Leiche Ippolits. In seiner Nacktheit war er schön wie ein junger Gott. Der Schuß hatte sein Gesicht nicht im Geringsten entstellt, nur an der linken Wange unter dem Auge war ein kleiner dunkler Fleck. Der Gesichtsausdruck war stolz und ruhig.

Mein Bruder half mir niederzuknien. Ich küßte den Toten auf den Mund und sagte:

»Auf Wiedersehen!«

Seltsam: Ich machte mir Gewissensbisse wegen aller, die ich ins Verderben gestürzt habe, aber nicht wegen Ippolit – des reinsten Opfers der reinsten Liebe.

Damals sagte ich: »Auf Wiedersehen!« Jetzt weiß ich schon, daß das Wiedersehen bald kommt. Du wirst mich dort als erster begrüßen, mein Ippolit, mein Engel mit weißen Schwingen!

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Morgen, am 12. Juni, wird das Urteil bekanntgegeben.

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Das Urteil ist veröffentlicht: Pestel, Rylejew, Kachowskij, Bestuschew-Rjumin und ich sind zur Vierteilung verurteilt. Aber ›der Barmherzigkeit des Monarchen entsprechend‹, wird die Strafe auf den ›Tod durch den Strang‹ herabgesetzt. Sie halten es für eine Gnade, das Vierteilen durch den Galgen zu ersetzen. Aber ich glaube noch immer, daß man uns erschießen wird: In Rußland hat man noch niemals Offiziere gehängt.

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Das gleiche Urteil trifft auch die Toten: Kusmin, Schtschepilo, Ippolit Murawjow-Apostol; da man aber Tote weder erhängen noch vierteilen kann, wurde angeordnet, ›nach Verlesung des Urteils auf ihren Gräbern statt Kreuzen Galgen aufzustellen und an diese ihre Namen zur ewigen Schande anzuschlagen‹.

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Man wird alle wie die Hunde in eine gemeinsame Grube werfen, in ein Grab ohne Kreuz, wahrscheinlich dort in Bjelaja-Zerkow, in der Nähe der Ustimowschen Höhe.

»Bjelaja-Zerkow« – »Weiße Kirche« – ein bedeutungsvoller Name. Möge über uns die Weiße Kirche strahlen!

Ich erinnere mich an meine Zusammenkunft mit dem Kaiser Nikolai Pawlowitsch. Er versprach, uns alle zu begnadigen, er umarmte und küßte mich und weinte: »Vielleicht verdiene ich nicht weniger Mitleid als ihr. Je ne suis qu'un pauvre diable.«

Der arme Teufel, der ärmste aller Teufel! Gott verzeihe es ihm: Er selbst weiß nicht, was er tut.

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Morgen ist die Exekution. Ob man uns erschießen oder erhängen wird, ist mir ganz gleich – daß es nur schneller ein Ende nimmt. Ich werde den Tod wie die beste Gottesgabe empfangen.

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Bruder Matwej beneidet mich: Er sagt, daß der Tod für ihn ein Glück wäre. Er denkt nur an Selbstmord. Er will freiwillig verhungern. Ich beschwöre ihn in meinen Briefen bei unserer verstorbenen Mutter, nichts gegen sein Leben zu unternehmen: »Eine Seele, die ihren Körper eigenmächtig vor der Zeit verlassen hat, kommt an eine wüste Stätte und wird von denen, die sie liebte, ewig getrennt sein.« Ich schreibe es und denke mir dabei: Mit einem gebrochenen Bein kann man nicht gehen, mit einer gebrochenen Seele kann man nicht leben.

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Bruder Matwej will nicht leben, und Bestuschew will nicht sterben. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt, fast noch ein Kind. Das Todesurteil hatte er nicht erwartet, er hatte noch bis zum letzten Augenblick gehofft. Er quält sich und verzagt. Auch jetzt höre ich, wie er in seiner Zelle herumrennt und um sich schlägt wie ein Vogel im Käfig. Ich kann es nicht ertragen!

