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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Spitzbuben schien es in Taïpi nicht zu geben. In den dunkelsten Nächten schliefen die Eingeborenen sicher inmitten all ihres weltlichen Hab und Guts, und nie wurden die Haustüren verschlossen. Die vollkommene Ehrlichkeit, die die Bewohner fast aller polynesischen Inseln untereinander beobachten, steht in schreiendem Gegensatz zu den diebischen Neigungen, die sie im Verkehr mit Fremden zeigen. Man möchte beinahe annehmen, daß das Mausen einer Axt oder eines Handbeils oder eines schmiedeeisernen Nagels aus dem Besitz eines Europäers nach ihrem Sittengesetz als preiswürdige Handlung gilt. Wenn man nicht mit mehr Recht vermuten darf, daß sie, der großen Raubzüge ihrer seefahrenden Besucher gedenkend, an ihrer Habe billige Repressalien üben. Diese Ansicht würde den scheinbaren Widerspruch erklären und die schlechte Meinung verbessern, die man sich aus Reiseberichten von den Insulanern machen könnte. Kein Gedanke an Mörder oder Diebe beunruhigte sie. Jeder Bewohner der Insel ruhte unter seinem Dach aus Palmblättern oder saß im Schatten seines Brotfruchtbaumes, und niemand schreckte oder belästigte ihn. Es gab keine Vorhängeschlösser noch irgend etwas Ähnliches im Tal: dennoch lebten sie nicht in Gütergemeinschaft. Jener lange, elegant geschnitzte und sauber geglättete Speer gehört Warmunu; er ist viel hübscher als der Speer, den Marheyo so hochhält, und ist das wertvollste Stück, das Warmunu besitzt. Dennoch habe ich es an einem Kokosbaum tief im Hain lehnen sehen, und als Warmunu danach suchte, fand er es noch dort. Kurluna hat einen Walfischzahn, über und über mit feinen Ornamenten graviert; es ist das köstlichste, was sie hat; sie würde es für keinen Rubin hergeben, dennoch läßt sie das Juwel an einer Rindenschnur im Hause hängen, das tief und einsam im Tale liegt, auch wenn alle Insassen zum Fluß hinab zum Bade gegangen sind.

Ob der Grund und Boden des Tales Gemeinbesitz seiner Bewohner war, oder ob er parzelliert einer Anzahl von Grundbesitzern gehörte, die jedermann unbeschränkten Zutritt gestatteten, vermochte ich nicht festzustellen. Verstaubte Pergamente und Besitzurkunden gab es jedenfalls auf der Insel nicht.

Gestern sah ich Kory-Kory, mit einer langen Stange bewaffnet, sich aus dem Hause schleichen, die Früchte von den obersten Zweigen eines Baumes herunterschlagen und in seinem Korb aus Kokosblättern nach Hause bringen. Heute sehe ich einen Inselbewohner, der in einem fernen Teil des Tales lebt, das gleiche tun. An dem sanft absteigenden Ufer des Flusses wuchsen Bananenbäume. Ich habe ganze Scharen junger Leute die großen goldenen Fruchtbüschel lustig plündern und sie jubelnd und stampfend nach den verschiedensten Teilen des Tales schleppen sehen. Es war klar, daß die Brotfruchthalme und die herrlichen gelben Bananen keinem mürrischen alten Filz gehören konnten.