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Bruder Matwej und Bestuschew sind die größten Gegensätze. Der eine ist all zu schwer, der andere all zu leicht: Sie sind wie zwei Waagschalen, und ich bin zwischen ihnen wie ein ewig zitterndes Zünglein. Bruder Matjew glaubte gar nicht an ein Wunder, Bestuschew glaubte blind, und ich glaubte halb. Vielleicht bin ich darum zugrunde gegangen.

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Ich sah im Traume Ippolit und Mama. Ich empfand eine solche Freude, wie man sie im Wachen niemals empfindet. Beide sagten, ich sei dumm und wisse das Wichtigste nicht.

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Ich sitze auf No. 12 im Kronwerk-Wall, und neben mir auf No. 11 sitzt Valerian Michailowitsch Golizyn, den man aus dem Alexej-Ravelin hergebracht hat. Als alle Kasematten besetzt waren und für die neuen Verhafteten Platz fehlte, teilte man die Zellen durch Holzwände in einzelne Käfige ab. Die Balken aus frischem Holz sind eingetrocknet und haben Spalten bekommen. Durch eine solche Spalte unterhalte ich mich mit Golizyn. Ich liebe ihn. Er begreift alles, alles; auch er ist ein Freund Tschaadajews. Schade, daß ich keine Zeit habe, mir alles aufzuschreiben. Wir sprachen vom Sohn und vom Geist, von der Erde der Allerreinsten Mutter. Und ich fühle ebenso wie im Traume, daß ich etwas Wichtiges nicht weiß.

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Ich will diese Blätter Golizyn geben; soll er sie lesen und P. Pjotr Myslowskij übergeben: Dieser versprach mir, sie aufzuheben.

In den letzten Tagen schreibe ich ganz frei und verstecke das Geschriebene nicht. Tinte und Papier bekomme ich, soviel ich will. Sie verhätscheln das Opfer.

Aber ich muß enden: Heute nacht ist die Exekution. Ich werde die Flasche versiegeln und in den Ozean der Zukunft werfen.

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Die Sonne sinkt, meine letzte Sonne. Auch heute ist sie ebenso blutig wie an allen diesen Tagen. Infolge der Hitze und der Trockenheit brennen die Wälder und die Torfmoore in der Umgebung der Stadt. Die Luft ist von Rauch erfüllt. Die Sonne ist, wenn sie aufgeht und untergeht, wie eine trübe rote Kugel, und am Tage glüht sie durch den Rauch wie ein abgebranntes Holzscheit.

Oh, diese blutige Sonne, die blutige Fackel der Eumeniden, sie ist vielleicht unseretwegen über Rußland aufgegangen und wird nie mehr untergehen!

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Ich hatte einen Traum.

Ich ziehe mit meuternden Kompanien, mit einer Räuberbande als Sieger durch ganz Rußland. Überall Freiheit ohne Gott, Frevel, unendlicher Brudermord. Und über ganz Rußland, über der schwarzen Brandstätte steht die blutige Sonne, der blutige Kelch des Teufels. Und ganz Rußland, eine Räuberbande, betrunkenes Gesindel, geht mir nach und schreit:

»Hurra, Pugatschow-Murawjow! Hurra, Jesus Christus!«

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Mir ist dieser Traum nicht mehr schrecklich; wird er aber vielleicht unseren Enkeln und Urenkeln schrecklich sein?

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Nein, Tschaadajew hat Unrecht: Rußland ist kein unbeschriebenes Blatt Papier; es steht darauf schon geschrieben: Reich des Tieres. Schrecklich ist das Zar–Tier; noch schrecklicher ist vielleicht das Volk–Tier.

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Rußland wird nicht gerettet werden, ehe sich seinem Schoße ein Schrei des Schmerzes und der Reue entringt, dessen Widerhall die ganze Welt erfüllt.

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Ich höre schwere Schritte: Das Tier kommt.

Rußland geht zugrunde, Rußland geht zugrunde. Gott, rette Rußland!

 


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