Aus alledem ergibt sich, daß zwischen persönlichem und Grundeigentum im Tal von Taïpi ein großer Unterschied gemacht wurde. Wohl sind einige Leute wohlhabender als andere. Die Dachstange in Marheyos Haus zum Beispiel krümmt sich unter der Last vieler schwerer Tappabündel; auf seiner langen Lagerstätte liegen sieben Matten übereinander. Draußen in ihrem Bambusbüfett, oder wie man es sonst nennen mag, hat Teinor eine stattliche Zahl von Kalebassen und hölzernen Tranchierbrettern angereiht. Das nächste Haus jenseits des Haines, in dem Ruaruga wohnt, ist nicht so reich versehen. Nur drei mäßige Bündel hängen von der Decke; nur zwei Lagen von Matten trägt der Boden, die Kalebassen und Bretter sind weder so zahlreich noch so geschmackvoll geschnitzt und gefärbt. Aber schließlich ist Ruarugas Haus, wenn auch nicht so hübsch, doch ebenso bequem wie das Marheyos; und wenn er es ebenso schön haben und ebenso reich werden wollte wie sein Nachbar, so würde ihn das vermutlich wenig Mühe kosten. Dies sind die wesentlichen erkennbaren Vermögensunterschiede in Taïpi.

Die Menschen lebten in Eintracht miteinander. Welche Brüderlichkeit unter ihnen herrscht, mag man aus folgendem ersehen.

Ich kehrte eines Tages mit Kory-Kory von meinem gewohnten Besuch im Tal zurück; wir kamen an einer kleinen Lichtung vorbei; es sollte dort, wie mein Diener mir sagte, an diesem Nachmittag ein Wohnhaus aus Bambus gebaut werden. Wenigstens hundert Eingeborene schafften die Baumaterialien an Ort und Stelle, einige trugen ein oder zwei der großen Rohrstöcke, die zu den Wänden gebraucht wurden, in der Hand, andere zarte Hybiscusstäbe, an denen Zwergpalmblätter fürs Dach hingen. Jeder beteiligte sich irgendwie an der Arbeit, und dank ihrer vereinten Bemühung, die leicht genug war und lässig vor sich ging, war der ganze Bau vor Sonnenuntergang vollendet. Wie die Leute so an der Errichtung dieser Wohnstätte arbeiteten, erinnerten sie mich an eine Kolonie von Bibern bei ihrer Arbeit. Sie waren allerdings nicht so still und ehrbar wie diese merkwürdigen Tiere, noch auch nur entfernt so fleißig. Die Wahrheit zu sagen, waren sie eher faul, aber alles geschah unter lärmender Heiterkeit; und sie arbeiteten so einig zusammen und das offenbar aus reiner Freundlichkeit, daß es schön zu sehen war.

Kein Weib nahm an der Arbeit teil: und wenn der Grad der Achtung und Rücksicht, die die Männer auf das reizende Geschlecht nehmen, wie manche Denker behaupten, das Kennzeichen des Kulturgrades eines Volkes ist, dann kann ich sagen, daß die Taïpis zu den kultiviertesten Völkern unter der Sonne gehörten. Mit Ausnahme der Beschränkungen religiöser Natur, die das Tabu ihnen auferlegte, war den Frauen des Tales beinahe alles gestattet. Nirgends werden die Frauen mehr umworben; nirgends höher geschätzt; man sieht in ihnen Wesen, denen man die höchsten Genüsse verdankt, und sie sind sich ihrer Macht sehr bewußt. Zum Unterschied von so manchen rauheren Völkerschaften, bei denen die Weiber alle Arbeit leisten, während ihre ungalanten Herren und Meister den Tag in Faulheit verbringen, ist das zartere Geschlecht im Tale von Taïpi von jeder Arbeit befreit; wenn man das überhaupt Arbeit nennen darf, was selbst in diesem tropischen Klima nie einen Tropfen Schweiß kostet. Nur die leichteste Hausarbeit, die Anfertigung des Tappa, das Flechten der Matten und das Polieren von Trinkgefäßen fiel den Frauen zu, Arbeiten, die mehr angenehmen Zerstreuungen gleichen, wie auch die Damen bei uns die freie Zeit des Vormittags elegant mit mancherlei Beschäftigungen ausfüllen. Aber selbst bei diesen Arbeiten sah man die leichtlebigen jungen Mädchen nur selten. Diese launischen jungen Damen, die sich nur die Zeit zu vertreiben suchten, waren jeder nützlichen Beschäftigung abgeneigt. Wie verwöhnte Schönheiten trieben sie sich in den Wäldchen herum, badeten im Fluß, tanzten, flirteten, spielten den anderen alle möglichen boshaft-lustigen Streiche und verbrachten ihre Tage in einem Wirbel sorglosen Glückes.

Während meines ganzen Aufenthaltes auf der Insel bin ich niemals Zeuge eines Streites gewesen, noch einer Erörterung, die auch nur entfernt einem Zank glich. Die Eingeborenen schienen einen einzigen Haushalt zu bilden, dessen Mitglieder einander aufs liebevollste zugetan waren. Verwandtenliebe war weniger wahrzunehmen, da sie in der allgemeinen Liebe aufzugehen schienen; wo alle wie Brüder und Schwester behandelt wurden, war es schwer zu sagen, wer durch Bande des Blutes dem anderen verwandt war.

Dies Bild ist nicht übertrieben. Man möge mir auch nicht einwenden, daß die Feindschaft des Stammes gegen alle Ausländer, noch der Haß, den sie dauernd gegen die anderen Bewohner der Insel jenseits der Berge hegen, dem Gesagten widerspräche. Der scheinbare Widerspruch ist leicht zu erklären. So mancher Bericht von Gewalt und Unrecht, sowie Ereignisse, die sie mit eigenen Augen gesehen, haben den Stamm gelehrt, die weißen Männer mit Abscheu zu betrachten. Der grausame Überfall Porters würde genügen, ihre Gereiztheit zu erklären; und ich kann es wohl verstehen, daß der Taïpikrieger alle Pässe, die zu seinem Tal führen, mit gefälltem Speer bewacht und, den Rücken gegen seine grüne Heimat gekehrt, jeden Europäer drohend vom Strande fernhält.

Woher die Feindschaft gerade dieses Clans gegen die Nachbarstämme kommt, vermag ich nicht so sicher zu sagen. Ich will auch nicht behaupten, daß ihre Feinde die Angreifer waren, noch ihr Verhalten irgend beschönigen. Aber wenn unsere bösen Leidenschaften sich Luft machen müssen, dann ist es sicher besser, sie gegen Ausländer und Fremde auszutoben, als innerhalb der Gemeinschaft, in der man lebt. In vielen kultivierten Ländern herrschen innere Streitigkeiten und Familienzwiste gleichzeitig mit den grausamsten auswärtigen Kriegen. Wieviel weniger schuldig sind da meine Inselbewohner, die von diesen drei Sünden nur eine begehen, und die geringste unter ihnen.

Man wird mir vielleicht vorwerfen, daß ich ein Volk bewundere, das man der Menschenfresserei bezichtigt. Aber diese einzige Ungeheuerlichkeit in ihrem Verhalten ist nicht halb so schauerlich, wie man sie gewöhnlich schildert. Wenn man den volkstümlichen Geschichten glauben wollte, so würden die Mannschaften der Fahrzeuge, die an irgendeiner unwirtlichen Küste Schiffbruch leiden, von den wilden Eingeborenen lebendig gefressen, und unglückliche Reisende in heitere verräterische Buchten gelockt, mit der Kriegskeule über den Schädel geschlagen und dann ohne weiteres angerichtet. So furchtbar und unwahrscheinlich sind diese Geschichten,, daß viele vernünftige und unterrichtete Leute an die Existenz von Menschenfressern überhaupt nicht glauben wollten und derartige Geschichten einfach für Märchen erklärten. Die Wahrheit liegt wie gewöhnlich in der Mitte: Kannibalismus findet sich in mäßigem Umfang bei mehreren Stämmen des Stillen Ozeans, aber es wird nur das Fleisch erschlagener Feinde verzehrt; und so schrecklich und schauerlich diese Sitte ist und wie sehr man sie verurteilen mag, ich behaupte trotzdem, daß die, bei denen sie herrscht, nach jeder anderen Richtung menschliche und liebenswürdige Geschöpfe sind.


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